Willkommen liebe Leserinnen und Leser,
all diejenigen unter euch, die die Fanfiction "Menschenjagd" von Bo und/oder meine eigene, namens "Horizon", verfolgen, wissen ja bereits, dass wir schon seit längeren mit dem Gedanken spielen ein Crossover zu starten und wie der Titel und die Eröffnung dieses Threads ja bereits nahe liegen, haben wir es endlich getan!
Natürlich gilt diese Geschichte nicht nur denjenigen, die unsere Fanficitons verfolgen. Ich denke, dass man auch problemlos hier einsteigen kann, ohne dass man größere Schwierigkeiten hat, sich in der Story zurecht zu finden. Falls doch stehen Bo und ich sicherlich gerne zur Verfügung, um etwaige Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.
Dann bleibt eigentlich auch nicht mehr viel zu sagen, außer ein paar organisatorische Einzelheiten: Die Geschichte wird regelmäßig, im wöchentlichen Rhythmus erscheinen und im Normalfall abwechselnd von uns beiden geschrieben werden. Der Prolog ist eine Gemeinschaftsarbeit.
Dann wünschen wir euch einfach viel Spaß beim Lesen dieses neuen Projektes und freuen uns auf alte, wie neue Leser!
Beste Grüße
Bo und Vexor
all diejenigen unter euch, die die Fanfiction "Menschenjagd" von Bo und/oder meine eigene, namens "Horizon", verfolgen, wissen ja bereits, dass wir schon seit längeren mit dem Gedanken spielen ein Crossover zu starten und wie der Titel und die Eröffnung dieses Threads ja bereits nahe liegen, haben wir es endlich getan!
Natürlich gilt diese Geschichte nicht nur denjenigen, die unsere Fanficitons verfolgen. Ich denke, dass man auch problemlos hier einsteigen kann, ohne dass man größere Schwierigkeiten hat, sich in der Story zurecht zu finden. Falls doch stehen Bo und ich sicherlich gerne zur Verfügung, um etwaige Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.
Dann bleibt eigentlich auch nicht mehr viel zu sagen, außer ein paar organisatorische Einzelheiten: Die Geschichte wird regelmäßig, im wöchentlichen Rhythmus erscheinen und im Normalfall abwechselnd von uns beiden geschrieben werden. Der Prolog ist eine Gemeinschaftsarbeit.
Dann wünschen wir euch einfach viel Spaß beim Lesen dieses neuen Projektes und freuen uns auf alte, wie neue Leser!
Beste Grüße
Bo und Vexor
Die Dämmerung hatte sich bereits mit einem gähnenden Gruß verabschiedet und der schwarzen Nacht Platz gemacht, die sich in gieriger Manier über das Land ausbreitete und jeden kleinen Winkel der Herbstinsel mit ihren verschlingenden schwarzen Netzen bedeckt hatte. Das Wirtshaus lag in absoluter Stille. Doch war es keine friedliche Stille. Keine, die man genießen könnte, mit einem guten Buch in der Hand vor einem Kaminfeuer oder eine, welche man sich wünscht, wenn der Schlaf einen zu übermannen droht. Nein. Der vernehmlichste Teil dieser Stille war dumpf und lastend und entstand aus dem Gefühl heraus, dass etwas fehlte. Hätte der Wind seine heulenden Kinder peitschend durch die Kronen der alten Bäume gejagt, so hätte er sie zum Seufzen gebracht oder das Wirtshausschild quietschend zum Schaukeln, während das Herbstlaub in heller Aufruhr die Straße hinabgefegt worden wäre. Der zweite Teil dieser bedrückenden Stille füllte die Atmosphäre des Wirtshauses wie erkaltendes Blei Keine Handvoll Männer, welche der vom Alter gebeugten Besitzerin Gesellschaft geleistet und die Stille mit Geplauder und Gelächter erfüllt hätten. Sie hätten dem Musikern zugejohlt, den ein oder anderen Krug mit einem klirrenden Scheppern zerschlagen, aber all das fehlte, und so blieb es still.
Dennoch gab es immer wieder Momente, welche die Stille zu vertreiben drohten, die sich nun gefräßig in dem Wirtshaus breit gemacht hatte und auf ihre nächste Mahlzeit wartete. Die nächste armselige Fliege, die mit gut gelaunter Dissonanz in ihr Netz aus Bedrückung und Zwist gleiten würde, wo ihre Lebensfreude schneller vergehen würde, als Hagel an einem schwülheißen Sommertag. Die einzigen Gäste, die an diesem beißend kalten Novemberabend im Wirtshaus verweilten, waren zwei ältere Männer, die aus dem kleinen Dorf stammten, in welchem sich auch das Wirtshaus befand. Sie saßen sich mit stoischem Gesichtsausdruck gegenüber, tranken mit stiller Entschlossenheit und mieden ernsthafte Gespräche über beunruhigende Neuigkeiten oder generell mieden sie Gespräche, wodurch sie der Stille eine weitere verhärmte Note hinzufügten. Die Frau hinter dem Tresen, die sich das bräunliche Haar zu einem armseligen Knoten zusammengebunden hatte, wischte nun schon seit Stunden über den Tresen, dessen Oberfläche nun schon so stark glänzte, dass man sie fälschlicherweise für einen Spiegel hätte halten können. Diese Tätigkeit unterbrach sie nur mit einem stummen Seufzen, wenn die beiden Gäste nach einem weiteren Bier verlangten. Daraufhin humpelte sie zum Zapfhahn, öffnete ihn und unter einem lauten Zischen – ein neues Geräusch, eine neue Fliege im Netz der Stille, welches aber ebenso schnell und erbarmungslos erstarb, wie jedes andere – fühlte sie die Krüge mit der goldenen Flüssigkeit, die sie ihnen anschließend tonlos vor die Nase stellte und sich wieder ihrem Tresen widmete, während ihre grauen Augen einen unbestimmten Punkt an der Wand fixierten. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie sich vorstellte, dass das Wirtshaus mit Menschen erfüllt war. Wie Horden an Menschen, an Reisenden vorbeikommen würden, um hierher zu kommen. Sie imaginierte sich dabei in einem edlen grünen Gewand aus einem Stoff, der nicht zu schlicht, aber natürlich auch nicht zu fein für die Arbeit als Bedienerin war. Ein maßgeschneidertes Kleid, wie es die gehobeneren Damen der Grafschaft gerne bei öffentlichen Veranstaltungen trugen. Eines, das ihre Hüften betonte, anders als dasjenige, welches sie grade trug und bei dem sie sich nicht einmal sicher war, ob sie unter diesem grauen Lumpen, den sie sich selbst zusammengenäht hatte, überhaupt Hüften hatte, die es zu betonen galt. Ein Gewand, dessen Korsett ihr die Luft zum Atmen nahm und zwar auf andere Weise als das trostlose Leben, welches sie Tag ein, Tag aus in diesem elendigen Schuppen, welcher sich selbst Wirtshaus schimpfte, fristete. Doch dies waren alles Hirngespinste. Fantasien einer Frau, die ihr leben in lähmender Monotonie und ihr gesamtes Leben in einem abgeschiedenen Landstrich, einer abgeschiedenen Grafschaft, einer abgeschiedenen Insel, in einem abgeschiedenen Teil des West Blues verbrachte. So wie ihr Leben die letzten einunddreißig Jahre ausgesehen hatte, würde es vermutlich auch die nächsten fünfzig bis sechzig Jahre aussehen, falls sie das Leben auf perfide Weise mit einem langen Leben segnen würde. Ein Gedanke, der die Frau mit solch erschauernder Hoffnungslosigkeit überschwemmte, dass sie zu ertrinken drohte, aber etwas anderes erhaschte ihre Aufmerksamkeit.
Etwas hatte es gewagt, seine Stimme gegen die Stille zu heben. Eine Dissonanz, die gegen die lähmende Mischung aus Stille, Gram und Verbitterung ankämpfen wollte. Zusammen mit der Bedienerin und den beiden Gästen, drehte sich die gefräßige Stille zu dem Eingang herum, in der nun eine Frau stand. Allerdings musterten sie alle Anwesenden, als wäre sie ein übersinnliches Wesen. Eine Außerirdische, die sich in diesen verwaisten Landstrich verirrt hatte und mit genau diesem Blick musterten sie sie. Der neue Gast trug einen Mantel aus schwarzem Stoff, der im weiteren, eng geschnittenen Verlauf aber ein grau-meliertes Muster aus kleinen gestickten Blüten hatte, während ihr Haupt von feuerroten Haar bedeckt war. Sie lächelte der Barfrau zu, die in diesem Moment vollkommen unschlüssig war, ob sie den Neuankömmling hassen oder neidlos bewundern sollte, weswegen sie nur perplex die Schultern zuckte, um die unausgesprochene Frage der Rothaarigen, wohin sie sich setzen könne, zu beantworteten. Jene wanderte zielsicher zu einem Tisch, der am Erker des Raums positioniert war, was die anfängliche Bewunderung der Frau zum verebben brachte, da sie sich in ihrer Monotonie – und aus Ermangelung an Gästen – nie um die Tische, sondern immer nur um ihren Tresen gekümmert hatte, wodurch sich nun auf dem schäbigen Holz eine dicke Staubschicht angesammelt hatte. Die Wirtin hatte schon erwartet, dass ihr Gast pikiert die feine Nase rümpfen und sofort auf dem Absatz kehrt machen würde, aber jene schien es nicht einmal zu kümmern, legte den Mantel ab und warf einen flüchtigen Blick auf die Wirtin, welche zu ihr geschlurft kam. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Rothaarige verquollene Lieder hatte und sich tiefe Schatten unter die bezaubernden, meergrauen Augen gelegt hatten.
„Was zum Trinken?“, brummte die Barbesitzerin, die über ihre eigene Unfreundlichkeit etwas erstaunt war. Man konnte also auch Gastfreundlichkeit verlernen. Generell war sie über den Klang ihrer eigenen Stimme so überrascht, dass sie kurzzeitig den Drang unterdrücken hatte müssen, sich umzudrehen, um zu schauen, ob noch ein neuer Gast in das Wirtshaus geschneit gekommen war.
Die Rothaarige hob den Kopf und nun war sich die Wirtin sicher, dass jene vollkommen am Ende war. Und obwohl sie den Kopf schüttelte, entschied sich die Barfrau mit den brauen Haaren, dass sie ein Bier aufs Haus bekommen würde. Sie war sich nicht sicher, ob sie einfach Mitleid mit der Frau hatte oder sich nun doch noch von ihrer besten Seite zeigen wollte. Vielleicht eine Mischung aus beidem. So ging sie – nun schon mit straffernen Schultern und einem aufrichtigeren Gang – zurück zum Tresen, zapfte ein weiteres Bier, während die beiden anderen Gäste immer noch grübelnd über ihren Gläsern verweilten, schnappte sich die Zeitung und legte beides auf den Tisch, an dem sich die Rothaarige niedergelassen hatte. Jene musterte sie perplex, aber die Wirtin zuckte wieder mit den Schultern, ehe der unvertraute Klang ihrer eigenen Stimme ertönte.
„Geht aufs Haus! Außerdem dachte ich, dass Sie vielleicht etwas zum Lesen haben wollten. Wird hier ansonsten schnell langweilig“.
„Danke“, setzte die Rothaarige für eine längere, aufrichtige Danksagung an, für die ihr momentan noch die Worte fehlten, aber da war die Barfrau bereits wieder zu ihrem Tresen zurückgekehrt und hatte sich wieder dem Polieren ihres Spiegelholzes gewidmet. Einen kurzen Moment dachte die Stille, dass ihre Zeit nun wieder gekommen war. Dass sie nun wieder den winzigen, summenden Fliegen hinterherjagen konnte, aber zusammen mit der Rothaarigen war ein Wind aufgefrischt. Ein Wind, der ihre Netze zerschnitten hatte und eine Unruhe in seinem Kielwasser hinter sich hergezogen hatte.
Die Unbekannte fuhr mit den Fingerkuppen über die Ränder ihres Bierkrugs, während ihre Augen verstohlen auf den schwarzen Lettern der Zeitung ruhten, welche die Wirtin ihr mitgebracht hatte. In maschinell angefertigter Schrift, prangte dort: Misty Croak Gazette. Doch sie konnte sich nicht auf den Inhalt konzentrieren, da ihr Blick immer wieder nach draußen gezogen wurden. Die Finger der freien Hand trommelten kaum hörbar über das Holz der Tischplatte, während sie sehnsuchtsvoll seine Ankunft erwartete.
Die in ihrem Trott auf ewig und unwiderruflich gefangene Bardame war indes unfähig, ihre trüben, nervös herumirrenden Augen für längere Zeit von der geheimnisvollen Rothaarigen abzuwenden, die verloren an ihrem Platz saß, die "Misty Croak Gazette" mit leeren Blicken in die nahe Vergessenheit starrte und dennoch als einziges Objekt in dieser Spielunke -Gäste und Besitzerin eingeschlossen- wirkte, als würde sie genau dorthin gehören, auf jenen Stuhl zu jener Zeit.
Die übrigen knorpeligen Augenpaare taten es ihrer Bedienung mürrisch gleich, bis plötzlich die schmierige Tür erneut aufklaffte und einen jaulenden Hauch des Herbstwindes hereinließ, der den Zauber der Fremden zumindest für eine verschwindende Sekunde brach. Unter stummen Flüchen machte das lethargische Thekenweib flüchtige Anstalten, die lose hereingewehten Bronzeblätter wieder hinaus in die schneidenden Böen zu scheuchen, als jene jäh unter einem schweren, dreckschwarzen Stiefel zerquetscht wurden, dessen theatralisches Aufstampfen gefühlt jedes Seelenheil Misty Croaks aus seiner bleiernen Totenstarre geschlagen hatte.
Nur die schöne Fremde wandte ihr trauriges Haupt in diesem Augenblick nicht gen Türrahmen, in dem die Präsenz eines Mannes ein formloses Grauen über den Raum geworfen hatte wie ein Leichentuch. Er war groß und unter seinem ausgetragenen schwarzen Trenchcoat auf grobe Weise guttrainiert, mit martialischen, launischen Gesichtszügen, einer Schwärze in Augen und Haar, die Unwohlsein heraufbeschwor und grollte auf urtümlichen, harten Sohlen durch die staubigen Reihen vergammelnder Tische und Stühle. Die beiden grimmigen Einheimischen wandten wie verschreckte Tiere instinktiv ihre Blicke ab und die Barfrau mechanisierte ihre thekensäubernde Armbewegung angstvoll zu einer verkrampften Abfolge muskulärer Kraftakte - nur die junge, geheimnisvolle Rothaarige versank ungerührt und unbeeindruckt auf ihrem altehrwürdigen Platz, in das düstere Tuch ihrer eigenen, sagenhaften Romantik gehüllt und hoffnungslos verzaubernd.
Die Atmosphäre selbst stieß einen Schreckenslaut aus, als sich der unheilvolle Mann wortlos auf den alten Stuhl der verlorenen Fremden direkt gegenüber warf und so rüpelhaft in ihren Sog melancholischer Erhabenheit eindrang. Sie schwiegen. Stille.
Ihre rotgeweinten, von schwarzen Schatten befleckten Lider blinzelten matt in das blutunterlaufene Weiß seiner Augen, die sich in dumpf bebender Beständigkeit schlossen und wieder öffneten, und niemand sprach. Sie sahen einander nur an, blickten ineinander hinein und erkannten sich in einem anderen Leben - in den Augen eines völlig Fremden.
~ 1518 Anno Maris: Zwei Wochen zuvor ~
Es gibt Dinge, die man im Schmutz suchen muss. Finstere Dinge, zu denen einen der Geruch der Armut führt, in dunkle Straßen abseits der Gaslaternen und weiß verputzten Häuser, in Hinterhöfe, die nach Abfällen und schlechtem Essen riechen. Brianna fragte einen Mann nach dem Weg, der in einem Hauseingang hockte und dessen Lippen violett verfärbt waren. Vergissmeinnicht oder besser gesagt eine Verwandte dieser Pflanze, um die es sich hier handelte, war ein gefährliches Mittel, um die Welt zu vergessen und irgendwann vielleicht einmal sogar von ihr vergessen zu werden.
Im Fenster des Ladens, zu dem er sie schickte, war nichts Verdächtiges zu entdecken. Es war weit nach Mitternacht, doch das, wonach Brianna suchte, kaufte man besser im Schutz der Nacht. Der Handel mit Waffen und gefährlichen Substanzen war in diesem Land streng reguliert, nachdem der amtierende König sich dazu entschieden hatte, dass Waffen in den Händen des normalen Volkes nur zu blutigen Revolutionen und Anarchie führen würden. Trotzdem konnte man, wenn man nur an den richtigen Stellen suchte, fast alles bekommen, was man auf anderen Inseln auch finden konnte.
Das Fauchen einer Katze drang durch die Tür, als die Rothaarige gegen das milchige Glas klopfte. Die hiesige Variante der Vierbeiner hatte Karottenfell und wesentlich längere Beine als die Verwandten, welche die Rothaarige bisher zu Gesicht bekommen hatte. Die Frau, die ihnen öffnete, gab sich alle Mühe, wie eine klischeehafte Hexe auszusehen, aber das Kräuterparfüm, das sie sich in den tiefen Ausschnitt geträufelt hatte, roch nicht entfernt nach dem Waldduft, den man einer Hexe nachsagte. Generell hatte Brianna nie verstanden, warum kräuterkundige Frauen selbst ihren Ruf als Hexen anfeuerten, indem sie sich so kleideten oder verhielten, obwohl man ja wusste, dass an den Gerüchten, die sich um sie rankten, nichts dran war. Die Katze machte es sich auf einem Kissen neben der Tür gemütlich. Sie waren zuverlässige Wächter, wenn man sie regelmäßig fütterte, und eingesperrt kaum schlechter gelaunt als in der Freiheit. Ihre braunen Augen hingen an Kyu, als sie in den Laden traten, obwohl Brianna sich nicht sicher war, ob sie den Menschen unter dem blonden Fell wittern konnte.
Die falsche Hexe verriegelte die Tür, während sie Briannas Kleider mit einem abschätzenden Blick streifte. Der Schnitt und der gute Stoff flüsterten ihr „Geld“ ins Ohr und sie schenkte ihr ein Lächeln, das so falsch war wie ihr Parfüm. Die Rothaarige ließ sich davon jedoch nicht aus dem Konzept bringen. Sie hatte in den letzten Jahren bei ihren Aufträgen für Bürger, Kaufleute, Adlige und sogar Himmelsdrachenmenschen so viele skurrile Leute kennen gelernt –und zwar als Kunden wie Lieferanten-, dass sie die gespielte Freundlichkeit der Hexe auch nicht mehr wunderte. Der Laden roch nach getrockneten Sumpflilien, was nichts Gutes verhieß. Die Schatzjägerin war schon in zu vielen kleineren und größeren Läden dieser Art gewesen, welche die Sumpflilien an Laien verkauften und ihnen Heilmittel versprach, welche sie leider Gottes überhaupt nicht besaßen. Ein Blick an die Decke, von der getrocknete Pilze hingen, bestätigte Briannas Skepsis. Jene wurden gerne als Aphrodisiakum verkauft, obwohl alles, was sie hervorriefen, lebenslange Wahnvorstellungen waren. Jedoch entdeckte Brianna auch ein paar Dinge, die für sie nützlich sein konnten und zeigten, dass sie hier nicht an eine reine Quacksalberin geraten war.
„Was kann Walpurga für euch tun?“, säuselte sie und da sonst niemand in Raum war -und Brianna die anwesende Katze einmal als Walpurga ausschloss- musste die Frau wohl von sich selbst in der dritten Person sprechen. Eine Angewohnheit, welche die Schatzjägerin bis auf den Tod nicht ausstehen konnte und wohl allein aus dieser Tatsache heraus dazu führte, dass das Leben sie wohl besonders gern mit diesem Schlag Menschen in Kontakt brachte. Dies, gepaart mit dem heiseren Lachen, welches sie ihren Worten hinterher schob, ließ Brianna sogar vermuten, dass die falsche Hexe selbst den ein oder anderen kräftigeren Zug der getrockneten Pilze genommen hatte. „Brauchst du etwas, um die Liebe eines Jünglings zu wecken? Walpurga spürt da ein Feuer in deinen Lenden lodern!“
Brianna hätte ihr zu gern ihren giftigsten Trank eingeflößt und musste sich zusammenreißen, um die aufkeimende Wut in Zaum zu halten.
„Ich brauche ein starkes Schlaftonikum, am besten auf Opiumbasis, und einen neuen Revolver“, presste die Rothaarige knapp hervor und warf mehrere goldene Taler auf den schmutzigen Tresen. Walpurga griff mit einer Schnelligkeit nach den Münzen, die Brianna ihr nicht zugetraut hätte, sodass die Schatzjägerin eine winzige Sekunde lang geglaubt hatte, dass sie tatsächlich verschwunden waren. Die falsche Hexe rieb die Taler prüfend zwischen den Fingern. „Es stehen fünf Jahre Haft auf den Verkauf von Opium!“
Brianna zählte ihr einen weiteren Taler in die Hand, woraufhin sie sich die Bezahlung in die Schürzentasche schob und hinter einem verschlissenen Vorhang verschwand. Kyu blickte ihr mit blassem Gesicht nach.
„Was, wenn sie uns verrät? Die Wachmänner, die uns bei der Einreise hierher gefilzt haben, wirkten schon so bedrohlich?“, zischte der Fuchs ihr zu, während er sich dicht an ihre Beine schmiegte, sodass Brianna die Wärme spüren konnte, die von seinem Körper ausging und durch den Stoff ihrer schwarzen Jeans strahlte. Seine Stimme klang fast so heiser wie die der Hexe.
„Das wird sie nicht. Menschen sind käuflich und sie würde sich selbst damit in Gefahr bringen“, erwiderte Brianna, ohne Kyu anzusehen. Jener blickte sie so verzweifelt an, dass sie für einen Augenblick versucht war, ihn in den Arm zu nehmen, an ihre Brust zu drücken und die Angst wie ein Schwamm aus dem Körper zu saugen.
Walpurga kam mit einer Tüte zurück. Der Revolver, welchen sie herauszog, war silbern und etwas größer, als die Schatzjägerin es gewohnt war.
„Woher weiß ich, dass sie funktioniert und das Tonikum wirkt?“, entwich es Kyu, woraufhin Walpurga interessiert ihren Kopf in seine Richtung bewegte. Es schien beinahe so, als ob sie den Teufelsfruchtnutzer -im Gegensatz zu ihrer Katze- tatsächlich noch nicht bemerkt hatte. Dennoch kaschierte sie ihre Überraschung ziemlich selbstsicher mit einer dicken Spur Sarkasmus.
„Es ist ein Revolver, Schätzchen. Die Dinger wurden erfunden, um jemandem zu schaden. Falls man sich damit selbst verletzt, ist das wohl kaum Walpurgas Schuld, oder?“
Brianna ließ den Revolver wieder vorsichtig in ihre Tasche gleiten und warf Kyu einen beruhigenden Blick zu, ehe sie sich der heiseren Hexe widmete und sie mit düsterem Ausdruck taxierte. „Falls das Tonikum nicht wirkt und er zu Schaden kommt, finde ich dich“, sagte sie. „Egal, wo du dich versteckst!“.
Walpurga verzog höhnisch den Mund, ehe sie ein Fläschchen aus der Schürze zog und es der Rothaarigen in die Hand drückte.
„Füge das dem Tonikum hinzu und wem immer du damit auch einen langen Schlaf bescheren möchtest, wird so schnell nicht aufwachen!“
Der Kater starrte ihnen nach, als seine Herrin die Tür hinter ihnen verriegelte.
Eine Ratte huschte die dunkle Straße hinunter und in der Ferne hörte man die Räder einer Droschke über das Kopfsteinpflaster rattern. Brianna trat in den nächsten Hauseingang und betrachtete noch einmal das Bündel, welches sie aus dem Haus der Hexe mitgenommen hatte. Der dreizehnjährige Fuchs betrachtete sie noch immer mit besorgter Verzweiflung, sodass die Schatzjägerin in die Hocke ging und Kyu durch das weiche, blonde Fell streichelte.
„Keine Sorge. Es wird schon alles gut gehen! Dies ist nicht der erste Auftrag, bei dem ich irgendwo einbrechen muss!“, versuchte sie die Zweifel ihres Gefährten zu zerstreuen, den sie erst vor einem guten Jahr aufgelesen hatte, aber sich ein Leben ohne ihn einfach nicht mehr vorstellen konnte. Er war zu ihrem heimlichen Vertrauten, ihrer zweiten Seele geworden und auch wenn die Rothaarige sich für diesen narzisstischen Gedanken manchmal schämte, so hoffte sie, dass sie ihm ebenso viel bedeutete, denn sie glaubte nicht, dass sie es noch einmal verkraften könnte, jemanden zu verlieren, den sie so ins Herz geschlossen hatte.
~ Am nächsten Morgen ~
Brianna wachte schweißgebadet aus einer unruhigen Nacht auf, in der sie Bilder von einem Schiffsdeck voller leerer Kinderkrippen, obwohl das Geschrei eines Säuglings ihr das Trommelfell zu zerreißen drohte, geplagt worden war. In erdrückender Panik war sie über das schwankende Schiff, dessen Segel das Emblem der Weltregierung führte, geeilt, hatte überall nachgesehen, aber sie hatte sie nicht finden können. Erst in letzter Minute, als sie die Hoffnung schon fast hatte aufgeben wollen, sah sie eine verhüllte Gestalt, die einen Säugling auf dem Arm trug. Doch als Brianna zu ihr eilen wollte, zerbrach das Deck und die tosende See verschlang nicht nur das Schiff, sondern füllte auch die Lungen der Rothaarigen mit salziger Kälte, bis sie schließlich prustend aufgewacht war. Es dauerte fast fünf Minuten, ehe Brianna die bedrückende Enge auf ihrer Brust abgeschüttelt hatte und ihr Gehirn die Wahrheit, welche alle anderen Sinne ihm mit brachialer Gewalt zu vermitteln suchten, akzeptiert hatte. Sie befand sich in einem kleinen Zimmer, welches sie und Kyu angemietet hatten und etwas abseits der kleinen Stadt stand, in die sie ihr nächster Auftrag geführt hatte. Leise, um den Fuchs möglichst nicht zu wecken, der zufrieden seufzend neben ihr schlief und dessen Träume ihn anscheinend zu schöneren, friedlicheren Plätzen führten, schlüpfte sie unter der Decke hervor und wandelte auf Zehenspitzen in das Bad, wo sie den Wasserhahn aufdrehte und ihr Gesicht wusch. Sie sah fürchterlich aus und das erste Mal seit Monaten wünschte sie sich ein Glas Wein oder Scotch, um den pulsierenden Schmerz zu betäuben. Ihre gesamten Nerven, die jetzt angreifbar für jede innere und äußere Bewegung waren, wirkten nach dem Albtraum so, als hätte man sie mit einem rauen Reibeisen abgeschliffen. Seit sie Kyu kannte, waren die Träume friedlicher, die Nächte ruhiger und die Gedanken an das schreckliche Mittsommerfest weniger geworden. Dennoch war sich die Rothaarige sicher, dass sie niemals ganz verschwinden würden.
Sie trocknete sich das Gesicht ab, versuchte die Erinnerungen an ihre Tochter zu verdrängen und die alten Wunden wieder zu verdecken, bevor der Schmerz sie vollkommen handlungsunfähig machte. Sie verließ das Bad wieder und die wärmende Aura, die der Fuchs durch seine gleichmäßige Atmung ausstrahlte, schien wie Balsam für die Seele zu sein. Lächelnd legte sie sich wieder zu ihm ins Bett, um noch ein paar Stunden erholsamen Schlafs zu bekommen, ehe sie in die Gruft einbrechen würden, um ihren Auftrag zu erfüllen.
1517 Anno Maris
Die Nacht kniete grotesk und barfüßig vor einem tiefen Nebel danieder, der die schwarzen Wasser wie Tinte in sich aufsog und Schatten auf die Welt malte.
Aufgewühltes Salzwasser rollte grollend um das unheilvolle Schiff und fraß sich in die tiefe Maserung des dunklen Holzes, das knarzend Höllenqualen ertrug und Gebete ausstieß, für die keine Seele empfänglich war. Rauchverquollene Bullaugen, Argusaugen im Düstern der Nacht, glimmten stoisch durch die faden Schwaden und blinzelten meersalzende Tränen in den rauen Winden der tiefen See fort, die Leben verschlingt und nie wieder entlässt.
Mercedes Lider glühten im matten Schein der verfallenden Wachskerzen, die den finsteren, schwarzhölzernen Raum mit stummem Schimmer befleckten, und ihre roten Lippen verzogen sich in ihre feinen Winkel, wenn sie das beißende Gift in den weichen, warmen Wangen sammelte und schließlich launisch die Kehle hinunterjagte. Der Blick ihrer flackernden Augen war hart, grün wie tote Schlangen und blauer als ein sonnenloser Himmel, und mochte jede Liebe der Welt in sich bergen und doch niemals wahre Freude einfangen. Jene Schönheit, die sie umhüllte wie ein weißer Handschuh, begann bereits zu zerfallen und würde irgendwann eins mit dem Ruß, dem Rost und der Zerstörung sein, die das zyklopische Schiff befallen hatten wie Schädlinge des Tributs. Epidemische Verwitterungserscheinen, die unter jedem Splitter des groben, schwarzen Holzes hervortrieften und auf das klobige, schroffe Mobiliar tropften, das sich karg und schmucklos mit der Dunkelheit vollgesogen hatte, die seine Herren ausdünsteten. Die »Gelert« schwamm auf Säure und ihr Auftrieb war der Wunsch ihres Kapitäns zu ertrinken.
Callaghan nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas, ohne den Augenkontakt zur bewussten Schönheit zu gefährden, die jede seiner Regungen mit winzigen, unnahbaren Blicken kommentierte. Was taten sie sich an, jeden Tag und jede Nacht? - Und was würden sie sich noch antun, allein in diesem Moment, in dem sie auf diesem Schiff verweilten und willentlich in den Tod segelten?
Ein Tropfen platschte auf den grauen Dielenboden und verlagerte das Blickfeld der stillen Brünetten, deren Haselnussbrauen nun über die schäbige Erbärmlichkeit des Mannes urteilten, der sein blondes, strähniges Haupt auf einem klebrigen Tisch, in einer Lache verschütteten Whiskeys zur Ruhe gebettet hatte. Sein Gesicht war zerknirscht und sein schlummerndes Gewissen rein wie das Lachen eines dummen Kindes. Mercedes lächelte ihre Gefühle fort und lauschte für einen Augenblick der monotonen Abfolge des brausenden Plätscherns gegen den massiven Rumpf der »Gelert«, bevor sie ihre kühl flimmernden Augen wieder dem Mann schenkte, der ihr vor Jahren ihr verdientes Ende verwehrt hatte.
Sie teilten ein stilles, heiseres Prosten ihrer dreckigen Schnapsgläser, tranken und schwiegen. Die nächtliche See wiegte das Schiff und der Alkohol all jene, die es auf es verschlagen hatte.
Die schwarzen Pupillen Callaghans wanderten teilnahmslos zu Krill dem Blinden, der in einer Ecke des öden Zimmers ruhte und steinern aus einem der runden, vom Tabaksqualm beschmierten Bullaugen starrte, um die Maßlosigkeit der Welt mit den Sinnen zu erforschen. Für einen Moment schloss der Kapitän der »Gelert« selbst die Augen und gab sich diesem Spiel hin, sich in dem Gedanken einer blinden Existenz zu verlieren, in der Finsternis nichts verdunkeln und Licht keine Schatten werfen konnte.
Das Meer schlug seinen schweren Leib gegen den massiven Rumpf des schwarzen Schiffs und beruhigte kurzzeitig seine Nerven, als ihn ein plötzliches Zischen aufhorchen ließ, dem der zähe Gestank tödlichen Rauches gemeinsam mit dem zersetzten Odem einer sterbenden Lunge folgte. Mercedes lächelte ein unergründliches Lächeln in seine aufreißenden Augen und blies den Qualm ihrer Zigarette in aufquellenden Ringen durch den stickigen Raum, direkt in das verzogene Hungerleidergesicht des schnarchenden O'Mara.
»Das wird dich töten. Früher als später«, murmelte Callaghan halbherzig. Sein Bass klang mit Blei und Kohle belegt.
»Was nicht?«, setzte die schöne Frau herausfordernd dagegen und beobachtete seine pechschwarzen, sich zusammenpressenden Augenbrauen, »Die meisten sterben früher als später.«
Callaghan nickte unmerklich. »Ja«, brummte er nüchtern, »Der Tod findet dich.«
»Wie viele sind es wohl? Als würde die ganze Insel in Flammen stehen...«
Der junge Fischmensch Fortunato Sero beugte seinen rot-orangefarbenen Oberkörper so weit über die Reling der »Gelert«, dass die am Rumpf aufpeitschenden Wellen nach seinem fülligen azurblauen Afro und dem schwarzen, ausgeleierten Bowlinghemd zu greifen schienen, welches Callaghan ihn zu tragen zwang, um so zumindest einen Teil der absurden schwarzumrandeten weißen Streifen zu überdecken, die sich in schwindelerregenden Linien über Brust, Rücken, Arme und Beine des »Echten Clownsfischs« zogen wie Kindermalereien. Seine großen, unendlich erdigen braunen Augen schmolzen blubbernd unter dem Anblick der unzähligen Fackeln und Lagerfeuer, die die im Dunkeln der Nacht wabernde Insel »Gargo Stoll« in flammendes Licht tauchten und Schatten warfen, die zu gefährlichen Menschen führten.
»Wie viele sind es wohl? Ungefähr?«, wiederholte der junge Fischmann seine zuvor noch rhetorische Frage in dem Wissen, vermutlich dennoch keine Antwort von Callaghan zu erhalten. Sei es, weil der grimmige Hüne noch immer moserte, aus seiner stickigen Gemeinschaftslethargie gerissen worden zu sein oder um der Grimmigkeit selbst Willen, die er zu seinen Zwecken zu mythologisieren versuchte. Fortunato zuckte zusammen, als der Kopfgeldjäger tatsächlich das Wort ergriff.
»Etwa 500 Fußsoldaten. 20 Offiziere. Und ihr Kapitän.«
Just beschloss der Clownfisch, dass dies der richtige Anlass für einen lauttrunkenen Fluch sei und bekräftigte sogleich ein
»Gottverdammmich...!«, das Callaghan mit einem undurchdringlichen Blick strafte, der Reue auslöste.
»Tut mir leid, Sir...«, stammelte Fortunato unsicher, stocherte mit den rot-orangenen Händen in den blauen Taschen seiner Shorts herum und wollte sich bereits peinlich berührt in die Einsamkeit seiner Kajüte zurückziehen, als sein sagenumwobener Gegenüber unvermittelt brummte:
»Angst macht dich nicht zu einem schlechten Kopfgeldjäger, Sero.«
Der junge Fischmensch horchte mit hochgezogenen, azurblauen Brauen auf und wagte einen zaghaften Blick zurück.
»Wie bitte? Ich habe keine Angst«, beteuerte er ehrlich.
»Solltest du aber. Ein Mann, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, 450 Millionen Berry in Blut aufzuwiegen, gehört gefürchtet.«
Fortunato schmatzte mit den schwarzumrandeten, weißen Lippen, bevor er erwiderte:
»Sie haben auch keine Angst.«
»Doch«, widersprach Callaghan kalt, »Nur aus sekundären Gründen.«
Schlurfend trottete Fortunato zurück zur Reling und stützte sich gedankenschwer auf ihr ab, um das Gewicht seines Lebens nicht allein halten zu müssen. Diese Angewohnheit teilte er mit Callaghan, der unbewusst die gleiche Pose eingenommen hatte.
»Ich habe die Akte gelesen, die mir Miss Mercedes gegeben hat. Ist...wie kann ein Mensch nur so etwas tun? So viele grausame Dinge...«
Callaghan schien eine Antwort abzuwägen, die den noch viel zu jungen Fischmenschen nicht überforderte und sagte schließlich, im völligen Einklang mit den Wellen, dem Nebel und den in weiter Ferne hallenden Grölern und Johlern der wilden Piratenarmee:
»Alles hat seine Hackordnung und wir alle sind ein Teil davon. Wir können uns fragen, warum er diese Dinge tut. Oder wir fragen uns, was wir tun würden, würde er sie nicht tun.«
»Kann schon sein«, murmelte der kaum erwachsene Clownfisch grüblerisch und walkte seine rot-orangenen Hände wie Knetmasse. »Ich wollte immer Menschen helfen. Wollte sie beschützen vor...naja. Schlechten Menschen. Trotzdem wünsche ich mir, dass es keine schlechten Menschen gibt. Ist das dumm?«
»Idealistisch«, grummelte Callaghan bitter und unsensibel, »Also ja. Dumm.« Dann, als er die niedergeschlagene Miene Fortunatos aus dem Augenwinkel bemerkte, fügte er lustlos hinzu:
»Aber nicht dümmer als alles andere.«
»Nicht dümmer als eine Marine, die jemanden, der helfen will, wegen seiner Rasse ablehnt?«, schoss es plötzlich aus dem Fischmenschen heraus wie ein innerer Poltergeist, der schon zu lange nur die Gedanken Fortunatos hatte heimsuchen dürfen und sich nach neuen Schreien sehnte. Seine weißen Nägel bohrten sich in das fischige Fleisch seines Handballens, während er mit vor Ärger stotternder Stimme weitersprach:
»Du tust alles, was sie wollen. Erfüllst alle Voraussetzungen -hast dein ganzes Leben lang nur gelebt, um diese dämlichen Voraussetzungen zu erfüllen- bist am Ende besser als diese anderen Pappnasen von Anwärtern...und dann setzen sie dich mit einem ›Verschwinde, Fisch!‹ vor die Tür? Ich wollte helfen...will helfen!«
Der schiefe, dunkle Blick Callaghans erfasste den Fischmenschen mit einer Woge bedrückender Verachtung, die sich aus Mitleid und der Gewissheit speiste, einen Menschen ähnlichen Schlages entdeckt zu haben. Der Kopfgeldjäger glaubte dem blauhaarigen Burschen, der die Fehler der Welt gesehen hatte und gewillt gewesen war, ihr zu helfen, doch auch nur ein Kind war, das nicht verstand, dass sich diese Welt nicht helfen lassen will und einen Dreck auf all jene gibt, die sich ihr anbieten. Fortunato Sero gehörte zu jenen erbarmungswürdigen Individuen, die zu gut für ihre Umwelt sind, knorrige Bauern in einem kargen Ödland, die Hoffnung und Glück säen, Schmerz ernten und am Ende des Tages nicht ärmer und nicht reicher sind als zuvor, sondern nur zerschundener.
»Die Marine ist dumpf und klein in ihrem Denken«, versuchte sich Callaghan wider seiner Natur an tröstlichen Worten. Er hatte eine Brücke zu dem jungen Fortunato gefunden und zwang sich nun, gegen seine emotionale Höhenangst anzukämpfen und sie zu überschreiten. »Onigumo ist das beste Beispiel für eine Organisation, die lieber bewaffnete Menschen erschießt als Waffen zu konfiszieren.«
»Es war mein Traum«, schniefte der junge Fischmensch untröstlich, ein eigenwilliges Kneifen in den kalten Lippen des grimmigen Hünen provozierend, der zuweilen wie seine Gefährten vergaß, dass ihr spontan aufgesammeltes Stück Treibgut erst 17 Jahre alt war, mit dem Gemüt eines 17-Jährigen.
»Ach, verdammt!« Beschämt wischte Fortunato die Tränen aus dem Gesicht und schmierte sie in seinen unverwüstlichen, naturbelassenen Afro aus purem Azurblau, bevor er gezwungen kaltschnäuzig fragte:
»Wann greifen wir an? In Kürze, um die Finsternis auszunutzen?«
»Nein. Wir warten bis zum Morgengrauen, wenn sie ihren Rausch ausschlafen. Außerdem wird der Überraschungsmoment nur kurz sein - Wir dürfen nicht müde sein, wenn wir ihn optimal nutzen wollen.«
Der frischgebackene Kopfgeldjäger nickte als Signal, den Wink verstanden zu haben, in militärischer Steifheit und konstatierte soldatenhaft: »Gute Nacht, Sir!«
Ein finsteres, für Callaghan typisches Grunzen später zog sich Fortunato in die Dunkelheit des Decks zurück und hinterließ kurz darauf nichts als den Schall seiner sich schließenden Kajütentür, der geisterhaft und hauchend über die Wellen waberte und sich in der unergründlichen Schwärze der Nacht verlor.
Manchmal beruhigte ihn der Schein der flatterhaften Kerzenflamme, die sein kleines Zimmer in ein heilvolles Schimmern verwandelte, in dem Holz und Stoff nur zufällig ab und an wie Funken aufzuflackern schienen. Im Schneidersitz hockte er auf seinem simplen Bett und fuhr mit den orangenen Fingern jene schwarzumrandeten weißen Linien nach, die ihn in seiner Kindheit zum Gespött seiner Freunde und unendlich stärker gemacht hatten.
»Unter den Fischmenschen ist der Clownsfisch ein trauriger Clown«, hatte sein Vater stets zu sagen gepflegt und ihn mit dem Mut eines Mannes zu trösten versucht, der als Tigerhai-Fischmann stolz auf jeden Teil seines Körpers sein konnte.
In stillen Nächten dachte Fortunato oft an ihn, an seine Mutter und Geschwister. Wie lange war er nun schon fort und gaukelte ihnen vor, ein vollwertiger Rekrut der Marine zu sein?
»Ich bin einer extrem abgelegenen, geheimen Basis in der Neuen Welt zugeteilt worden«, hatte er sie angelogen, um keine ihrer Sorgen auf sich zu ziehen, »Ihr werdet also eine ganze Weile nichts von mir hören. Es ist aber eine große Ehre, für diesen Posten ausgewählt zu werden - ich kann es also nicht ablehnen! Das wäre schön blöd!«
Lügen, so viele Lügen bildeten das wacklige Gerüst, über das der junge Fischmensch stakste, um von oben herab auf seine alten Freunde, seine Familie und all die anderen blicken zu können, die ihm nie etwas anderes zugetraut hatten als ein lebender, atmender Witz ohne Pointe zu sein.
Langsam stieg er aus seinem Bett empor, reckte den sehnigen, trainierten Rücken und entblätterte das schwarze Bowlinghemd von seinem Körper, bevor er sich vor den hohen Wandspiegel stellte und jeden Streifen analysierte, der aus seinem Schambereich gen Brust entstieg und sich über seine Schultern in den Rücken verlor.
Jeder wird mit einem Laster geboren und Fortunato empfand Ungerechtigkeit, weil er sein eigenes, so oberflächliches Laster nicht bekämpfen konnte - was konnte er schon tun, außer sich die Haut abzureißen wie Schichten und Schichten seiner eigenen Seele?
Er atmete schwer, zurück Richtung Bett schlurfend und sich auf halber Strecke in den kümmerlichen Stuhl absinken lassend, der vor einem kleinen, grob gezimmerten Tischchen stand und die Aussicht auf ewig währende Rückenschmerzen verhieß.
Atemlos, in einem Kurzschluss, der aus Heimweh und Schuld Funken schlug, setzte Fortunato einen liederlichen Brief auf, der mutig der Tatsache zu trotzen gedachte, dass sein Schreiber bereits frühzeitig als Legastheniker diagnostiziert worden war:
]»Libe Mamma,
ich Mus dier laider sahgen, das ich kain mahrine...«
Wütend zerknüllte er das Stück Papier und begann erneut:
»Halo fahmilie,
es giebt Ettwas, das ich Sahgen mus...«
Auch dieser zweite Versuch, seine Gedanken und Gefühle im gesprochenen Wort zu verewigen, scheiterte an Fortunatos Erwartungshaltung an sich selbst, bevor er nach noch zwei weiteren fruchtlosen Ansätzen murrend aufbarst und sich todbetrübt in sein Bett stürzte wie ein entehrter Samurai in sein Schwert.
Unter einem schweineartigen, eitrigen Schniefen erhob sich O'Mara schlaftrunken in die Finsternis und inspizierte die menschenverlassene Leere des Raumes, in dem er soeben erwacht war.
Die Gläser waren leer, der Alkohol versiegt und an Mobiliar wie Dielenboden klebte der dunstige Rückstand eines verlorenen Abends.
Unbeholfen tapste er durch den Raum zur Tür, beinahe über seine eigene, wohl im Rausch zu Boden geworfene Flasche Whiskey stolpernd, und fiel vornüber in die luftige Freiheit des zugigen Decks. Die Sterne lachten über ihn, der Wind jaulte sein hämischstes Zischen und in weiter Ferne hallte sogar das Stimmecho unzähliger Geiferer, um sich über den blonden Trunkenbold lustig zu machen, dessen glasig-grüne Augen letztlich einen seufzenden Blick auf die im Dunkel der Nacht leuchtende Pirateninsel »Gargo Stoll« warfen und lustlos blinzelten.
»Guten Abend, Sir!«, klingelte plötzlich eine eifrige Stimme in den verkaterten Ohren des Kopfgeldjägers und brachte seinen Schädel zum Beben.
»Lass diesen Sir-Quatsch doch endlich, Sero...!«, lamentierte O'Mara unaufgeregt, »Ich bin kein Sir. Nichtmal ein Mr. - okay?«
»Jawohl, Sir!«, erwiderte Fortunato Sero bestimmt und gesellte sich zögerlich zum blonden Säufer. »Können Sie auch nicht schlafen?«
»Ich habe bis eben geschlafen«, grummelte O'Mara teilnahmslos, bevor er etwas interessierter nachsetzte: »Warum bist du noch wach? Seine letzte Nacht auf Erden sollte man schlafend verbringen. Oder in einer Frau...«
Die rot-orangene Haut Fortunatos errötete unmerklich.
»Oder einem Mann...?«, fügte O'Mara gelangweilt hinzu, als der Fischmensch um eine Antwort verlegen war.
»Was?!«, platzte jener sofort heraus, »Nein. Natürlich nicht. Frau natürlich, Sir...«
»Du musst schlafen. Deine Nerven sind viel zu überreizt«, bemerkte der Blondkopf kameradschaftlich, dem jungen Burschen eine Hand in den Nacken drückend, »Siehst du die Typen auf der Insel?« Er presste Fortunatos Schädel dichter gen Reling. »Du musst topfit sein, wenn du gegen die bestehen willst.«
»Stehen unsere Chancen wirklich so schlecht?«, hauchte Fortunato mit einem von Nervosität belegten Stimmchen.
»Naja. Vermutlich besser als du im Moment glaubst«, antwortete O'Mara ehrlich und entfernte seine klebrige Hand vom schuppigen Hals, »Und wesentlich schlechter als du hoffst.«
»Haben Sie noch einen Rat für mich, Sir? Bevor es morgen losgeht?«
O'Mara verquirlte die blonden Brauen und betrachtete Fortunato mit dem selben Blick, mit dem er eine leere Flasche Whiskey bedachte.
»Du willst einen Rat von mir?«
»Ja, bitte. Sir...«
»Gut, von mir aus«, sprach der verkaterte Kopfgeldjäger ehrlich, den Fischmenschen mit dem dumpfen Moosgrün seiner tumben Augen in trügerischer Sicherheit wiegend, »Du bist kein schlechter Kerl, also mach zum Teufel noch mal, dass du von diesem Schiff wegkommst!«
»Sir...?«, bat Fortunato verstört um weitere Ausführungen, sah sich jedoch nur noch dem Rücken des düsternisschwanger über das schwarze Deck wankenden O'Maras gegenüber, der ihn einsam und mit dem elenden Gefühl eines mutterlosen Kindes zurückließ.
Brianna hörte öfters die älteren Zofen tuscheln, wenn sie gemeinsam in der Küche standen, um das Festmahl für eines der vielen Bankette vorbereiten, die in Chasetown abgehalten wurden. Dem Ort, an dem sie lebte, seit ihre Eltern an einer Krankheit verstorben waren und sich ein gemeinsamer Freund der Familie, namens Dädalus um sie kümmert.
„Hast du schon gehört, dass die Königin anscheinend keinen Erben mehr zeugen kann? Seit der Geburt ihres letzten Sohnes soll sie unfruchtbar sein“, flüsterte die eine.
„Ja, das hab ich auch schon gehört, aber das kommt davon, wenn man als Frau seinen Ehemann nicht befriedigen kann. Es sollen ja schon Dutzend Kinder als Bastarde hier das Licht der Welt erblickt haben!“, grunzte die andere.
Brianna hatte vor Wut gekocht, als sie hörte, wie die anderen Zofen über die Frau herzogen, die sie in ihrem Heim willkommen geheißen hatte.
„Brianna?!“, die andere Zofe stieß ihr unsanft den Ellbogen in die Seite und es dauerte einen Moment, bis sich das Mädchen gesammelt und eine unkluge Antwort heruntergeschluckt hatte. Doch zum Glück dauerte es nicht lange und ein braunhaariger Junge, der ein Jahr älter als die Rothaarige war, kam in die Küche geschlendert. Er sah die tratschenden Zofen und Brianna und seine Stirn legte sich in Falten.
„Prinz Marc, können wir etwas für Euch tun?“, säuselte das eine Mädchen, welches kaum älter als Brianna war und sichtlich für den Knaben zu schwärmen schien, aber jener ignorierte sie und fixierte Brianna mit seinen grauen, durchdringenden Augen. Er wollte gerade Worte mit seinen schmalen Lippen formen, als ein alter Mann in die Küche geschlendert kam, der beim Anblick der Rothaarigen genauso verwirrt zu sein schien wie der junge Prinz.
„Was macht sie denn hier?!“, fuhr der Greis, der auf den Namen Dädalus hörte, die Zofen an, die beim harschen Tonfall augenblicklich zusammenzuckten und beinahe die Teller fallen gelassen hätten, die sie mühevoll abgetrocknet haben. Sie wechselten schnelle Blicke, schenkten dem rothaarigen Mädchen eine Mimik, die nichts Gutes verhieß und verließen dann auf eine Handgeste Dädalus’ emsig und mit puterrotem Kopf die Küche. Brianna, die erst seit wenigen Wochen im Palast der Watarus lebte und außer Dädalus niemanden hier kannte, hatte sich etwas bedrückt in eine Ecke verzogen, als der alte Greis nun mit deutlich freundlicherem Gesichtsausdruck zu ihr schlenderte. Marc verfolgte derweil interessiert vom Türrahmen aus das Geschehen.
„Was machst du denn hier, Brianna?“, versuchte Dädalus sich einfühlsam an das junge Mädchen zu wenden. „Ich habe dich schon überall gesucht!“
„I-ich hatte Hunger!“, flüsterte die künftige Schatzjägerin so leise und zerbrechlich, dass Marc sie nicht hören konnte. Ein Unterfangen, welches keine Früchte getragen hatte, wie er ihr Jahre später einmal verraten hatte. Während sie bei diesem Geständnis Tränen unterdrücken musste, öffnete sie ihren Handballen und zeigte die zermatschten Erdbeeren, die sie aus der Obstschale genommen hatte, während die Zofen mit ihrem tratschenden Geschnatter abgelenkt gewesen waren. Dädalus konnte einen Augenblick eine verdutzte Miene nicht verbergen, ehe er ihr zärtlich über den Kopf tätschelte. Sie zuckte bei der Berührung zusammen und konnte jetzt ein Schluchzen kaum noch unterdrücken.
„Werde ich jetzt bestraft, weil ich gestohlen habe?“
„Aber nicht doch!“
„Aber mein Papa hat gesagt, dass Diebe bestraft werden!“, erwiderte Brianna nun fast schon trotzig. Dädalus schmunzelte, beugte sich verschwörerisch zu ihr nach unten, sodass Marc sie tatsächlich nicht hören konnte, obwohl er die Ohren spitzte, um möglichst jedes Wort zu verstehen, ehe der Greis ihr etwas zuflüsterte.
„Weißt du, Brianna, manchmal ist es in Ordnung zu stehlen, wenn man Hunger hat!“
Das Mädchen blickte ihn mit kullerrunden Augen an, während Dädalus sich aufrichtete und ihr auf die Schultern klopfte.
„Aber das bleibt unter uns, verstanden?“, zwinkerte er ihr zu, ehe sie zu Dritt die Küche verließen.
~ In der Gegenwart ~
„Morgen, Schatz!“, flüsterte sie, als sie erkannte, dass die Ohren des blonden Fuchses sich zu rühren begannen. Murrend schob er eine Pfote über die Augen, um noch ein wenig länger schlafen zu können.
„Ist es wirklich schon soweit? Die Sonne ist noch nicht einmal draußen...“.
„Der frühe Vogel fängt den Wurm“, schmunzelte Brianna, die bereits dabei war, ihre Lederstiefel festzuzurren. „Ich würde mich an deiner Stelle lieber beeilen, sonst gibt es kein Frühstück!“, setzte sie mit ihrem verlockendsten Tonfall hinzu, was Kyu schon eher aus der Reserve lockte. Er hob leicht den Kopf, nur ein wenig, um sicher zu gehen, dass die Rothaarige keine Scherze mit ihm spielte, aber auf einem kleinen Tablett fanden sich tatsächlich ein Croissant, ein Glas Orangensaft und ein hart gekochtes Ei.
„Wann hast du das denn organisiert?“, stieß er erstaunt hervor, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Sie hatten die letzten Monate nur wenig Aufträge gehabt und dementsprechend nur wenig Geld für Essen, was bedeutete, dass sie sich meistens von altbackenem Brot und im Glücksfall ein wenig Obst ernährt hatten.
„Wie ich sagte....der frühe Vogel fängt den Wurm“, erwiderte Brianna nur nebulös, wuschelte Kyu durch das blonde Fell und stand auf. „Ich setze mich noch einmal mit meinem Kontakt hier in Verbindung, während du dich satt isst, okay? Wir treffen uns dann unten!“
„A-aber möchtest du gar nichts?“, fragte der Fuchs die Rothaarige und seine großen, dunklen Augen musterten sie mit solcher Unschuld, dass es Brianna beinahe zu Tränen rührte. Sie schüttelte den Kopf und hoffte, dass ihr Magen sie mit einem verräterischen Knurren verschonen würde. Sie selbst hatte nur einen Apfel gegessen, aber den Jungen mit einem anständigen Essen zu versorgen, war wohl das mindeste, was sie tun konnte, wenn er sich immer wieder freiwillig in Gefahr brachte, sobald er ihr auf ihren Missionen folgte.
~ * ~
Ihr Kontakt hatte ihr Versprechen gehalten oder zumindest nicht gelogen. Kein unwillkommener Schatten einer königlichen Garde wartete vor dem Tor, der in den botanischen Garten führte, aber Whitechapels Straßen waren immer bereits oder eher immer noch voller Leben. Bettler, Betrunkene, Blumenmädchen, Scharen von Adligen und Offizieren auf dem Heimweg von Bällen, nächtlichen Kartenspielen oder von einem der zahlreichen Bordelle der Stadt. An jeder Ecke standen fahrende Händler oder Wahrsagerinnen, aber die Stadt wurde stille, je näher Brianna dem Viertel kam, welches direkt an den Botanischen Garten grenzte. Es wurde diskutiert, die Kunstsammlung, die sich im königlichen Mausoleums, welches innerhalb des prächtigen Garten lag, in die Mauern der Festung zu verlegen, aber noch war das zum Glück nicht geschehen. Es hätte ihre nächtliche Unternehmung beinahe aussichtslos gemacht.
Der Botanische Garte, der die Gruft und somit Whitechapels Schätze barg, war von Behörden und Schulgebäuden umgeben, deren Fenster zu dieser frühen Morgenstunde noch dunkel waren, als Brianna das Tor erreichte. Ihr Kontakt, eine Frau namens Baretta Akhmatova, wartete in einer unbeleuchteten Seitenstraße. Sie war kaum zu sehen in ihrem schwarzen Kleid. Brianna hatte aus der reservierten Frau, deren Alter sie wohl niemals richtig schätzen würde, nie wirklich herausbekommen, was sie eigentlich von Beruf war. Manche Schatzjäger, die mit ihr schon zusammengearbeitet hatten und welche die Rothaarige eindringlich vor ihr gewarnt hatten, sagten, dass sie eine Auftragskillerin war, während wieder andere schworen, dass sie Artistin im größten Zirkus der Welt im entfernten Moskva war, ehe sie dem Direktor, dem ihre Darstellung nicht mehr zusagte, die Hoden abgeschnitten und jene als Dessert an ihn verspeist hatte, während sie ihm unter Qualen zu Tode gefoltert hatte. Wie dem auch sei, vertraute Brianna dieser Frau jedoch auf professioneller Ebene vollkommen, auch wenn sie sich wohl auch vorsehen würde, sie auf irgendeine Weise zu verärgern. Die beiden hatten sich Baretta bereits auf einige Meter genähert, als sie einen hochgewachsenen Mann erblickten, der sich wohl hinter der Frau geduckt haben musste, denn seine Körpergröße war überproportional groß und Brianna war sich sicher, dass es sich bei ihm um einen Langbeinmenschen handeln musste.
„Grimm?“, wiederholte der Mann, der sich als Odair vorgestellt hatte, nachdem sie ihm ihren Namen genannt hatte. Offensichtlich hatte Baretta ihm noch keine Einzelheiten über den Auftrag verraten. „Bist du die Schatzjägerin, die bei einer Mission fast einen Bürgerkrieg auf Elban ausgelöst hätte?“
Brianna schmunzelte, während Kyu sie mit fassungslosem Blick musterte. Die Rothaarige wusste, dass gerade in Schatzjägerkreisen, insbesondere unter Laien, Geschichten gerne mal aufgeplustert wurden. Der Bürgerkrieg war schon im vollen Gange gewesen, als sie letztes Jahr dort eingetroffen war und wohl auch der einzige Grund, dass sie es überhaupt lebend dort hinaus geschafft hatte. Dennoch fühlte sie sich geehrt. Es konnte nie schaden, ein paar Bewunderer zu haben, die ihren Namen in der hart umkämpften Zunft der Schatzjäger breittraten.
Baretta lauschte in die Nacht. Die Glocken des Kirchturms schrillten durch die leeren Straßen, ehe sie den beiden ein Lächeln schenkte. „Ihr seid sehr pünktlich!“
Der Plan erforderte, dass sich die Gruppe aufteilte, denn obwohl der Eingang zum Botanischen Garten selbst nicht bewacht wurde, so war die Situation bei der Gruft eine gänzlich andere. Gemeinsam huschten sie durch die Gärten, die in den schützenden Mantel der Nacht gehüllt waren, vorbei an exotischen Bäumen, elegant angerichteten Blumenarrangements und kleinen Teichen, in denen die Fische bereits den Tag begrüßten und einsame Wellen auf der spiegelglatten Wasseroberfläche zogen. Als die Gruft in Sichtweite kam, erkannte auch Kyu, der zuvor skeptisch gewesen war, ob die Hilfe der beiden Fremden wirklich nötig war, dass kein Weg dort hinein führen würde, wenn Baretta und Odair ihre Rolle nicht spielten. Fünf Soldaten hatten sich um die Gruft postiert, deren einziger Eingang eine schmale Tür aus schwerem Eichenholz war, welches mit eisernen streben verstärkt worden war. Nach einem kurzen Austausch von wortlosen Handzeichen, torkelten die beiden Unterstützer aus dem schützenden Dickicht und zu Kyus Überraschung fingen sie laut an zu johlen. Panisch wollte er sich schon auf den Weg machen, aber da packte Brianna ihn im Nacken und hielt ihn zurück.
„Keine Sorge! Das ist alles Teil der Ablenkung!“, zischte sie ihm zu, während ihre meergrauen Augen das Szenario beobachteten. Baretta hatte den Träger ihres schwarzen Kleides lasziv über die Schulter gleiten lassen, während der Langbeinmensch einen Arm um sie gelegt hatte. Mit der anderen griff er ihr tief unter den Rock und die kühle Schwarzhaarige ließ ein lautes Stöhnen, gefolgt von einem jugendlichen Kichern vernehmen. Hätte es Kyu nicht besser gewusst, so wäre er mit Sicherheit davon ausgegangen, dass die beiden sturzbetrunken wären. Doch schon im nächsten Moment offenbarte sich die Raffinesse ihres Handelns, denn drei der fünf Wächter wurden auf die unnatürliche Geräuschkulisse aufmerksam, die auf die Seelenruhe wie das tosende Kanonengedonner anrückender Artillerie zerschoss. Während sie sich entfernten, um das gackernde Paar Turteltäubchen zur Ordnung zu rufen, zückte Brianna den Revolver, den sie von Walpurga erhalten hatte und richtete ihn auf einen der beiden Wachmänner. Noch bevor Kyu mit schockiertem Blick intervenieren konnte, feuerte sie zwei Schüsse ab. Die Wachen in ihren rot-schwarzen Uniformen gingen augenblicklich zu Boden.
„Komm wir müssen das Zeitfenster nutzen!“, forderte die Rothaarige den Fuchs auf und stürmte los, woraufhin der blonde Teufelskraftnutzer ihr unbeholfen folgte. Er konnte noch nicht fassen, dass die Rothaarige die beiden Wachen gerade kaltblütig ermordet hatte.
Als sie bei ihnen eintrafen, zögerte Brianna nicht lange und fischte den Schlüsselbund vom Gürtel des Gardisten, der ihr Einlass in die Gruft verschaffen würde. Nur wenige Augenblicke später schlossen Barreta und Odair zu ihnen auf. Offenbar hatten sie ihre Wachmänner ebenfalls ausschalten können. Während Brianna sich also am alten Schloss der Eichentür zu schaffen machte, fixierte Kyu alle drei mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und unverhohlener Abscheu.
„Dein Haustier...scheint irgendein Problem zu haben“, konstatierte Odair gelassen, während er sich eine Zigarette anzündete und den Rauch unverfroren in Kyus Richtung blies. Irritiert wandte Brianna sich ihnen zu und las den feindselig-enttäuschten Blick des Fuchsjungen. Ihre Stirn legte sich in Falten, ehe sie ihm ein Lächeln schenkte.
„Du glaubst, dass wir sie umgebracht haben, oder?“, sprach sie liebevoll, ohne eine Spur der Belustigung oder Belehrung auf ihn ein. „Hör doch mal hin! Sie atmen alle noch! Sieh, das waren nur Betäubungskugeln, die ich in dem Schlaftonikum getränkt habe!“
Während die Worte auf ihn einrieselten wie ein klärender Sommerregen, der all den Staub und Schmutz von den Blättern wusch, wurde ihm seine Naivität wieder gänzlich bewusst. Als hätte man einen Schleier von ihm gerissen, hörte er auf einmal den ruhigen, aber regelmäßigen Herzschlag der beiden Offiziere und vor Scham wäre er am liebsten im Boden versunken.
„Wir sollten keine Zeit verlieren! Wir wissen nicht, ob nicht noch jemand zur Wachablöse kommt!“, drängte Baretta und Kyu konnte gar nicht beschreiben, wie unendlich dankbar er ihr war, dass sie seine Dummheit nun nicht weiter vertiefen konnten. Dennoch schenkte Odair ihm einen belustigten Blick, als sie gemeinsam die Gruft betraten.
Sie durchschritten mehrere Säle, die für sie kaum relevant waren, auch wenn sie an Prunk und Schätzen nicht leicht zu überbieten waren, aber als sie den nächsten Raum betraten, leuchteten Briannas Augen auf. In einer Vitrine lagen sie. Ein halbes Dutzend eierförmiger Artefakte. Einige waren kaum größer als ein Hühnerei, andere hätten einen Straußen beschämt. Die Schalen waren aus emailliertem Gold und enthielten je nach Größe verschiedene Verzierungen. Wälder oder exotische Inseln. Die Schatzjägerin war sehr versucht, eines dieser Meisterwerke zu stehlen, aber die Eier waren so berühmt, dass sie sofort als Diebesgut erkannt worden wären. Zudem hatte ihr Auftraggeber sowieso nach einem anderen Gegenstand, von weit aus geringerem materiellem Wert verlangt. Es war Baretta, die ihr mit dem kurzen Heben der Hand verdeutlichte, dass sie den gesuchten Gegenstand gefunden hatte. Doch noch Brianna zu ihr aufschließen konnte, ertönte ein ohrenbetäubendes Geheul. Die Rothaarige musste sich die Ohren zuhalten, denn es hörte sich an, als hätte jemand die Höllenhunde persönlich losgelassen.
Der schwere, vom glühenden Inferno des auflodernden Flammenballs in ein blutiges Rot getauchte Nebel hing tief über den verdorrten Wiesen und Gräsern der ewig kargen Herbstinsel, auf der nur Asche und Stein wuchsen und löchrige, verfallene Schatten in die verkrüppelten Fundamente einer toten Ruinenstadt krochen, durch welche sich das Licht der Morgensonne wie ein Ausschlag auf die schwarze Erde sprenkelte, dem inhärenten Gestank nach Verwahrlosung und Pest ergebenst.
Stille hatte »Gargo Stoll« verschlungen und verdaut, nachdem die Piraten ihr Gelage beendet und ihre rotberauschten Häupter zur steinigen Ruhe gebettet hatten, und dröhnte nun so laut in den Ohren der über die Aschewüste schleichenden Kopfgeldjäger, dass sie dem Wahnsinn anheim zu fallen drohten. Keine natürliche Ruhe des Morgens beherrschte Gargo Stoll, sondern das lebensverneinende Echo einer vergessenen Katastrophe, wie es in versunkenen Städten und vom Erdboden verschluckten Ländern widerhallt.
Callaghan gab ein simples Handzeichen, worauf die ihm folgenden Schatten paarweise in die verlassenen Ecken, Winkel und Nischen der Ruinen ausschwärmten. Der junge Fortunato Sero folgte ihm.
Sie pressten sich an die mit grauem Staub bedeckten Steinwände, als das ferne Hallen einer Stimme durch das alte Labyrinth waberte, dem das heiße Tröpfeln alkoholgetränkten Urins folgte.
Während Fortunato zu halben Teilen angewidert und erstarrt war, erhob Callaghan seinen gewaltigen Körper aus den Schatten und besiegelte mit einem effizienten Handgriff das Leben des sich Erleichternden, in dessen bis zuletzt angstgeweiteten Augen das finstere Antlitz des schwarzhaarigen Hünen schließlich verblasste.
Als wäre nichts geschehen, kein Mord, keine Gewalt, kein Tod, bedeutete Callaghans drohender Finger dem Fischmenschen zu folgen.
Das aufgeregte Herz pumpte in unregelmäßigen, entsetzten Schüben Blut in die zittrig vorangleitenden Füße Fortunatos, der mit jedem Schritt unsäglichere Angst vor dieser Insel entwickelte - und vor dem Mann, dem er auf jene gefolgt war.
»Sir? Kann ich Sie kurz sprechen? Bitte?«
Callaghan fixierte beinahe trotzig die mit obskuren Zeichen und nicht entzifferbaren Schriften verkratzte Platte seines Schreibtisches, als er ein tiefes »Ja« grunzte, in dem keinerlei »Willkommen« mitschwang. Einen gefühlt ewigen Moment stand Fortunato Sero daraufhin unbeholfen inmitten des dunklen, kaum vom Mondlicht erhellten Zimmers und hoffte bangend auf ein Zeichen, sich zu setzen, welches jedoch ausblieb. Selbst jetzt noch, nach all diesen zäh verflossenen Wochen, konnte Callaghan den jungen Fischmenschen mit seinem Verhalten überraschen.
»Sir?« Schließlich wurde Fortunato zu nervös, als dass er hätte schweigen können. »Darf ich...«
»Sprich«, grollte der dunkle Bass wie das Brüllen eines Bären aus seiner Höhle und ließ den Clownsfisch zusammenzucken.
»Es geht um...Fräulein Mercedes.«
Mit einem langsamen, aber bestimmten Ruck schob Callaghan seinen harten Holzstuhl halbseitig herum, um seinen Besuch argwöhnisch fokussieren, sprich, mit schwarzen Pupillen in die Mangel nehmen zu können. »Was ist mit Mercedes?«
»Oh...nein!«, lachte Sero aus Todesangst und rieb sich peinlich berührt den buschigen, hellblauen Afro, »Nicht das! Nicht um Fräulein Mercedes direkt. Ich habe nie...würde nie! Also....Sie wissen schon, ich...«
»Sero«, knirschte Callaghan am Rande seiner Geduld.
»Ja! Verzeihung, Sir.« Endlich fing sich der Fischmensch. »Fräulein Mercedes erwähnte, dass sie nicht über ihre Vergangenheit sprechen.«
Ein Äderchen platzte im trüben Weiß von Callaghans rechtem Augapfel auf, ohne dass es dem armen Fischmann auffiel, sodass dieser blauäugig fortfuhr:
»Das finde ich auch vollkommen in Ordnung. Absolut, ich kann mir gut vorstellen, dass man nicht immer gern über die Vergangenheit spricht. Aber...meiner Erfahrung nach...«
»Du bist 17«, murmelte Callaghan in einem Tonfall, der eigentlich nur überforderten Müttern vorbehalten ist, »Du hast keine Erfahrung.«
Mit diesen Worten schien der Fluch der weißumrandeten Lippen gebrochen und Fortunato Sero von seinem Mut verlassen worden zu sein. Bedröppelt durchlöcherten die erdbraunen Augen eine ins Leere verlaufene Maserung der schwarzen Kajütenwand, als Callaghan nachsetzte:
»Schließ die Tür, wenn du gehst.«
Doch der junge Clownfisch konnte und wollte nicht gehen, nicht kapitulieren. Dazu wurde er von etwas geleitet und angetrieben, das er im Angesicht des martialischen Kopfgeldjägers bisher niemals abzurufen imstande gewesen war: Ärger. Fortunato Sero, der freundliche, höfliche und liebenswürdige Träumer und Menschenfreund, ärgerte sich maßlos und würde nun jeden mit sich reißen, der ihn zu erzürnen wagte.
»Sir. Ich bin noch nicht fertig.« Auch eine sich flaggenhaft empor reißende Braue des Schwarzhaarigen konnte Sero nun nicht mehr beirren. »Ich möchte wissen: Wollen Sie leben? Dieses Schiff, Ihre Kameraden. Alles schreit förmlich ›Geh, sonst bist du tot!‹. Mr. O'Mara hat es eigentlich sogar ziemlich genau so formuliert...ich möchte nur wissen, ob ich eine Zukunft hier habe. Ich möchte nämlich leben, Sir. Ich folge Ihnen in den Tod, wenn nötig -verstehen Sie mich da nicht falsch- aber ich möchte das gern vermeiden. Und daher...meine Frage. Ich möchte leben, Sir. Sie auch?«
Ob Callaghan tatsächlich über seine mutigen Worte nachsann oder sich schlichtweg das Gliedmaß am rot-orangenen Körper aussuchte, welches er als erstes von selbigem reißen würde, konnte Fortunato unmöglich festmachen. Ein impulsives, anfallartiges Verlangen nach Flucht überkam seinen Körper und wucherte wie ein Geschwür in ihm, welches es zu bekämpfen galt - denn der junge Fischmensch machte sich keine Illusionen über den Ausgang einer solchen Jagd.
»Du willst leben?«, schreckte ihn Callaghan plötzlich auf, »Dann geh. Oder bleib. Stürz dich in ein Messer oder in die syphilitische Möse einer billigen Nutte. Macht keinen Unterschied.
Es gibt keine Gewissheit, Sero. Jeder beschissene Affe auf diesem Planeten möchte leben. Das hält die wenigsten vom Sterben ab.«
Die Wassertropfen tänzelten seidig über die im Schein der Morgensonne aufflammende Haut und brachen ein funkelndes Spektakel aus Reflexionen, die sich wie nasse Sterne in den Handflächen des Fischmenschen sammelten. Sie perlten über die Lebenslinien, teilten sich auf seinen langen, kräftigen Finger, wanderten zu ihren Spitzen - und wurden zu tödlichen Geschossen, die schlafende Kehlen zerfetzten, als Fortunato sie fortschleuderte, während Callaghan am anderen Ende der eingefallenen Kirchenruine den Kater zweier anderer Piraten beendete, indem er ihnen mit je einer Faust die Schädel zerschmetterte.
Schatten flogen plötzlich durch das Innere der alten Gemäuer, worauf sich die beiden Kopfgeldjäger hinter die Deckung eines morschen Altars flüchteten. Sie warteten, horchten. Callaghans Ohren zuckten, dann zog er Fortunato wortlos am Kragen mit aus der Deckung.
»Westseite ist sicher«, flüsterte der unlängst mit Krill im Kirchenschiff aufgetauchte O'Mara mit zufriedenem Grinsen, »Sie haben uns nicht kommen sehen.«
»Er hat beinahe alle aufgeweckt«, teilte Krill emotionslos mit, sich einen zerknirschten Blick des Blondkopfs einhandelnd.
»Uh~! Seht mich an«, zischte O'Mara äffend, »Ich bewege mich lautlos und enthaupte drei Arschlöcher auf einen Streich, während der blöde O'Mara über eine leere Pulle stolpert. Blablabla~!«
»Schnauze«, brachte Callaghan alles zum Schweigen, bevor er ruhig sprach:
»Zur Ostseite. Stellt sicher, dass Mercedes in Position ist und sichert nochmal die Umgebung, wenn nötig. Wir schließen an der Südseite mit...«
»Wer seid'n ihr?«
Alle Köpfe drehten sich mechanisch hinauf zur spröden Kanzel, von der ein verknautschtes Gesicht auf sie hinunterstarrte.
»Die barmherzigen Schwestern, Süßer«, säuselte O'Mara sarkastisch, »Lutschen dir für 'nen Berry die Nierensteine aus'm Sack.«
Der verkaterte Pirat schaltete nicht schnell, aber noch schnell genug. Ein lauter Schrei wollte gerade seiner trockenen Kehle entweichen, als sein linker Augapfel aus dem unansehnlichen Schädel platzte und sein Gehirn den umliegenden Stein dekorierte.
»Schätze, Mercedes ist in Position«, murmelte O'Mara und winkte der in weiter Entfernung auf einem verkommenen Geschützturm lächelnden Mercedes heiter zu, die den Gruß knapp erwiderte, ihr mit einem grobschlächtigen Schalldämpfer modifiziertes Kanonenbein auf der Brüstung ablegend und auf die Kirche zielend.
Callaghan seufzte. »Zur Ostseite. Wartet auf unser Zeichen.«
»Mein Gott...«
Fortunato Seros schlammbraune Augen brodelten. Das gesamte Mauerwerk war von schwarzroten Schlieren überzogen, Bäche von Blut rannen über den aschschwarzen Boden und schwemmten wahllose Organe und Körperteile auf, die zuweilen an die Ruinen oder zerfetzte Leichen trieben. Herausgerissene Augen trugen ihre zerfransten Sehnerven wie Schwänze hinter sich her, Finger ohne Fingernägel deuteten schmerzverzerrt in alle Himmelsrichtungen, eine grimme Botschaft und Warnung zeigend.
Hilfesuchend wandte sich der junge Fischmann an Callaghan, auf wessen Lippen sich der Schrecken, der über die Südseite Gargo Stolls gekommen war, abzeichnete wie ein Fluch.
»Wieso nehmen Sie mich mit, wenn ich fragen darf?«
»Mercedes schläft, Krill tut, was Krill eben tut und O'Mara...muss wirklich nicht noch vorsätzlich in eine Bar gebracht werden.«
Die harten Sprüche und geselligen Johler, die sich schallend mit den aufsteigenden Rauchschwaden vereinten und das abgestandene Holz besetzten, füllten jene Mauselöcher und Ritzen der dreckigen Kaschemme auf, die sich noch nicht mit verschüttetem Alkohol und aus Hosenbeinen gelaufener Pisse vollgesogen hatten, während das unsägliche Vergewaltigen beliebter Seemannslieder der Kneipenatmosphäre auch den letzten Rest Behaglichkeit nahm.
Fortunato Sero spürte indes alle blutunterlaufenen Blicke auf seinen rot-orangenen Schuppen glühen wie Brandeisen, als er seinen Körper an der Seite des grimmigen Callaghan durch die Reihen besetzter Stühle und vollgesauter Tische schob. Er wusste, dass nur sein Begleiter zwischen ihm und einem wütenden Mob stand, der fest entschlossen war, mit Fackeln, Mistgabeln und wankenden Schritten Krieg gegen die Rasse aus dem Meer zu führen, und war plötzlich dankbar für dessen oft genug verfluchte Bedrohlichkeit - und den Ruf, der ihm zuweilen vorauseilte.
Doch der Pöbel aus Hinterwäldlern und Analphabeten wurde schnell bedeutungslos, als Callaghan schließlich stehenblieb und Seros Blick gen Tresen fiel, vor dem sich ein riesenhaftes Ungetüm aufgebaut hatte, das die beiden Neuankömmlinge mit einem gefährlich-scharfen Grinsen begrüßte.
Der sie offensichtlich erwartende Mann saß mit dem Rücken zum Barkeeper geneigt, breitbeinig und die langen, starken Arme in voller Länge auf dem Tresen abgelegt, sodass seine Bratpfannenhände gleichermaßen die Markierungen für dessen Enden darstellten. Sero konnte erst auf den zweiten Blick glauben, dass diese endlosen Gliedmaßen augenscheinlich den gesamten Barbereich einnahmen, und vermochte dennoch erst auf den dritten zu beschließen, dass die Gestalt vor ihnen zur Rasse der Langarme gehören musste. Denn während vielen jener Individuen an Körpergröße fehlte, was ihre Arme überhatten, so handelte es sich bei dem maisblonden Exemplar vor ihnen um einen hünenhaften Moloch, der höchstwahrscheinlich weit über der Zwei-Meter-Marke klaffte und mit Muskeln bepackt war, die Bergen gleichkamen. Besonders seine charakteristischen Arme, die seinem entsetzlich mächtigen Kreuz wie uralte Baumriesen entwuchsen, erinnerten in Breite und geschätztem Gewicht an die Geschütze eines Schlachtschiffes. Selbst die Ärmel seines ausgefransten Kapitänsmantel, in den er seinen nackten Oberkörper gezwängt hatte, waren unter der Macht dieser Muskeln gerissen - ganz von der Tatsache zu schweigen, das sie ohnehin kaum seine Unterarme erreichten.
»Callaghan!«, knurrte seine junggebliebene, aber vom Alkohol leicht ausgeleierte Stimme lax, »Du siehst schlecht aus. Das Alter bekommt dir nicht!« Mit einem einzigen Sog leerte der Langarmige seinen Humpen Bier, bevor er sich den Schaum wie Gischt aus dem wilden, zu mehreren blonden Zöpfen geflochtenen Bart wischte, der ihm bis auf die Brust reichte. Als der schwarzhaarige Hüne schwieg, stürzten sich die animalischen, von schwarzen Ringen manisch verzerrten Augen des Grobians auf Fortunato Sero, der unwillkürlich erschauerte. Das grienende Gesicht seines Gegenüber, herb, breit und knochig, versprühte die natürliche Wildheit rauer Stromschnellen, doch der kalte Glanz seiner kleinen, eisblauen Augen erinnerte den Clownsfisch an den Obolus, welchen man den Toten für ihre letzte Reise auf den Weg gibt.
»Smith!«, bellte der Moloch und reichte dem in einiger Entfernung stehenden Kopfgeldjäger die Hand, wofür er dank seiner endlosen Ankerarme nicht einmal aufzustehen brauchte, »Smith Iremonger!«
»Freut mich...«, haspelte Fortunato, als er die riesige Hand schüttelte.
Callaghan lachte bitter und falsch auf. »Nicht mehr lange.«
»Was soll das?«
In den schwarzen Augen Callaghans suhlte sich tiefe, ehrlich empfundene Abscheu, als diese Worte seine angespannten Mundwinkel verließen.
»Wonach sieht es denn aus?«, keuchte Smith Iremonger, während er sich an der verstümmelten Leiche eines beleibten Piraten zu schaffen machte.
»Es sieht aus, als wolltest du diesen Kerl an seinem eigenen Dickdarm aufhängen«, erwiderte Callaghan matt, das leicht grünuntermalte Gesicht des jungen Fortunato neben sich ignorierend. Sein dunkler Blick galt ganz dem abscheulichen Treiben des maisblonden Langarm-Menschen.
»Da hast du deine Antwort!« Mit einem kurzen Zug seiner gewaltigen Arme knüpfte Iremonger den aufgeschlitzten Leib an dem aus dem Wanst ragenden Darm auf, nachdem er diesen zuvor zielgenau über eine vorstehende Brüstung geworfen hatte.
Die drei ungleichen Männer betrachteten sich das perverse Werk für einige Sekunden, bis sich der Fischmensch lauthals übergeben musste und Smith Iremonger noch lauter zu grölen begann.
»So zartbesaitet, huh?!« Er schlug Sero dermaßen hart auf den Rücken, dass dieser beinahe in sein eigenes Erbrochenes geschleudert wurde.
»Er ist erwacht«, legte sich in diesem Moment Callagahns dumpfe Stimme über die Szenerie, ohne Anteil am leichtsinnigen Treiben der anderen zu nehmen.
»Stimmt auffallend«, grinste Iremonger mit zuckenden Ohren und gebleckten, sich plötzlich zuspitzenden und anschwellenden Eckzähnen.
»Wir...«, hustete Fortunato mit einem letzten Schwall Magensäure aus, »Haben das Zeichen noch nicht gegeben...!«
Ein weiterer Lachanfall okkupierte den gewaltigen Körper des Smith Iremonger, dessen Lautstärke und Melodik sich mit zunehmender Intensität vom menschlichen Zungenschlag entfernte, um die krakeelenden, widrigen Laute eines brünstigen Brüllaffen anzunehmen.
»Er ist wach«, murmelte Callaghan düster, »Das ist das Zeichen.«
Die Sonne erhob sich drohend über die toten Aschenfelder der traurigen Herbstinsel und blutete ihre dämmrigen Schwaden in Schatten über das Grauen, dessen Schauplatz Gargo Stoll an diesem unausweichlichen Morgen zu sein hatte, um die verworrenen Lebensstränge zweier Verlorener zu einer schicksalshaften Begegnung zu vertäuen...
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