Santa Muerte (Sir Guscht of Himself)

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  • Santa Muerte (Sir Guscht of Himself)

    Abend zusammen^^

    Nachdem ich meine ersten Gehversuche an meiner ersten FF versucht habe (The 3rd Era), bin ich bei dieser Story an einem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr so Recht die Lust darauf verspüre. Ich müsste den Anfang überarbeiten, denn ich habe gemerkt, dass der Beginn nicht mehr der Tollste ist und man lernt ja stetig dazu. Aber dazu verspüre ich derzeit einfach nicht die Muße. Sie wird deshalb auf die Ersatzbank verbannt und nur noch zum Nebenkriegsschauplatz. Stattdessen präsentiere ich jetzt hier voller Stolz, und nach Überlegungen, ob es in FF-Forum oder zu den Fanarts gehört, Santa Muerte!

    Santa Muerte ist ein Krimi/Thriller um einen Serienkiller im Stile eines Level 26, nur in Sachen Wortwahl nicht so brutal. (Dennoch kommt man bei einem Projekt dieser Art nicht umhin, eine gewisse Prise Gewalt einfliessen zu lassen. Deshalb möchte ich hier warnen: wer keinen Gefallen an solchen Gschichten hat, sollte besser die Finger davon lassen, Ich werde auch keine FSK-Angabe geben,da ich es weder kontrollieren kann, noch eure Mutter bin. Ich bin aber nicht schuld, wenn ihr nach dem Lesen wieder nach dem Monster im Schrank sucht!) Wer also gerne Krimis liest, kann gerne mit in die Fahrt einsteigen und Angel Gravez begleiten, wie dessen Welt auf den Kopf gestellt wird. Und zwar von Calavera, der eine gewisse Vorliebe für alles Morbide an den Tag legt. Ich plane alle 3,4 Tage ein Kapitel zu posten. Doch jetzt viel Spass mit dem ersten Kapitel. Btw, die einzelnen Kaitel werden keine Namen tragen, sondern zu einem größeren "Akt" zusammengefasst.

    ~Prolog~
    Kapitel 1
    1. Juli 2012 – San Diego, 6:31am

    "Verdammt, es ist viel zu früh, um sich schon wieder mit Mord beschäftigen zu müssen", brummte Angel Gravez, den heissen Becher Kaffee in der Hand. Er fuhr sich gerade durch das ungekämmte schwarze Haar, als ihm auch schon der erste Officer entgegenkommt.
    "Wenn sie das schon schlimm finden, sollten sie sich besser ersparen reinzugehen, Detective. Nicht schön". Vincent Parker verzog dabei angewidert das Gesicht und schüttelte den Kopf. Seine Brille wackelte lose über Nase, kurz davor herunterzufallen.
    "So schlimm?", fragte Gravez und riss die Augen auf. Zumindest soweit wie es ihm zu diesem morgendlichen Zeitpunkt möglich war. Aber ein weiterer grosser Schluck aus dem Becher, randvoll gefüllt mit dem braunen Muntermacher, der morgens zu seinem besten Freund geworden ist, sollte die Müdigkeit ein weiteres Stück zurückdrängen.
    "Na ja, sagen wir mal, dass es ein Vorteil sein könnte, wenn sie noch nicht gefrühstückt haben.", meinte Parker mit einem unüberhörbaren süffisanten Unterton.
    "Scheisse...", sagte Gravez und nahm einen letzten Schluck, bevor er den nun fast leeren Becher wegwirft. "Und das ausgerechnet in so einer netten Wohngegend."
    Tatsächlich befand sich das Haus in dem das Verbrechen geschah in einem dieser typischen Vororte. Jedes Haus nahezu identisch, gepflegter Rasen mit einem Kinderfahrrad, Mittelklasse-Wagen in der Auffahrt. Der Traum eines jeden Bürgers. Netter Job und abends zu Frau und Kind in das eigene Heim. Wer träumt nicht von so einem Leben. Doch wie so oft sollte sich hinter dieser Fassade mehr verbergen. Wassich hier jedoch abgespielt hat, ließ selbst die ermittelnden Beamten nicht ruhig. Wie Gravez und Parker leidlich mit den eigenen Augen miterleben durften. Noch bevor sie sich zum eigentlichen Ort des Geschehens durchschlagen können, kommt ein weiterer Beamter aus dem Haus gerannt und schafft es gerade noch sich in das Gebüsch neben dem Eingang zu übergeben, ohne den Tatort zu verunreinigen. Gravez hat ihn seinen Dienstjahren schon öfter gesehen, wie sich Neulinge an ihren ersten Tatorten übergeben haben, aber dies war keiner dieser neuen Rekruten, denen man gerne mal die Drecksarbeit machen lässt, sondern ein gestandener Polizist mit bereits leicht ergrauten Schläfen.
    "Na Mike, war das zehnte Bier heute Nacht etwa schlecht?", scherzte Gravez dem sich Übergebenden zu. Dessen Antwort war schlicht und einfach ein erhobener Zeigefinger, was aber kaum als Beleidigung zu werten ist. Scherze dieser Gattung sind es, die diesen Job nicht ganz so unerträglich machen. Nahezu jeden Tag mit Tod und Gewalt tun zu haben, kann einen ganz schön mitnehmen. Wenn man dann noch die nicht enden wollende Bürokratie und Chefs, die das Prinzip "nach oben bücken, nach unten treten" perfektioniert haben, dazunimmt, lässt Gravez einzig die Aussicht auf eine gute Pension nichtden Verstand verlieren. Das und seine Frau, seinem Rückzugsort, fern von aller Brutalität. Stunden des Friedens. Inneren Friedens. Nur schade, wenn man so jäh aus seiner Idylle gerissen wird, wie am heutigen Morgen.
    Gravez und Parker setzten ihren Weg fort Richtung Eingangstür. Doch kaum hatte Gravez die Schwelle überquert, überkam ihm ein ähnliches Gefühl, wie es Mike zuvor an den Tag gelegt hatte. Parker hatte nicht übertrieben. Wohl eher untertrieben. Es war tatsächlich gut, noch nichts Festes zu sich genommen zu haben. Selbst Parker, der sich schon zuvor im Haus umgesehen hatte, konnte kaum seine Augen offen halten.
    "Was zum...", stammelte Gravez. Sein Instinkt sagte ihm, er solle so schnell wie möglich das Weite suchen, für immer verreisen, sich nen neuen Job suchen und das hier besser vergessen. Zu spät. Dieses Bild wird er schnell nicht wieder aus seinem Gedächtnis drängen können. So penetrant, dass er es immer wieder vor sich sehen wird, selbst wenn er seine Augen schliessen sollte. Irgendetwas sagte ihm, dass er heute sehr, sehr schlecht schlafen wird. Wenn er denn überhaupt zur Ruhe kommt.
    Blut soweit das Auge reicht. Ein Albtraum in weiß und rot. Die Einrichtung war modern und weiß gehalten. Weißer Boden, weiße Wände, weiße Möbel. Der perfekte Kontrast, um das allgegenwärtige Blut noch schlimmer wirken zu lassen. Doch wenn es nur bei dem Blut geblieben wäre. Nein, sogar Körperteile lagen wild verstreut im kompletten Eingangbereich. Gravez war nicht einmal in der Lage, genau zu bestimmen, um wie viele Opfer es sich eigentlich handelte. Bei der Menge an Blut und...Fetzen menschlicher Überreste hätte genauso gut eine ganze Football-Mannschaft hier ihr mehr als unwürdiges Ende finden können.
    Endlich fand Gravez einen Punkt, auf den er sich konzentrieren konnte, um das Blutbad um sich herum zumindest ein wenig auszublenden. Einen Punkt, in Form von Gerichtsmediziner Dr. Albert Elvis Carter. Er war Anfang 50 und verdankte seinen zweiten Vorname der Vorliebe seiner Eltern für den King of Rock'n'Roll. Wie so viele andere Kinder zu dieser Zeit. Gravez mochte ihn nicht besonders. Er schätzte ihn zwar für seine hervorragende Arbeit, doch manchmal entwickelte er für seinen Geschmack zu grossen Gefallen an seiner Profession. Gerade an Tatorten dieser Kategorie.
    "Morgen, Dr. Carter.", begrüsste Gravez ihn. "Können sie mir bereits etwas sagen. Sowas wie, von wie vielen Opfern wir hier eigentlich sprechen?"
    "Ein ganz faszinierender Eindruck, nicht wahr?" antwortete Dr. Carter. Gravez konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, Carter würde das Werk des Täters geradezu bewundern. "Es handelt sich um 3 Opfer. Lambert Edwardson, 44, seine Frau Julianne, 42, sowie deren Tochter Aura, 12."
    "Aura...", murmelte Gravez. "Scheinbar hatte sie keine so gute." Er beobachtete zu gleichen Teilen interessiert wie angewidert, alsein Assistent Carters eine kleine Hand in eine Tüte packte. Sie gehörte unverkennbar der Tochter der Edwarsons.
    "Hier hat jemand ganze Arbeit geleistet.", Carter riss Gravez aus seinen Gedanken, die um das arme kleine Mädchen kreisten. "Auf den ersten Blick vermutet man rohe Gewalteinwirkung. Als ob jemand die Leichen wortwörtlich in der Luft zerrissen hätte. Sieht man jedoch genauer hin, kann man eindeutig Schnitte erkennen."
    Gravez beugt sich zu Carter und dem Brustkorb hinunter. Zu dem, was übrig geblieben ist. In der Tat konnte man erkennen, dass er mit etwas Scharfen malträtiert worden ist.
    "Ein sauberer, präziser Schnitt den gesamten Brustkorb entlang. Erst dann hat man mit den Händen sich daran zu schaffen gemacht. Die Rippen wurden herausgebrochen und die inneren Organe herausgerissen. Nur stört mich dabei, dass..."
    "Dass wenn man sich solche Mühe macht", unterbrach ihn Gravez, "wieso man dann alles nur völlig chaotisch im Zimmer verteilt." Carter nickte ihm zustimmend zu. "Schon irgendwas zum Todeszeitpunkt?"
    "Ich würde schätzen, heute gegen Mitternacht. Genaueres nach der Obduktion. Ebenso zur Art des Todes. Nach jetzigem Stand würde ich auf Blutverlust tippen. Man muss sich ja hier nur mal umsehen."
    "Das heisst sie haben noch gelebt, als man sie aufgeschnitten und zerfetzt hat?" Gravez durchfuhr ein kalter Schauer die Wirbelsäule entlang. Vielleicht lag es zu einem Grossteil auch an der Wirbelsäule, die ein weiterer Assistent Carters eintütete. Der Grösse nach zu urteilen war sein ehemaliger Besitzer bereits erwachsen.
    "Nicht unbedingt," antwortete Dr. Carter. "Die Wände sind nicht die dicksten und das Nachbarhaus schliesst gleich an. Bei solchen Verletzungen müsste eigentlich irgendwer verzweifelte Todesschreie gehört haben."
    "Der Nachbar gab an, nichts dergleichen gehört zu haben.", mischte sich Parker in das Gespräch ein. "Erst als sie heute morgen nicht zum vereinbarten Zeitpunkt am Auto waren – sie wollten heute gemeinsam mit dem Nachbarn in einem Vergnügungspark fahren – hat er sich Sorgen gemacht und die Tür mit einem Zweitschlüssel geöffnet."
    "Das bestätigt meinen Verdacht", meinte Dr. Carter. "Ich vermute, man sie irgendwie betäubt. Ein klein wenig beruhigender Gedanke, wenn man sich einredet, sie haben alle ihr Ende nicht mehr gespürt."
    Gravez beruhigte das nicht im Geringsten. Welches Monster ist zu so etwas fähig? Etwas Vergleichbares findet man ansonsten nur, wenn Leute von wilden Tieren angefallen und zerfleischt werden. Aber von einem Menschen? Ganz und gar nicht beruhigend.
    "Kann ich mit den Nachbarn, die sie gefunden haben, reden?", fragte Gravez Parker.
    "Keine gute Idee", erwiderte Parker. "Zusammenbruch, Krankenhaus. Ein Schock, wie nicht anders zu erwarten."
    Hätte sich Gravez gleich denken können. Nicht gerade das, was man einen gelungene Start zu einem Familienausflug bezeichnen würde.
    Er warf noch einen letzten Blick auf das grausige Spektakel, das direkt aus der Hölle stammen könnte. Mit dem Bild, wie man Teile eines Gehirns fein säuberlich in Folie verpackt, verspürte er nicht den leisesten Wunsch mehr, sich noch unnötig länger hier aufzuhalten. Er wollte gerade das Haus verlassen, als er hinter einer Zimmerpflanze in der Ecke etwas zu sehen glaubte...


    Kapitel 2
    Gravez sah etwas im Licht der ersten Strahlen der gerade frisch aufgehenden Sonne hinter einer Zimmerpflanze liegen. Was es war, konnte er nicht erkennen, doch da lag ganz bestimmt etwas. Es nicht aus den Augen lassend ging er langsam hinüber, immer darauf achtend, dass er nicht in einem der grossen Blutflecken trat und alles verschmierte.
    "Gravez?", fragte Parker. "Haben sie was entdeckt?"
    "Keine Ahnung", antwortete Gravez."Da liegt etwas, könnte aber auch nur irgendwann mal einfach dahingefallen sein."
    Er griff sich in seine Hosentasche, wo er seine Taschentücher aufbewahrte. Nachdem er ein sauberes, oder halbwegs sauberes gefunden hatte, nahm er es in zwei Finger und schob mit der freien Hand die Pflanze beiseite. Was er da fand, sah zunächst aus wie eine gewöhnliche kleine Puppe. Doch als er sie in die Hand nahm, war ihm sofort klar, dass kein Kind mit so etwas spielen würde. Zumindest nicht in den Staaten. Oder jemand, der keinen mexikanischen Hintergrund hat wie Gravez. Seinen Großeltern zum Dank erkannte er auf Anhieb, was diese Puppe darstellen sollte. La Catrina – oder zumindest eine ähnliche Anfertigung. Eine jener Skelette, die am Día de Muertos, dem Tag der Toten, zu Ehren der Verstorbenen aufstellt. Zu einer näheren Untersuchung kam er nicht, da jemand sich lauthals Zutritt zum Tatort verschafft hatte.
    "Jetzt hört mal zu! Alles stehen und liegenlassen und dann seht ihr zu, dass ihr hier verschwindet. Wir übernehmen ab hier. Am Besten vergesst ihr alles, was ihr hier gesehen habt."
    Gravez blickte überrascht nach oben. Wie aus dem Nichts standen da grosse Typen im schwarzen Anzug, schwarzer Sonnenbrille und Headset. Der Typ, der allem Anschein nach der Anführer der Men in Black war, warf nur einen kurzen Blick auf Gravez und vor allem auf die Catrina, die er in der Hand hielt, und schon wusste er, dass dies nur der Anfang eines verdammt schlechten Tages sein würde. Jemand hatte sie vor ihm gefunden. Jetzt hieß es nur noch Schadensbegrenzung. Er wischte sich den aufkommenden Schweiß von der Stirn.
    "Wer hat hier das Sagen?", fragte der grosse Typ in Schwarz in die Runde. Betretenes Schweigen und jeder versuchte seinem Blick auszuweichen.
    "Das wäre wohl ich.", gab Gravez schlußendlich zu Verstehen. Der Typ nickte ihm zu und deutete ihm an, dass er mit ihm unter vier Augen reden wollte. Gravez verstand sofort und beide verzogen sich in ein Nebenzimmer, die Tür hinter sich fest verschlossen.
    "Was geht hier vor? Von welcher Behörde sind sie und was gibt ihnen das Recht, sich an meinem Tatort so aufzuspielen?" Gravez hatte es nicht gern, wenn sich andere Organisationen so in den Vordergrund drängen. Von ihm aus sollte das verdammte FBI sich ruhig um den Fall kümmern. Vielleicht käme er dann noch wenigstens in den Genuss, den Sonntag zu Hause bei seiner geliebten Frau zu verbringen. Aber dann sollen sie zum Teufel nochmal die offiziellen Kanäle einhalten und nicht wie wild Tatorte in Wild West-Manier stürmen.
    "Ich bin Agent Easton Harlow.", antwortete der nun nicht mehr unbekannte Mann und nahm seine Sonnenbrille ab. Strahlend blaue Augen blickten Gravez an. Trotzdem verspürte er in ihnen eine Leere, als ob sie einmal voller Freude und Hoffnung waren, bis sie auf einmal alles verloren hätten. "Am besten vergessen sie meinen Namen gleich wieder. Genauso wie unser ganzes Auftauchen. Das hier ist jetzt unser Tatort und ich würde es sehr begrüssen wenn sie ihn uns ohne größere Szene überlassen würden." Seine Worte strotzen nur vor Hochmut und dem Gefühl, in einer höheren Liga zu spielen, in die jemand vom Schlage eines Gravez niemals vordringen könnte. In seinen Augen war er nur ein gewöhnlicher Cop mit mieser Bezahlung. Doch so leicht wollte sich Gravez nicht geschlagen geben. Er wusste, wie man sich mit solchen Leuten rumschlagen muss.
    "Ihr Jungs vom FBI denkt wohl, ihr könnt euch alles erlauben. Als gehöre euch die Welt und jeder muss sich euch fügen. Ihr..."
    "Wir sind nicht vom FBI.", unterbrach ihn Harlow.
    "Nicht?", fragte Gravez verwirrt. "Von welcher Behörde seid ihr dann? Dieses ganze Getue mit den Anzügen und den Sonnenbrillen ist normalerweise deren Markenzeichen."
    "Wir sind von einer Behörde, für die sie weder die Gehalt- noch die Sicherheitsstufe haben. Und wenn sie mir jetzt bitte die Catrina aushändigen würden, solange sie noch können. Ich hoffe, sie haben ihr doch nicht etwa in die Augen gesehen, oder?" Sein Gesicht war voller ernst gemeinter Sorge, was Gravez gar nicht einordnen konnte. Wieso sollte sich jemand von einer Behörde, von der er noch nicht einmal den Namen erfahren durfte, sich um jemanden sorgen, der in seinen Augen ja kaum die Luft wert war, die er atmet? Gravez verstand nicht, wohin das alles führen sollte.
    "Doch", murmelte er Harlow zu. "Wieso, war da eine Kamera eingebaut?" Sämtliche Farbe wich aus Harlows Gesicht, als er die Tür aufriss und zu seinen anderen Leuten stürmte.
    "Es gibt ein Problem. Er hat ihn gesehen." Dann ging er wieder zurück zum offensichtlich völlig überforderten Gravez. "Bitte sagen sie mir jetzt nicht, sie hätten Familie. Wo wohnen sie? Raus mit der Sprache. Es ist wichtig!" Harlow bedrängte Gravez förmlich, so dass dieser kaum zu einem klaren Gedanken fähig war.
    "1140 Calle Florecita.", antwortete Gravez nun endlich. "Meine Frau müsste jetzt da sein. Worum geht es? Ist sie in Gefahr?"
    "Gefahr ist untertrieben.", gab ihm Harlow zu verstehen. Gravez musste schlucken. Jetzt fühlte er sich wie Mike, der Polizist, der sich übergeben musste. "Wenn es nicht schon zu spät ist. Sie fahren mit mir und versuchen unterwegs ihre Frau anzurufen. Ich halte die Augen offen, ob ich am Himmel was erkennen kann." Er zog Gravez mit sich und beide rannten so schnell sie konnten zu Harlows Dienstwagen. Gravez kam gar nicht dazu sich darüber Gedanken zu machen, was Harlow mit am Himmel meinte.
    Beim Wagen kam eindeutig die höhere Gehaltsstufe zum Tragen. Kein gewöhnlicher Cop würde jemals so einen Wagen im Dienst bekommen. Dieser hier hatte mehr Komfort als der des Polizeipräsidenten. Und zum Glück auch mehr unter der Haube, denn auch nach mehrmaligem Versuchens konnte Gravez seine Frau nicht erreichen. Er war zwar kein gläubiger Mann, aber jetzt stand ihm der Sinn plötzlich zum Beten.
    Nur noch ein paar Kurven. Die Strassen waren fast leer. Zu früh und ein Sonntag. Während der Rush Hour ist ansonsten alles dicht. Gravez kam nicht zur Ruhe. Er wollte das Handy zum Fenster werfen, vor lauter Frust seine Frau nicht zu erreichen.
    "Wie heisst ihre Frau?", wollte Harlow wissen. Ein verzweifelter Versuch Gravez auf andere Gedanken zu bringen. Einer der ältesten Tricks der Polizei. Jemanden an etwas Gutes denken zu lassen, um ihn dann ganz langsam zum Reden zubringen. Nur musste hier Harlow nichts an Informationen herausquetschen.
    "Sophia. Und die beste Frau, die sie sich nur vorstellen können.", ließ Gravez Harlow wissen. "Langes, schwarzes Haar. Braune Augen. Wahnsinnig temperamentvoll. Trotzdem kenne ich keinen liebenwürdigeren Menschen." Er geriet förmlich ins Schwärmen und hätte beinahe übersehen, dass sie bereits in Calle Florecita eingebogen sind. Nur noch ein paar Meter und schon kann er Sophia wieder in die Arme nehmen.
    Gravez konnte es kaum erwarten und sprang aus dem noch rollenden Auto. Harlow folgte keine zwei Sekunden später. Sie liefen quer über den Garten vor dem Haus. Nur noch diese paar Meter. Bitte laß ihr nichts passiert sein.
    Dann sah Harlow die Drohne ins Haus fliegen. Sie hatten es nicht rechtzeitig geschafft. Die Druckwelle der Explosion riss Gravez und Harlow den Boden unter den Füßen weg und sie flogen mehrere Meter zurück zum Wagen. Sekundenbruchteile darauf brannte die Luft. Unfassbare Hitze machte es ihnen schwer zu Atmen. Ihre Lungen brannten. Verkohlte Bretter lagen zwischen ihnen verstreut.
    Harlow kannte, was jetzt passieren würde. Gravez würde jetzt versuchen, in das brennende Haus zu laufen um seine Frau zu retten. Auch wenn es mehr als unwahrscheinlich war, dass jemand im Inneren den Anschlag überlebt hätte. Harlows Aufgabe war es, ihn zurückzuhalten und ihm über die erste Welle der Trauer hinwegzuhelfen. Sie war tot und je früher Gravez das akzeptierte, desto besser für ihn.
    Doch zu Harlows Überraschung versuchte Gravez erst gar nicht, in das Haus zu rennen. Er blieb nur regungslos auf dem Boden liegen. Mit der Erkenntnis, dass man ihm alles geraubt hatte. Keine Frau mehr und kein Dach über dem Kopf. Keinen Sinn mehr sich aufzurichten. Keinen Sinn mehr zu leben...


    Kapitel 3
    Harlow musste Gravez nur am Boden liegen sehen, um zu wissen, was los ist. Dort lag ein geschlagener, ein gebrochener Mann, der alles verloren hat. Von einer Sekunde auf die andere. Alles weg. Er verstand auch, was von niemanden ausgeprochen wurde. So würde es keinen Sinn machen, zu Gravez zu gehen und ihm sein Beileid auszusprechen. Was würde es schon ändern? Nichts, außer Gravez' seelische Leiden noch zu vergrössern. Er sollte ihn jetzt besser alleine mit seinen Gedanken lassen.
    Harlow setzte sich auf. Jede Partie seines Körpers schmerzte. Dazu der Staub und die Hitze. Und der Anblick dieses Schlachtfeldes. Ein weiteres Opfer für den Calavera-Killer. Harlow machte sich Vorwürfe, warum er nicht sofort Gravez angeschrien und ihm die Puppe aus den Händen gerissen hat. Sekunden, die sie früher hier sein hätten können. Ein Leben, dass sie in der Lage gewesen wären zu retten. Doch jetzt war es ohnehin zu spät. Aber irgendwann...irgendwann werden wir diesen Mistkerl schnappen.

    Mit lauten Sirenen traf einige Minuten später die Feuerwehr ein und versuchte das zu löschen, dass noch übrig geblieben war. Die kläglichen Überreste einer Existenz. Ob diese letzten Bruchstücke auch noch abbrennen würden, welchen Unterschied würde das noch machen? So fallen nur noch zusätzlichen Entsorgungskosten an. Aber sollten Gravez' kleinsten Sorgen sein und daran verschwendete er im Moment ohnehin keinen Gedanken. In seinem Kopf kreiste sich alles nur um Sophia.
    Den Tag, als sie sich auf einer Party kennenlernten. Sie hatte ein feuerreutes Kleid an. Schulterfrei. Dazu eine Rose im Haar. Sie war eine der Bedienungen des Partyservices. Sie kellnerte, um ihr Studium zu finanzieren. Meeresbiologie. Gravez konnte damit zunächst nichts anfangen. Klar, er mochte das Meer und den Sand. Aber er verschwendete keinen Gedanken über das hinaus. Nur Schwimmen und Entspannen. Das war sein Idealbild eines Tages am Meer. Für Sophia war es mehr. Sie war mehr daran interessiert, was sich unter der Oberfläche abspielte. Erst als sie ihn während eines gemeinsamen Urlaubs mit zum Tauchen nahm, konnte er ihre Faszination verstehen. Die Farben der Fische, der Korallen. Die Vielfalt des Lebens. Die Ruhe und der Frieden in Gebieten, an denen es verboten ist zu Fischen, zu Surfen und alles andere, was das empfindliche Öko-System angreifen würde. Er konnte es gar nicht begreifen, wie er sich anfangs darüber lustig machen konnte. In seinem leicht angetrunkenem Zustand hatte er Witze über ihre Leidenschaft gemacht. Jede andere Frau hätte ihn links liegen lassen und das Weite gesucht. Nicht Sophia. Sie hatte ihm den ganzen Abend über das Meer und die Welt darunter erzählt. Auch wenn sie danach Ärger mit ihrem Chef bekam, da sie sich zu wenig um die anderen Gäste gekümmert hat. Das wollte Gravez auch wieder nicht und gab ihr seine Nummer, um es bei einem Essen wieder gutzumachen. Eigentlich dachte er gar nicht, dass sie tatsächlich noch einmal anrufen würde. Soviel Glück hatte er sonst nie. Aber in Sophia hatte er sofort eine verwandte Seele gefunden. Eine Seele, die er jetzt für immer verloren hat...

    Während die Feuerwehr sich um den Brand kümmerte, trafen nun auch Polizei, Krankenwagen und Harlows Männer ein. Harlow deutete den Sanitätern an, dass es ihm gut ginge und sie sich lieber um Gravez kümmern sollten, der immer noch regungslos am Boden lag, die Augen fest verschlossen. Ganz gleich, was er jetzt tun, denken oder sagen sollte, nichts ergab mehr einen Sinn. Er wollte einfach nur hier liegen bleiben. Für immer. Mit seinen letzten Gedanken bei Sophia.
    Auch Parker fand sich schließlich am Explosionsort ein. Wenngleich er auch wesentlich länger dafür gebraucht hatte, als alle anderen. Das Rasen zu Tatorten bereitete ihm schon immer ein ungutes Gefühl und Gravez war nicht nur der Dienstältere sondern auch sein Vorgesetzter, weshalb dieser immer am Steuer saß. Parkers Ziel war es auch nicht, einen neuen Rekord in festgenommenen Straftätern aufzustelolen, sondern später einen gemütlichen Schreibtischposten bei gleicher Bezahlung zu bekommen und seine restlichen Dienstjahre mehr oder weniger auszusitzen. Kein Stress, keine Probleme. Deshalb galten seine Sorgen jetzt voll und ganz Gravez. Wenn dieser wegen der Explosion seinen Dienst quittieren sollte, würde er einen neuen Boss bekommen. Und der ist dann nicht mehr ganz so nachsichtig mit Parkers Einstellung zum Job.

    Ein Sanitäter kümmerte sich um Harlow, der nur mit ein paar Schrammen und Holzsplittern in seinem Körper davon gekommen ist. Zwei weitere liefen zu Gravez, gaben aber schon bald Entwarnung. Es bestand keine Lebensgefahr. Zumindest die äußeren Verletzungen sollten bald wieder verheilt sein. Wie es in ihm aussah, darüber vermochte sich niemand ein Bild zu machen. Wenn sie an ihre eigenen Familien dachten und ein Irrer würde sie in die Luft sprengen. Nein, daran durften sie keinen Gedaken verschwenden. Sonst würden sie sich nie mehr irgendwo sicher fühlen.
    Sie wollten sich gerade daran machen, Gravez' Verletzungen zu versorgen, als dieser sich aufrichtete und sie wegstieß.
    "Lasst mich in Ruhe!", schnauzte er die beiden an, die einfach nur ihre Pflicht tun wollten. Ebenso wie bei Harlow verspürte er Schmerzen überall, doch er ließ es nicht zu, dass sie die Oberhand gewinnen sollten. Betroffen blickte er auf die Ruine, die einmal sein Eigenheim darstellte. Doch das war ihm egal. Was zählte war seine Frau. Ich bin viel zu ruhig dafür. Ich sollte aufgebrachter sein.
    "Ich weiss wie sie sich fühlen.", sprach ihn Harlow an. Ein Arm war in eine provisorische Schlinge gewickelt, die Kratzer notdürftig mit Pflastern versorgt. "Sie denken, sie müssten trauriger sein. Das geht jedem so. Das kommt mit der Zeit...das kommt mit der Zeit." Dabei klopft er ihm mitfühlend auf die Schulter.
    "Nein. So ist es nicht.", antwortete Gravez ihm. "Die Trauer ist da. Nur ist meine Wut noch größer." Er sah Harlow tief in dessen blaue Augen. "Ich will diesen Mistkerl schnappen. Und ich werde ihn mir holen und dann gnade ihm Gott!"
    "Das sollten sie nicht tun.", konterte Harlow. "Das haben mir schon viele gesagt. Und wissen sie auch, wo diese Leute jetzt sind? Unter der Erde, Gravez. Tot."
    "Das schert mich einen Dreck! Ich will es so. Entweder mit ihrer Hilfe oder auf eigene Faust."
    Harlow schüttelte den Kopf. "Denken sie doch mal nach. Ich weiss, es ist hart für sie. Ihre Frau...ihr Haus. Mein ernstgemeinter Rat an sie: halten sie sich da raus. Noch gibt es für sie eine Hoffnung auf ein neues Leben. Nur tauchen sie die nächsten Tage unter und kommen wieder zur Besinnung."
    Gravez spürte Wut. Unbändige, brutale, pure Wut. Und nichts in Reichweite, an dem es auslassen konnte. Nein, eigentlich an allem hier. Denn nichts hatte mehr eine Bedeutung für ihn. Er griff sich das erstbeste Brett und schlug es so fest er nur konnte immer wieder auf ein Stück Metall. Immer und immer wieder. Ohne Pause. Ohne Schmerzen. Ohne Wahrnehmun seiner Umgebung. So sah er auch nicht, dass Parker zu eilen wollte, aber von Harlow am Arm festgehalten wurde. Er deutete ihm mit einem Kopfschütteln an, er soll Gravez in diesem Moment alleine lassen. Gut so, Junge. Lass alles raus.

    Mehr und mehr Leute sammelten sich um das inzwischen gelöschte Haus und sahen fassungslos zu, wie Notdienste ihre Arbeit verrichteten. Polizei und Harlows Männer taten ihr bestes, um zu verhindern, dass jemand dem Tatort zu nahe kommt. Aber es war ein unmögliches Verfangen, alle im Auge zu behalten. Immer wieder kam ein Fotograf der Presse durch. Wie zum Teufel schaffen es diese Aasgeier nur immer wieder, schneller an Tatorten zu sein wie meine Jungs?, dachte sich Harlow. Er hatte es inzwischen aufgegeben, sich darüber zu ärgern. Sperrt man einen davon weg, rücken zwei weitere nach. Solange der Markt an Exklusiv-Bildern von Katastrophen so groß ist, kann man dagegen nichts unternehmen.
    Dann drängte sich eine junge Frau vorbei, wurde aber schnell wieder von einem Beamten hinter die Absperrung gezogen. Das ließ sie nicht auf sich sitzen und wehrte sich mit Händen und Füßen, während sie wütende Schreie ausstieß, die allerdings zu einem Grossteil in der Menge untergingen.
    Gravez hielt inne. Hat er da nicht etwas gehört? Nein, das ist unmöglich. Das kann nich sein. Er drehte sich um und bahnte sich seinen Weg durch Polizei, Presse und Schaulustigen. Dann stand er vor ihr.
    "Sophia...?"


    Kapitel 4
    Sophia stand ihm tatsächlich gegenüber und er musste sich zuerst dagegen wehren, es für eine Illusion zu halten. Ein Streich, dem ihm sein Gehirn spielt um die Trauer besser zu bewältigen. Oder überhaupt erst keine Trauer aufkommen zu lassen. Aber sie sah so echt aus. Gravez konnte nicht wiederstehen. Er musste sie berühren und sich davon überzeugen, dass sie keine Einbildung ist. Langsam und bedächtig hob er seine zittrige Hand und strich ihr über das verschwitzte Gesicht. Sie hatte einen Trainingsanzug an und das Haar zu einem Zopf gebunden. Sie war joggen. Sie war gar nicht im Haus...
    "Angel, kannst mir mir erklären, was hier los ist?", wollte Sophia mit verunsicherter Stimme wissen. "Was ist passiert? Geht es dir gut?"
    Gravez hatte kein Gehör für ihre Fragen. Die Freude sie wiederzusehen war einfach zu groß. Noch nie hatte er sich so darüber gefreut, ihr Gesicht zu sehen. Auch wenn sie verschwitz war, was kümmerte ihn das. Sie kam ihm noch nie so schön vor.
    "Du...du warst joggen." Gravez' Stimme war kaum mehr als ein leises, unverständliches Wimmern. Sophia nahm seine Hand fest in die ihre.
    "Ja. Ja, Angel, ich war joggen." lautete ihre Antwort. Sie hat im Verlauf ihrer Beziehung ein besonderes Talent an den Tag gelegt, ihn auch dann zu verstehen, wenn er nur vor sich hin murmelte. "Als du so früh weg musstest, konnte ich einfach nicht mehr einschlafen und beschloß, ein wenig Laufen zu gehen. Aber jetzt sag mir bitte, was hier los ist."
    Gravez gab keinen Kommentar von sich, sondern schwang einfach seine Arme um sie. Ganz drückte er sie an sich und strich ihr mit seiner Hand über das Haar.
    "Ich dachte, ich hätte dich verloren." Sophia verstand immer noch nichts. Doch sie verstand, dass Angel sich große Sorgen um ihre Person gemacht hat.
    "Nein, ich bin noch hier.", versuchte sie ihn zu beruhigen. "Genau da, wo du mich brauchst." Gravez brauchte einfach nur ihre Stimme zu hören und schon war alles wieder in Ordnung. Alles andere konnte entweder warten oder ersetzt werden. Sophia war in Sicherheit, das allein zählte.
    Erst nach einiger Zeit war Gravez wieder in der Lage, sich von ihr loszueisen. Er musste ihr sagen, was los war. Unter den Tepich kehren war unmöglich, angesichts des leerstehenden Grundstücks, auf dem sich einmal ihr Haus befand.
    "Hör mir jetzt bitte gut zu.", begann er seine Erklärungen. "Jemand hatte es auf dich abgesehen. Es ist meine Schuld. Ich bin da irgendwie reingeraten." Wie eigentlich, dass wurde ihm zu diesem Zeitpunkt bewusst, wusste er überhaupt nicht. Es hatte zwar etwas mit den Morden zu tun, zu denen er heute morgen gerufen wurde, dessen war er sich gewiss. Nur ab wann lief alles aus dem Ruder? Wann nahm alles diese erschreckende Wendung? Da kam es Gravez gerade recht, dass Harlow sich noch in der Nähe befand. Er packte Sophia am Handgelenk und lief mit ihr über das nun braune Etwas, das einst sein Rasen war, bis er Harlow in all dem Getümmel wiederfand. Dieser machte sich gerade mit seinen Leuten fertig, von hier zu verschwinden. Gravez bekam ihm gerade noch am Anzug zu greife, bevor er in seinen Wagen steigen und sich über alle Berge machen konnte.
    "Harlow, was ist hier gerade passiert?" Gravez schnappte sich Harlows Kragen und ignorierte dessen offensichtliche Schmerzen. Harlow wusste im ersten Moment nicht wie ihm geschieht, dann sah er erst Gravez' wütendes Gesicht, aber schon kurz darauf die Frau neben ihm. Er musterte sie kurz.
    "Ist...ist das ihre Frau, Gravez?"
    "Ja, das ist Sophia. Und ich will sofort wissen, wa..."
    "Glückwunsch. Aber das erschwehrt die ganze Angelegenheit wieder.", unterbrach ihn Harlow.
    "Was meinen sie damit? Wollen sie sagen, dass es besser gewesen wäre, sie wäre mit dem Haus in Stücke gerissen worden?" Gravez drückte Harlow gegen dessen Wagen- Er hatte es satt, keine Antworten von diesem aufgeblasenen Wichtigtuer zu bekommen. Er wollte Klarheit, ein für alle mal.
    "Beruhigen sie sich, Mann!" Harlows Männer wollten gegen Gravez vorgehen, doch ihr Chef deutete ihnen an sich da nicht einzumischen. "Wenn sie mich wieder atmen lassen, erfahren sie alles, was sie wissen wollen. Es wäre ohnehin besser, wenn sie mit uns kommen." Gravez gefiel nicht, wo dieses Gespräch hinlief. Sich mit Harlow einlassen? Womöglich würde er sie beide ausschalten und den Medien was von Gasleck erzählen. Außerdem kennt er mit ziemlich hoher Wahrscheinlickeit Mittel und Wege Leichen zu entsorgen, ohne Spuren zu hinterlassen. Doch ihnen blieb wohl oder übel keine andere Wahl. Wo sollten sie schon hingehen? Harlow könnte sie zudem noch überall aufspüren.
    Gravez nickte und Harlow nickte zurück. Dann öffnete er die hintere Tür des Wagens und sowohl Angel, als auch Sophia nahmen darin Platz. Einer von Harlows Untergebenen setzte sich an das Steuer. Sein Namensschild trug den Namen Smith, was aber bestimmt nicht sein richtiger Nanem war, da alle von diesem Verein denselben Namen trugen. Was für eine Scharade. Und was für ein Aufhebe. Warum ihnen überhaupt Schilder geben, wenn alle eh denn gleichen Namen tragen? Gravez hasste dieses typische Geheimdienst-Gehabe.
    "Wo geht denn die Reise hin?", störte Gravez die angenehme Ruhe, nach all der Hektik und dem Chaos, das sich ihnen bis vor eben noch bot. Doch statt ihm zu antworten, kramte Harlow nur etwas aus der Innentasche seiner Jacke hervor. Es handelte sich dabei um eine kleine Dose voller Pillen. Er drehte sich um und hielt sie Gravez und dessen Frau hin.
    "Nehmen sie jeder eine davon." Gravez konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hat.
    "Ist das ihr Ernst?", fragte Gravez ungläubig nach.
    "Mein voller Ernst." An Harlows Stimme wurde klar, dass er dabei nicht zu Scherzen beliebte. "Es tut mir Leid, aber sie dürfen nicht wissen, wo wir hinfahren. Vorerst."
    "Bullshit!", schrie Gravez, "Was glauben sie eigentlich, wer sie sind? James Bond? Morpheus? Beide zusammen?"
    Harlow zeigte dem Fahrer an, den Wagen anzuhalten. Dann beugte er seinen Oberkörper so gut es sein verbundener Arm zuließ nach hinten.
    "Wenn sie mich schon mit Morpheus vergleichen, dann bitte. Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder, sie steigen jetzt aus, mit dem Wissen, nirgends hingehen zu können und im Hinterkopf, dass da noch immer noch ein Irrer frei rumläuft, der ihnen an den Kragen will. Und glauben sie mir, er wird wissen, dass ihre Frau überlebt hat. Er wird es wieder versuchen. Er wird sie solange quälen, bis sie ihn freiwillig anflehen, sie zu erlösen. Oder sie nehmen die Pillen, schlafen sich richtig aus während wir sie in Sicherheit bringen und das weitere Vorgehen vorbereiten. Ich werde ihnen höchstpersönlich jede einzelne ihrer Fragen beantworten. Wenn ihnen die Pillen allerdings nicht zusagen, dann hätten wir das Ganze auch noch in Spritzenform" Seinem breiten Grinsen nach zu urteilen, hätte er es überaus genossen, die Spritze anzuwenden. Doch soweit musste es nicht kommen. Gravez musste nur Sophia ansehen und die Entscheidung war gefallen. Sie musste in Sicherheit gebracht werden. Soll Harlow doch seine Spielchen spielen.
    Er nahm das Fläschchen, öffnete es und schluckte eine der Tabletten. Sophia überreichte er auch eine, die sich nach einem kurzen, unsicheren Blick zu Gravez dann auch dazu entschied, sie zu schlucken.
    "Geht doch. War doch gar nicht so schlimm, oder?" Der Wagen startete wieder, doch das bekamen die beiden im hinteren Teil schon bereits nicht mehr mit. Gravez sträubte sich zunächst gegen die Müdigkeit. Es gelang ihm aber nur ein paar Sekunden, das Unvermeidbare hinauszuzögern. Schnell fand er keine Möglichkeit mehr, die Augen offenzuhalten und sank in einem tiefen und festen Schlaf. Schlaf, den er nur zu gut gebrauchen konnte. Er war zwar nur ein paar Stunden wach, doch diese waren mehr als stressig. Und die nächsten Tage sollten ihn nicht minder schlauchen.

    Während Harlows Wagen sich vom Unfallsort entfernte standen immer noch Dutzende von Leuten aus der ganzen Nachbarschaft vor dem Grundstück der Gravez und beobachteten mit Sorge, aber auch voyeuristischem Interesse das Treiben der Rettungsdienste. Alle, bis auf einen Mann. Dieser hatte mehr Interesse an dem einzigen Wagen, der sich entfernte. Er blickte ihm noch lange nach, als dieser schon längst hinter einer Kurve verschwunden ist.
    Er wartete noch einige Augenblicke, bis er die Strasse überquerte und einen Mülleimer aufsuchte, in dem er ein Handy entsorgte, aus dem er zuvor die Karte entnommen hat. Noch ein letzter Blick auf das angerichtete Chaos, dann setzte er sich seine Sonnenbrille auf und öffnete ein Päckchen Kaugummi. Sein weg führte ihn weg vom Geschehen, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen. Zu wissen, dass Sophia überlebt hat, reichte ihm. Das machte die Angelegenheit nur noch spannender. Wäre sie gestorben und Angel hätte den Verstand verloren...nein, das wäre zu schnell vorbei gewesen. So aber blieb ihm noch das Vergnügen, immer noch einen Gegenspieler zu haben. Er hoffte sogar darauf, dass ihn Harlow nicht so einfach wieder ziehen ließ. Ansonsten hätte er wieder von Neuem anfangen müssen. Nein, Angel Gravez bot noch so viel Potenzial. Soviel Schmerz, den er noch verspüren konnte. Bei diesem Gedanken erschauderte sein Körper vor freudiger Erregung. Er hatte sein nächstes Opfer für psychische Quälereien jeder Art gefunden...


    Kapitel 5
    Den ganzen Tag hatte es schon geregnet und die Erde war aufgeweicht. So matschig, dass das Gehen darin in eine fast unmögliche Aufgabe wurde. Man konnte nicht einmal die Regenwolken von ihrer Umgebung ausmachen. Ein einziges Grau in noch mehr Grau. Ein passendes Wetter für eine triste Stimmung an einem Trauertag. Rund zwei Dutzend schwarz gekleideter Menschen wöhnten der Beerdigung bei.
    Ein Junge, geschätzt 10 Jahre alt, konnte sich seiner Tränen nicht erwehren. Kein Wunder, seine geliebte Großmutter ist von ihm gegangen. Der Mensch, der ihm die Geflogenheiten und die alten Bräuche und Tradition seiner mexikanischen Herkunft immer nahe brachte. Er hatte immer gebannt ihren Worten gelauscht und die rauschenden Feste mit seiner Familie gefeiert. Sehr gerne würde er es noch eimal mir ihr erleben.
    Sie hatte ihm immer gesagt, der Tod sei nichts, bei dem man trauern müsse. Heute hatte er das Gefühl, man hatte ihn all die Jahre angelogen. Vorbereitet auf den heutigen Tag.
    Seine Eltern standen hinter ihm und hielten ihn fest an sich gedrückt. Bereits für sie waren die alten Traditionen schon völlig fremd. Ihre Großeltern kamen damals noch als junge Kinder in die Vereinigten Staaten. Heute ist die Familie schon fest in der neuen Kultur verankert. Eine Kultur, in der der Tod nichts zum Feiern ist, sondern ein Tag des ewigen Abschieds. Dennoch rief sich der kleine Angel immer wieder die Worte der Verstorbenen ins Gedächtnis. Der Tod ist nicht endgültig. Man tritt nur eine Reise an, seine Vorfahren wiederzusehen.

    Gravez hatte Kopfschmerzen. Schreckliche Kopfschmerzen. Schmerzen der Kategorie "Mein Kopf hängt in einem verdammten Schraubstock fest!". Als ob man immer und immer wieder mit einem Hammer von innen gegen den Schädel schlagen würde. Er hoffte, das Gefühl würde bald nachlassen. Es war doch gar nicht so schlimm, als einschlief. Da wurde ihm bewusst, dass er gar nicht daran erinnern konnte, überhaupt ins Bett gegangen zu sein. Da war aber diese Müdigkeit. Doch woher bloß? Gravez versuchte im Halbschlaf sich die letzten Erinnerungen wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er wusste, er wurde an einen Tatort gerufen. Kein gewöhnlicher sondern ein Abbild des Grauens. Wie man sich ihn in den letzten Zügen der Apokalypse vorstellte. Entstellte Leichen, herumliegende Körperteile, Fetzen menschlicher Überreste.
    Dann war da noch eine Explosion. Aber da war noch etwas. Jemand. Jemand stand da bei ihm. Sophia? Auch, aber jemand anderes war zuvor da. Nur wer? Schlagartig fiel es ihm wieder ein. Harlow! Die Pille! Er schreckte schweißgebadet hoch und sah um sich. Niemand zu sehen. Alles war dunkel. Lediglich Umrisse ließen sich erkennen. Er lag in einem Bett, allerdings noch voll bekleidet. Links von ihm stand ein weiteres Bett und noch etwas weiter ein verschlossenes Fenster, das nur an den Rändern der Jalousie ein schwaches Licht in dem Raum warf.
    Das andere Bett! Das musste Sophia sein! Gerade hatte sich seine Atmung wieder normalisiert, da jagte ein neuerlicher Adrenalinschub durch seinen Körper.
    Er warf die Decke von sich und rannte zu Sophia hinüber. Da lag sie. So friedlich, als ob nie irgendwas passiert war. Dennoch musste er sich einfach davon überzeugen, dass sie noch am Leben war. Tatsächlich,sie atmete. Gravez musste lächeln. Sollte er schon so paranoid geworden sein, dass er jeden Augenblück fürchtete, Sophia könnte doch Tod sein?
    Zeit viel darüber nachzudenken bekam er nicht, denn die einzige Zimmertür öffnete sich und ein alter Bekannter deutete Gravez an, herauszutreten. Nach einem letzten Blick und einer leichten Berührungl ließ Gravez Sophia weiterschlafen. Sie würde noch viel zu früh aufwachen und feststellen, dass ihr Haus in die Luft gejagt und sie nur zufällig einem Anschlag entkommen ist.
    Gravez bemühte sich redlich, keinen lauten Ton von sich zu geben, als er aus dem Zimmer schlich. Nicht einmal die Schuhe hatten sie ihm ausgezogen. Nur mit Socken bekleidet wäre es bedeutend einfacher gewesen, sich davonzuschleichen. Nun musste es auch so gehen. Erstaunlicherweise gelang es ihm trotz der relativen Dunkelheit nirgends anzuecken. Nicht ganz so erstaunlich wird es mit der Tatsache, dass der Raum abgesehen von den beiden Betten ansonsten gänzlich leer war.
    Als Gravez die Tür durchschritten hatte, schloß Harlow sie ganz sachte, um nicht schuld daran zu sein, dass Sophia nach all dem Einsatz, den Gravez an den Tag gelegt hat, doch noch aufwachte.
    Gravez hatte sich vorgenommen, sich sofort mit der neuen Umgebung vertaut zu machen, um so viel wie möglich darüber in Erfahrung zu bringen, wo sie sich womöglich aufhielten. Denn nach der Geheimniskrämerei Harlows wäre er enttäuscht gewesen, wenn es sich nicht um einen dieser streng geheimen Stützpunkte handeln würde, deren Existenz von der Regierung vehement dementiert wurde. Pech für ihn, dass da rein gar nichts war. Hinter ihm die Tür zu dem Zimmer, aus dem er kam und vor ihm ein langer, grauer Korridor, der am Ende ihn einen Fahrstuhl endete. Soviel zu seinem Plan, einfach aus dem Fenster zu sehen und zu wissen, wo er sich befand. Neben dem Aufzug war ein Panel, auf dem man wahrscheinlich einen Code eingeben musste, um ihn zu öffnen. Wenigstens war das nach seiner Vorstellung eines geheimen Hauptquartiers.
    Harlow machte gar nicht die Anstalten, sich von der Tür wegzubewegen. Stattdessen lehnte er sich an die Wand und setzte ein besorgtes Gesicht auf. Dann steckte er sich zu Gravez' Verwunderung eine Zigarette an und zog genüsslich einen ersten Zug.
    "Ich dachte, in öffentlichen Gebäuden ist das Rauchen verboten?", fragte Gravez. Harlow entlockte das nur ein Zucken mit den Schultern.
    "Sollen die mich doch rausschmeißen, wenn sie wollen.", lautete die trockene Antwort. "Ich mache diesen ganzen Mist soweiso schon viel zu lange."
    Gravez sah ihn fragend an. Für solche Gedanken sah er nach seinem Verständnis noch viel zu jung aus.
    "Ich weiss, was sie jetzt denken", sagte Harlow. "Aber lassen sie sich nicht von meinem zeitlosen Äußerem nicht täuschen. Ich könnte leicht ihr Vater sein."
    Damit hatte Gravez nicht gerechnet. Sein Vater? Dafür hätte er schon die 50 locker knacken müssen. Es sei denn, er wäre einer dieser Teenie-Väter aus den Nachrichten. Nach normalen Massstäben jedenfalls wären die 50 Jahre sogar noch sehr jung gewesen. Aber je mehr Gravez darüber nachdachte, fielen ihm die einzelnen Anzeichen auf. Kleine Fältchen um die Augen, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Dazu ein leichter Ansatz von grauen Stellen an den unteren Regionen der Haare. Nicht mehr lange und Harlow würde vollends ergraut sein. Außerdem spannte sich sein Hemd ein wenig über seinen Bauchansatz, dass erst sichtbar wurde, nachdem er sich hinten an die Mauer lehnte. Ja, jetzt fiel Gravez auf, dass Harlow viel älter war, als er zuerst angenommen hatte.
    "Kommen sie, gehen wir ein Stück.", sagte Harlow, stieß an der Wand ab und begann, sich Schritt für Schritt in Richtung Fahrstuhl zu begeben. Ein Stück, dachte sich Gravez, oder die ganzen sieben Meter. Beide schwiegen die ganze Zeit und es gab auch keinen einzigen Blickkontakt. Am Ende des Korridors angekommen, gab Harlow auch dementsprechend wortlos einen Zugangscode ein und die Tür öffnete sich. Es war einer dieser Aufzüge, die sich in beide Richtungen öffnen ließen. Harlow drückte auf keinen Knopf, Gravez sah auch überhaupt keine Schalttafel. Scheinbar ging es nur in eine Richtung. Oder jeder Stock hatte seinen eigenen Code. Jedenfalls spürte er, dass die Fahrtnach unten ging. Gravez schätzte es auf vier, vielleicht auch fünf Stockwerke. Aber wenn er schon bei Harlows Alter so weit daneben lag, dann kann es hier ebenfalls der Fall sein. Dann kam der Fahrstuhl zum Stehen, aber die Tür öffnete sich nicht. Gravez wartete ab, ob Harlow etwas unternehmen würde und sah ihn an. Dieser starrte jedoch immer noch geradeaus. Bis er das Schweigen brach.
    "Hören sie, Gravez. Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten." Harlow drehte sich jetzt so, dass er Gravez ins Gesicht sehen konnte, um seinen Wörtern mehr Ausdruck zu verleihen. "Entweder sie gehen zur einen Seite raus, warten eine Weile und ihre Frau wird ihnen folgen. Dort wartet ein Wagen auf sie. Sie nehmen wieder eine der Pillen und wachen im Krankenhaus auf, in das man sie nach der Explosion gebracht hat. Das hier werden sie für einen Traum halten."
    Einen Traum, sicher. Wäre es hier weiß gewesen, anstatt grau und gefliesst, es hätte an ein frisch gesäubertes Schlachthaus erinnert. Wie könnte man so etwas vergessen? Aber wer weiss schon, über welche kranken Pillen Harlow sonst noch Zugang hatte. Wahrscheinlich aus irgendeiner militärischen Versuchsreihe, um Soldaten in hirnlose Zombies zu verwandeln, die jeden Befehl ausführen, ohne ihn zu hinterfragen. Selbst wenn man sie in den sicheren Tod schicken würde, sie würden sie mit Feuereifer mitten ins Gefecht stürzen.
    "Ganz ehrlich, ich würde ihnen zu dieser Entscheidung raten.", riss ihn Harlow wieder aus seinen Gedanken. "Oder aber, sie gehen durch diese Tür hinter ihnen. Ihre Frau bleibt bei uns hier im Gebäude, wo sie sicher ist und sie helfen uns, den Mann zu finden, der ihnen das angetan hat."
    Gravez musste nicht zweimal überlegen. Wenn Sophia sicher war und er die Möglichkeit hat, diesen Dreckskerl zu jagen, wie hätte er dazu nein sagen können. Doch als ob Harlow seine Gedanken lesen konnte, gab er Gravez eine Warnung mit auf den Weg.
    "Was sie hier sehen werden, wird sie bis an ihr Lebensende verfolgen. Sie werden es mit den perversesten Psychopathen zu tun bekommen, die wir vor der Zivilbevölkerung geheimhalten müssen, um eine Panik zu verhindern. Menschen, die zu den schlimmsten Dingen in der Lage sind. Dinge, an die sie noch nicht einmal zu denken gewagt haben. Dinge, die sie ihrem ärgsten Feind nicht antun würden. Sie werden in die tiefsten Abgründe der Seele blicken. Und früher oder später wird der Abgrund in sie sehen. Sind sie bereit für eine Welt voller Tod und Leid? Voller Trauer und Schmerz? Wenn sie diese Welt betreten, gibt es keinen Weg mehr zurück. Jedenfalls nicht lebend oder bei klarem Verstand. Wollen sie sich das wirklich antun? Ich meine, sie haben eine nette Frau und ihr Leben noch vor sich. Gründen sie eine Familie, jagen sie Jugendliche, die im Supermarkt billigen Schnaps mitgehen lassen oder sammeln sie Briefmarken."
    "Nein.", unterbrach ihn Gravez." Ich will es tun. Ich werde ihn jagen und ich werde ihn zur Strecke bringen." In seiner Stimme lag keine Spur von Zweifel oder Verunsicherung. Harlow nickte, denn er wusste er konnte es ihm nicht mehr ausreden. Harlow ging zu einer Seite des Aufzugs und legte seine Hand auf eine Art Handflächenscanner, der für Nichtwissende unsichtbar war. Daraufhin öffnete sich die Tür hinter Gravez.
    "Willkommen in der Hölle, Detective Gravez. Oder von nun an, Agent Gravez."


    ~I. Die Mumie~

    Kapitel 6
    "Die Hölle hätte ich mir anders vorgestellt.", war Gravez' trockener Kommentar zu den Ausführungen Harlows. Was sich da vor ihm offenbarte schien ein ganz gewöhnliches Bürogebäude zu sein, mit Glas abgetrennten Räumen, in denen schätzungsweise ein paar Dutzend Leute ihrer, zugegeben ungewöhnlichen, Arbeit nachgehen. Auch die Grösse war nicht gerade beeindruckend. Alles in allem ein ganz gewöhnliches Stockwerk, in dem genauso gut Versicherungsfälle bearbeitet werden konnten. Wozu also das ganze Aufheben? Ganz normale Leute arbeiten in ganz normalen Büros.
    "Abwarten.", meinte Harlow und konnte sich ein Grinsen nicht verbergen. Er ging einen Schritt voraus und Gravez folgte ihm nach. "Was die tatsächliche Hölle betrifft, die befindet sich ein weiteres Stockwerk unter uns. Die Archive im Keller. Ganze Aktenschränke voller Horrorszenarien." Allein die bloße Erwähnung ließ ihn erschaudern, als er im Geiste noch einmal ein paar der schlimmsten Fälle durchging, an denen er gearbeitet hat,
    Nach ein paar Sekunden blieb Harlow stehen und Gravez wäre beinahe auf ihn geprallt. Harlow öffnete eine Tür zu seiner Linken und betrat das Büro. Darin befand sich ein Schreibtisch, der randvoll mit wild verstreuten Papierbögen verziert war. Gravez konnte erkennen, dass es sich anscheinend um Tatortberichte und Zeugenaussagen handelte. Keine Überraschung, schien der Killer schon des Öfteren zugeschlagen zu haben. Hinter der Schreibtisch befand sich etwas, dass Gravez allerdings so nicht vermutet hatte. Dort saß eine Frau, etwa in seinem Alter, die nach seinem Geschmack etwas zu gut für diesen Job aussah. Rötlich-braunes Haar, schulterlang und offen getragen, grüne Augen und eine strahlend weisse Bluse unter einer dunkelblauen, offenstehenden Weste, kombiniert mit einer figurbetonten Jeans, wie er erkennen konnte, als sie aufstand und ihm ihre Hand reichte.
    "Melanie Favreau, Frankreich.", sagte sie mit einem süßen Lächeln und einem niedlichen Akzent.
    "Frankreich?", fragte Gravez sichtlich verwirrt. Für gewöhnlich gibt andere Behörden oder auch Bundesstaaten an, aber keine Länder. Langsam fragte er sich, wo er hier gelandet war. Harlow versprach ihm Antworten, aber scheinbar alles hier warf nur noch weitere neue Fragen auf. Dennoch besaß er die Manieren, dass er ihre Begrüßung erwiderte.
    "Angel Gravez.", sagte er und fügte noch ein unsicheres "USA, nehme ich an." Melanie kicherte. Es war immer wieder erheiternd, wenn neue Agents so verwirrt und verunsichert waren. Als ob man aufs Neue seinen ersten Schultag hätte und zum ersten Mal ohne seine Eltern in einem befremdlichen Umfeld war.
    "Ich denke, es ist an der Zeit ihnen zu erlären, wer wir hier eigentlich sind.", warf Harlow ein, der das Hände schütteln von der Seite beobachtet hat. "Wir, das bedeutet die Organisation Dark Soul, die sich mit dem Abschaum der Menschheit auseinandersetzt."
    "Ernsthaft?", scherzte Gravez. "Einen noch unkreativeren Namen konnten sie wohl nicht mehr finden, oder?"
    "Der Name war nicht meine Idee.", antwortete Harlow leicht gereizt. "Das kommt dabei heraus, wenn sich fast 200 Nationen auf einen Vorschlag einigen müssen."
    Wieder verstand Gravez nichts. So allmählich bekam er das Gefühl, bei Harlow würde es sich um eine menschliche Rätsel-Maschine handeln. Man bekam zwar Antworten, diese halfen einem aber auch nicht weiter. Deshalb beschloß er, nicht weiter nachzufragen, sondern auf eine freiwillige Erklärung Harlows zu warten, welche nicht lange auf sich warten ließ.
    "Wir sind eine international operierende Einheit, deshalb auch Agent Favreau hier aus Frankreich.", erklärte Harlow und nickte mit dem Kopf in Richtung Melanie, als er ihren Namen erwähnte, während diese bereits wieder in die Akten auf ihrem Schreibtisch vertieft war. "Wir unterstehen nicht dem Verteidigungsminister, wie viele andere Einheiten. Er hat auch keine Kenntnis unsere Bestehens. Wir unterstehen ja nicht einmal dem Präsidenten. Das heisst, nicht nur. Unser Hauptauftraggeber sind die Vereinten Nationen."
    Gravez glaubte, sich verhört zu haben.
    "Die UN?", fragte er ungläubig nach,
    "Die UN.", antwortete ihm Harlow trocken. "Dann setzen sie sich besser hin, es folgt eine kurze Geschichtsstunde."
    Gravez kam dem Vorschlag nach und nahm Platz. Man sah es ihm kaum an, aber er verfolgte Harlows Worten wie gebannt. "Vor ein paar Jahren stimmten eine Vielzahl von Vertretern überein, dass es an der Zeit wäre, eine weltweit operierende Einheit zu gründen, die an keine nationalen Grenzen mehr gebunden sind. Behörden wie das FBI arbeitet zwar mit Interpol zusammen, aber wie wir beide wissen, ist sich dort jeder selbst der Nächste. Keiner will dem Anderen den Erfolg überlassen, was dazu führt, dass Verbrecher, die längst im Gefängnis verrotten sollten, weiter fröhlich ihrem Geschäft nachgehen."
    Harlow wirkte dabei so erzürnt über diese Feststellung, dass er sich eine weitere Zigarette anzünden wollte. Nur dem strengen Blick der kurz von ihrer Arbeit hochschauenden Melanie Favreau war es zu danken, dass er doch das gesetzliche Rauchverbot einhielt.
    "Wie dem auch sei, diese Verbrecher hingegen scheren sich einen Dreck um so Dinge wie Ländergrenzen, Religion oder Hautfarbe. Ihnen geht es einzig und allein um das Foltern und Töten. Sie geilen sich auf am seelischem Leid anderer und leben ihre dunklen Träume aus. Das war unsere Geburtsstunde. Die Oberhäupter der einzelnen Länder der UN allein wissen um unsere Existenz. Die Unterschriften unserer Freunde innerhalb der NATO zu bekommen, war kein Problem. Aber wenigstens haben auch unsere Freunde aus Russland und China zugestimmt, unseren Status anzuerkennen und bieten ihre Zusammenarbeit an. Lediglich Staaten wie der Iran oder Nordkorea haben sich nicht an diesem Projekt beteiligt. Ihr Pech. Trotz aller Zugeständnisse der Geheimhaltung. Geheimhaltung deshalb, um der Bevölkerung nicht erklären zu müssen, was in ihrer Mitte geschehen ist. Wenn die wüssten, dass sich ein Kannibale, der einen besonderen Hunger auf kleine Jungen hatte, erst dreimal in Kanada, dann in Finnland und zu guter Letzt in Malaysia seine Opfer aussuchte, würde die Welt keinrn Fuss mehr vor die Tür setzen.."
    "Was hat das mit diesem Fall zu tun?", fragte Gravez. Geschichtsunterricht schön und gut, aber erst wollte er wissen, wer der Irre ist, der es auf ihn und seine Frau abgesehen hat. Solange dieser Kerl sich da draussen herumtreibt, würde zumindest er nur schwerlich ein Auge zudrücken können.
    "Agent Favreau, würden sie Agent Gravez einen Blick auf die Tatorte werfen lassen?"
    Melanie suchte sofort die Fotos heraus und sortierte sich chronologisch, beginnend mit den ersten Opfern. Gravez stürzte sich sofort darauf und versuchte mit aller Gewalt, etwas erkennen zu können. Doch konnte er den Blick von all den Leichen nur schwerlich abwenden. Sie alle waren auf andere Weise zugerichtet wie an seinem Tatort. Anders, aber nicht minder schrecklich.
    "Das hier waren die von uns zuerst entdeckten Opfer.", erklärte Melanie. "Zwei Tote in Crystal City, Texas, mit herausgerissenen Herzen, von denen weiterhin jede Spur fehlt. Ein weiteres Opfer in Corpus Christi, ebenfalls Texas, das bezeichnenderweise ans Kreuz genagelt und erstochen wurde."
    Zu jedem neuen Schauplatz legte Melanie Gravez die übrigen Fallakten mit Zeugenberichte, aber niemand hat vom eigentlichen Mord etwas gesehen oder gehört. Nur die grausigen Schauplätze blieben übrig.
    "Drei Tote in Juarez, Mexiko. Ihnen hat er den Rücken aufgeschnitten und die Rippen ausgebreitet. Der sogenannte Blutadler der Wikinger. Mit den drei weiteren Opfern in San Diego macht das insgesamt 14. Zu allen hier gehören noch die Anschläge auf die Angehörigen der ermittelnden Beamten."
    "Das ist der Punkt!", schoss es förmlich aus Gravez heraus. Seine Augen weiteten sich vor Verlangen, endlich eine Antwort auf seine Fragen zu bekommen. "Wie schafft er es, so schnell einen Anschlag durchzuführen? Braucht man da nicht eine gewisse Zeit an Vorbereitung und Recherche?"
    "Nicht unbedingt," warf Favreau ein und holte eine der Catrina-Puppen aus einer Schublade ihres Schreibtisches hervor, hielt sie Gravez hin und deutete auf den Kopf. Genauer gesagt, auf die Augen. "Im Kopf steckt eine leistungsstarke Minikamera."
    Gravez nahm Favreau die Catrina ab und musterte sie. Er musste sich sehr anstrengen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Glücklicherweise verfügte diese spezielle Puppe bereits über einen geöffneten Schädel und so konnte er die Kamera im Inneren freilegen. So eine kleine Kamera, die allem Anschein nach ihre Bilder ohne Kabel übertragen musste. Dabei gab es nur wieder ein Problem.
    "Die Kamera befindet sich im Kopf, richtig?", fragte Gravez. "Der Kopf besteht aus purem Zucker, wie ich sehe. Wie schafft er es, die Kamera dort hineinzubekommen? Ich meine, er müsste den Zucker erhitzen, in eine Form geben und die Linse muss genau hinter den Augenlöchern sitzen, um ein Bild zu erhalten."
    "Wir sind uns dieses Umstandes sehr wohl bewusst.", sagte Harlow. Seinem Tonfall nach fühlte er sich ein wenig gekränkt, als würde Gravez ihnen unterstellen, sie würden sich auf der Suche nach dem Täter keine besonders grosse Mühe geben. Genau das Gegenteil entsprach der Wahrheit. Harlow allein hatte sich einige Nächte um die Ohren geschlagen, das gleiche Ergebnis zu erzielen. Einen Kopf aus Zucker, dem eine Kamera innewohnt. Leider ohne Erfolg.
    "Wer auch immer der Hersteller dieser Zuckerköpfe ist, er muss über ein überdurchschnittliches handwerkliches Geschick verfügen.", sagte Favreau, um die angespannte Stimmung zwischen Harlow und Gravez sofort wieder abzukühlen. "Um ein derartiges Ergebnis zu erzielen, muss er entweder sehr geschickt sein oder sich Wochen, Monate oder sogar Jahre damit beschäftigt haben, um eine solche Perfektion zu gewährleisten."
    Gravez hörte sich das alles interessiert an. Also wurde er mit einer Kamera beobachtet. Das erklärte aber immer noch nicht, wie er schnell an seine Adresse kam. Wie aus dem Nichts entfuhr ihm ein schnelles Ausatmen, gepaart mit einem Lächeln.
    "Natürlich.", sagte er und war kurz davor sich mit der flachen Hand an die eigene Stirn zu schlagen. Wie konnte er nur so begriffsstutzig sein. "Er hat sich unserer eigenen Tricks bedient."
    Harlow nickte ihm zustimmend zu. "Gesichterkennungssoftware. Wenn sie irgenwann in ihrem Leben einmal in der Zeitung waren oder Bilder von sich in einem sozialen Netzwerk hochgeladen haben, können sie in Sekundenbruchteilen identifiziert sein."
    "Name, Adresse, Hobbies, Lieblingsgericht und manchmal sogar noch einiges mehr kann man in Windeseile in Erfahrung bringen.", sagte Favreau und setzte ein teilweise besorgtes Gesicht auf. Sie fragte sich, was man wohl über sie alles herausfinden könnte, wenn man sie sich zum Ziel gesetzt hätte.
    "Also handwerklich geschicklicher Technikfreak?", rekapitulierte Gravez die bisherigen Ergebnisse. "Er beobachtet bis jemand in die Catrina blickt, dann sucht er den Namen und die Adresse der Person raus und schickt eine mit Sprengstoff beladene Drohne zu dessen Haus. Da fällt mir ein: woher hat er diese Drohne? Solche Dinger findet man nicht im Supermarkt."
    "Oh, sie haben ja keine Ahnung.", amüsierte sich Harlow über die Naivität von Gravez. "Diese Drohnen sind Marke Eigenbau. In jedem Supermarkt gibt es in der Spielzeugabteilung Bausätze für Flugzeuge. Teilweise schon mit eingebautem Motor."
    "Aber die Bombe. Zumindest die Zutaten dafür muss er doch aus dem Fachhandel haben.", protestierte Gravez. Jedoch verglich.
    "Gehen sie ins Internet und geben sie die Suchbegriffe Bombe und Zutaten ein. In jedem Kuchen steckt genügend Material, um was in die Luft zu jagen." Harlow machte Gravez' ganze Hoffnungen zunichte. Wieder eine Sackgasse. "Selbst wenn er eine fertige Bombe benutzt hätte, geholfen wäre uns damit auch nicht. Geben sie mir zwei Minuten und ich besorge ihnen jede Handfeuerwaffe, die sie sich vorstellen können. Geben sie mir zwei Tage und vor ihrer Tür steht ein beschissener Kampfpanzer. Scheisse, vor einigen Monaten wollte ein Zwei-Sterne-General über Ebay die Restbestände der jetzt ausrangierten Harpoon-Raketen samt Codes verkaufen. Ein Dutzend voll einsatzfähiger Kurzstreckenraketen. Genug um ein komplettes Stadtviertel dem Erdboden gleichzumachen!"
    Gravez wusste nicht, ob er angesichts dieser Geschichte lachen oder weinen sollte. Wie verzweifelt müssen hochrangige Militärs sein, um dem Höchstbietenden eine Waffe auszuhändigen, die in den Falschen Händen verheerenden Schaden anrichten könnte.
    "Zurück zum Fall.", sagte Harlow und wollte die Erinnerungen an diesen Bastard von General sofort wieder verdrängen, bevor er sich gar nicht mehr einkriegt. Sein Arzt wäre auch nicht sehr erfreut über diese Entwicklung gewesen, rät dieser ihm doch ein ums andere Mal, kürzer zu treten und nicht so oft aus der Haut zu fahren. Aber dieser Job war nun einmal nichts für Schwächlinge. Jeden Tag gab es einen neuen Psychopathen, der sich für Gottes Zorn hält oder einfach nur zuviel Spass daran hat, andere zu foltern und zu töten.
    Harlow war schon seit Beginn des Projektes Teil davon. Nicht nur deshalb war er einer der Dienstältesten. Nach jedem verdammten Fall kamen und gingen neue Leute. Alle konnte sie es kaum erwarten, hier anzufangen. Endlich etwas Gutes tun und den Leuten wieder freidvolle Nächte ohne Sorgen zu bescheren. Von wegen. Was sie hier wirklich taten, war ein Phantom nach dem anderen zu jagen. Und wer nicht während der Jagd ums Leben kam, den holte der Wahnsinn. Er wollte Gravez vor dessen Entscheidung keine Angst einjagen, sondern vielmehr die Karten offen auf den Tisch legen. Wer hier anfing, verließ Dark Soul entweder tor oder nicht bei klarem Verstand. Nur wenige Überlebende haben sich wieder auf die Beine gerappelt. Harlow verfolgte die Schicksale der Ehemaligen teilweise. Einigen ging es wieder besser und konnten normale Job bei der Polizei oder woanders annehmen. Andere blieben in der Psychiatrie oder bei den Drogen. Wieder andere begingen Selbstmord. Bei all diesen Schicksalen fragte sich Harlow selbst, wann er soweit sei, den Verstand zu verlieren. Oder sein Leben. Wenn er Glück hatte, fand er den richtigen Zeitpunkt zum Aussteigen. Zumindest hoffte er es. Doch im jetzigen Moment kam er nicht dazu, sich das gründlich zu überlegen, denn sein Handy klingelte. Ein einfacher, altmodischer Klingelton. Keine moderne Melodie, sondern ein Piep-Ton. Er entchuldigte sich kurz, als ihn Gravez und Favreau ansahen und beantwortete den Anruf.
    "Harlow.", sagte er. "Wo?...Verstanden, wir machen uns auf den Weg."
    Dann legte er auf und sah seine beiden Agents an. "Scheint, als gäbe es ein neues Opfer. Ein unbekannter Anruf bei der Polizei. Der Tatort soll...außergewöhnlich sein."


    Kapitel 7
    3. Juli 2012 – Tijuana, Mexiko, 10:28am

    Harlow, Gravez und Favreau kamen gerade am Tatort an, nachdem Harlow vor rund einer Stunde die Nachricht von einer neuen Leiche übermittelt bekam. Die mexikanischen Kollegen waren bereits dabei, den Ort des Verbrechens zu untersuchen.
    "Scheisse.", murmelte Harlow. "Hoffentlich haben die nicht ebenfalls den Fehler gemacht und nach einer Catrina gesucht."
    Er parkte den Wagen am Strassenrand und ein weiterer Van parkte hinter ihnen. Die Jungs darin gehörten auch zu Dark Soul und Gravez dachte immer wenn er sie sah, dass sie das Augenmerk eindeutig auf das Dark legen. Was sie ihn seinen Augen ein wenig lächerlich wirken ließ. Aber solage sie ihre Arbeit machen und ihm bei diesem Fall nicht in die Quere kommen, was eigentlich klar sein sollte, denn immerhin waren sie jetzt beim gleichen Verein, war es ihm herzlich egal, wie sie sich nach außen gaben.
    Harlow ergriff nach dem Austeigen sogleich die Initiative und stürmte wieder einmal ins Haus und brüllte alle an, dass jeder verschwinden sollte, der nicht in seinem Team war. Ein etwas älterer Mexikaner, der nur Dank seines Oberlippenbartes nur noch mit einem Sombrero und einer Flasche Tequila bei einer Siesta unter einem Kaktus mehr Klischees hätte erfüllen können, kam Harlow entgegen.
    "Treiben sie es nicht zu weit, Gringo.", sprach er und man konnte deutlich spüren, dass es ihm nicht gefiel wenn man ihm seinen Tatort und seinen Fall wegnahm. Es hätte aber auch eine allgemeine Abneigung gegen Amerikaner sein können, aber die Entscheidung, Dark Soul den Fall zu übergeben kam von höchster Stelle. Präsident Calderon kümmerte sich persönlich um diese Angelegenheit. Der mexikanische Beamte hier hatte keine Ahnung, was den Präsidenten dieser Fall anging, aber er hatte eine vage Vermutung, die er aber für sich behielt und stattdessen seinen Leuten zurief, dass sie das Haus verlassen sollten. Während er als Letzter hinausging, betrat Gravez gerade das Haus.
    "Sie sind bestimmt Agent Gravez, richtig?", fragte der Polizist.
    "Ja. Kennen wir uns?", fragte ihn Gravez,
    "Nein, aber jemand anderes scheint sie zu kennen." Er zeigte auf die Leiche und verließ ohne ein weiteres Wort zu verlieren den Tatort, aber Gravez' Neugier war geweckt.
    Er sah sich um, um einen groben Eindruck zu gewinnen, doch zu seiner Überraschung, und Erleichterung, war es kein Blutbad wie es beim letzten Mal der Fall war. Es wurde sogar gar kein Blut zu sehen, was ihn sehr verwunderte. Nur eine grosse Truhe, rund einen Meter breit und zwei Meter lang, lag inmitten des Wohnzimmers. Verschlossen und niemand der Polizei hat sie auch nur berührt, denn oben auf der Truhe lag ein Umschlag. Harlow hatte sich diesen bereits angesehen, aber nicht angefasst. Er sah Gravez an, mit einem Gesicht, das Bände sprach. Selbst ihm fehlten die Worte. Gravez trat näher heran und ein Schrecken durchfuhr ihn. Auf der Außenhülle des Umschlages standen nur zwei Wörter: Angel Gravez.
    Alle drei blickten sich wortlos und verunsichert an. Machte sich der Killer einen Spass daraus, ihnen Angst einzujagen? War es nur ein Spiel, dessen Regeln er festlegt?
    Gravez fasste sich ein Herz, zog seine Einmalhandschuhe an, die er an jeden Tatort mitbringt und hob den Umschlag an. Er war nicht einmal zugeklebt. Man sollte ihn öffnen und den Inhalt lesen. Gravez kam diesem Wunsch nach, aber erst nachdem er sich einige Sekunden genehmigte, sich darauf vorzubereiten. Aus anderen, ähnlichen Fällen hat er gelernt und hielt seine frei Hand vor Mund und Nase, für den Fall, dass im Brief ein Pulver oder etwas ähnliches war und für eine Bombe war er zu leicht. Einen Sinn würde es zwar nicht ergeben, ihn hier und jetzt zu vergiften oder in die Luft zu sprengen, denn das Spiel hatte ja gerade erst begonnen, aber man kann nie vorsichtig genug sein, wenn man es mit psychisch Andersartigen zu tun hat.
    Harlow und Favreau sahen gespannt zu, wie Gravez langsam den Brief öffnete. Sie hielten alle zusammen den Atem an. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Gravez' Finger fühlten sich seltsam schwer und träge an. Es bereitete ihm sichtlich Schwierigkeiten, das Blatt auseinanderzufalten.
    So weit, so gut, dachte er sich. Sein Herzschlag beschleunigte sich immens und ihn wunderte, dass die anderen beiden seinen Puls nicht hören konnten. Kein Gemisch kam ihm entgegen, was darauf schließen ließ, dass der Killer es tatsächlich nicht auf sein vorzeitiges Ableben abgesehen hat. Zumindest nicht an diesem Ort und zu dieser Zeit. Der Text des Briefes machte Gravez aber keine grosse Hoffnungen auf ein baldiges und friedliches Ende der Mordserie.

    Hallo, Detective, Verzeihung, Agent Gravez.

    Sie können sich glücklich schätzen. Wussten sie, dass ihre Frau die Erste war, die meinem kleinen Spielzeug entkommen ist? Und das nur durch einen unbedeutenden Zufall. Oder war es Schicksal? An was glauben sie? Existieren Zufälle oder unterliegen wir alle einem kosmischen Plan und nichts was wir tun kann etwas am Ergebnis ändern? Wie wäre es, wenn wir beide es zusammen herausfinden?
    Ich freue mich schon gespannt auf unser Treffen, von Angesicht zu Angesicht, wenn es soweit kommen sollte. Bis dahin, genießen sie das Spiel. Ich für meinen Teil kann es gar nicht abwarten.

    Gezeichnet, ihr grösster Bewunderer


    "Ich denke mal nicht, dass er geschrieben hat, dass er aufhört, oder?", sagte Harlow halb im Scherz. Insgeheim hoffte er natürlich darauf, aber so jemand hört nicht einfach mittendrin auf. Die Serie würde weitergehen, bis er entweder hinter Gitter war oder tot. Harlow war beides Recht, solange man wieder ruhig schlafen kann. Aber der ganze Papierkram, der nach dem Eliminieren eines Täters anfiel, behagte ihm ganz und gar nicht. Auch wenn es ihm Bauchschmerzen bereitete zu wissen, dass ein Geisterkranker bis an sein Lebensende irgendwo drei Mahlzeiten am Tag und Bücher gegen die Langeweile, alles auf Staatskosten wohlgemerkt, bekommt, dann musste er sich des Öfteren fragen, ob er den Bürgern mit dem Erledigen eines Mörders nicht einen Gefallen tut. Außerdem fällt es Personen schwerer, aus dem Grab wieder aufzustehen, als aus dem Gefängnis auszubrechen. Egal, wie gesichert diese sind, immer wieder gelingt einem der Insassen die Flucht. Nur, dass es sich hierbei nicht um Typen handelt, die Zigaretten aus Supermärkten stehlen.
    Gravez' Herzschlag kam langsam wieder zurück in den Normalzustand. Auch das gewohnte Gefühl der Leichtigkeit verspürte er wieder in seinen Fingern. Der Moment des Ungewissen war vorbei. Jetzt war wichtig, sich dem restlichen Tatort zuzuwenden. Was auch immer in der Truhe war, es würde nichts Gutes sein.
    "Lassen sie mich das nehmen.", sagte Favreau und nahm Gravez den Brief ab und verstaute ihn in einer Plastiktüte. Später würde sich jemand im Labor sich ihm annehmen und auf Spuren untersuchen. Nicht, dass sie bisher auch nur einen klitzekleinen Anhaltspunkt erhalten haben. Keinen Fingerabdruck, keine DNS, keine Haare. Als operiere der Täter in einem klinisch sterilen Umfeld. Oder er ist einfach übervorsichtig und penibel. So oder so, es machte den Fall nicht einfacher.
    Gravez und Harlow machten sich auf, die Truhe zu öffnen. Wenn nichts gefährliches im Brief war, dann sollte ihnen hier auch nichts drohen. Beide platzierten sie ihre Hände an allen vier Ecken, je einer stand an der kürzeren Seite. Der Deckel war nicht verschraubt oder auf eine andere Weise verschlossen, sondern wurde nur in eine einfache Halterung auf der Innenseite eingeführt, dass er nicht verrutschen konnte. Erschreckender war, was sich in der Truhe verbarg.
    Darin befand sich ein mumifizierter Leichnam, sauber in Tücher gewickelt. Nur ein leichter Geruch von Verwesung wehte den Agents entgegen, die sogleich ihre Nasen zuhielten und sich abwendeten, bis sich ihr Geruchssinn darauf eingestellt hatte. Das war eine der ersten Sachen, die man Gravez bei der Untersuchung von Morden mit auf den Weg gab. Der Geruchssinn ist der schwächste aller Sinne. Nach einigen Augenblicken hat man sich darauf eingestellt. Egal, wie schlimm der Mord sonst auch war, zumindest den Geruch konnte man schnell wieder vergessen. Der Anblick blieb einem länger im Gedächtnis. Glücklicherweise war dieser hier nicht so schlimm. Zumindest auf den ersten Blick.
    Der Körper war vollkommen einbandagiert, sodass sich nur Umrisse erkennen ließen. Laut Polizei wohnte hier ein alleinstehender Mann im Ruhestand, was durchaus mit der Leiche hier übereinstimmen konnte. Der Körperbau war männlich, die Größe konnte von einem Jugendlichen oder einem älteren Mann stammen. Von einem Kind war aber nie die Rede. Es musste sich um den Hauseigentümer handeln. Aber genaueres würde die spätere Untersuchung der Gerichtsmediziner ergeben. Jetzt hatte Vorrang, dass man die Catrina so schnell wie möglich fand. Glücklicherweise hatten die örtlichen Behörden die Finger von allem gelassen. Die Agents der Dark Soul konnten nun in aller Ruhe das Haus durchsuchen.
    "Favreau, sie koordinieren den Abtransport der Truhe samt des Leichnams.", kommandierte Harlow. Melanie nickte und begib sich nach draussen, um die dort wartenden Agents zu informieren. "Gravez, sie durchsuchen hier alles und dann das Schlafzimmer, ich übernehme Bad und Küche. Wenn sie etwas finden, geben sie mir sofort Bescheid."
    Gravez verstand und war sofort vertieft in seine Arbeit, als er noch aus den Augenwinkeln sah, wie Harlow im Bad verschwand. Er durfte sich jedoch von solchen Dingen nicht ablenken lassen, die Catrina könnte überall verborgen sein. Seinen Fund verdankte er nur der Sonneneinstrahlung. Ein paar Minuten früher oder später und womöglich wäre sie unentdeckt geblieben. Damit wäre zwar ihm eine Menge erspart geblieben, aber dann hätte sie wer anderes gefunden. Und dessen Familie wäre in die Luft gesprengt worden. Sie hätten wahrscheinlich nicht soviel Glück gehabt, wie seine Frau, die ausgerechnet an diesem Tag joggen ging. Was sie ansonsten sonntags nie macht. In ihren Augen gehörte der Sonntag der Familie. Es war ein Tag, an dem man sich entspannen sollte. Was auch bedeutete, solange zu schlafen wie man wollte. Die restliche Woche war schließlich stressig genug. Wenigstens ein Tag sollte einem selbst gehören. Ohne Termine, Stress und Druck.
    Da fiel Gravez auf, dass er sich immer wieder einredete, Sophia hätte Glück gehabt. Das und der Brief des Killers ließ ihm keine Ruhe. Existiert so etwas wie Gück tatsächlich? Seine Familie, allen voran seine Großeltern, waren streng gläubige Leute. Bei ihnen hieß es, Gott würde einem in jeder Lage helfen. Man müsse nur auf ihn vertrauen. Dieser Gedanke gefiel Gravez, dessen Glauben nicht so stark ausgeprägt war. Dass dort immer jemand war, der auf ihn aufpasste. In seinem Beruf verlor er allerdings nach und nach den Glauben an Gottes schützende Hand. Viel zu viele schlimme Dinge hatte er in seinem Leben schon gesehen. Tatorte, an denen er sich jedes Mal aufs Neue zurückerinnerte. Welchen Zweck hatte es, wenn Leute starben? Durch die Hand eines sadistischen Mörders aus dem Leben zu treten. Nein, das konnte nicht im Sinne eines barmherzigen und gerechten Gottes sein. Selbst wenn sie zu Lebzeiten schlechte Menschen waren, so etwas hatten sie nicht verdient. Wenn, so glaubte Gravez, sollte das eher dem Werk des Teufels geschuldet sein. Denn wer an Gott glaubt, der muss auch an dasGegenteil glauben. Den Teufel, die Hölle – Schmerz und Leid bis in alle Ewigkeit.
    Gravez schüttelte seinen Kopf. Die Gedanken rund um den Teufel durften seine Arbeit nicht beeinflussen. Hier war keine höhere Macht oder ein übermenschliches Wesen am Werk. Es war einfach nur ein sehr, sehr kranker Mann.
    Wieder auf seine eigentliche Aufgabe konzentriert blickte Gravez um sich. Wo würde er etwas verstecken? Er ging alle möglichen Orte ab. Suchte in allen Ecken, öffnete Schränke und Schubladen, sah sogar unter den Teppich, da dort eine verdächtige Wölbung zu sehen war. Doch der Teppich warf einfach nur eine Falte, nichts weiter. Gravez fand nichts Verdächtiges. Er fand rein gar nichts. Keine Spuren eines Kampfes, kein gewaltsames Eindringen, keine Catrina.
    Dann fiel sein Blick auf ein Foto, das in einer Nische des grossen Wandschranks stand. Darauf war ein älterer Mann samt Enkeln zu sehen. Womöglich das Opfer. Von Enkeln wusste Gravez allerdings nichts. Es war aber auch nicht so ungewöhnlich, dassjemand Enkelkinder hatte. Seine Frau war vermutlich schon vor einiger Zeit verstorben, denn so sehr er auch suchte, von ihr konnte er hier kein Bild finden.
    Aber es war an der Zeit, das Schlafzimmer genauer unter die Lupe zu nehmen. Allerdings sah er hier auf den ersten Blick auch nichts Ungewöhnliches. Ein Bett, ordentlich gemacht, keine herumliegende Kleidung. Der Tote war scheinbar ein sehr ordentlicher Mann, der anfallende Hausarbeiten sofort in Angriff nahm und gewissenhaft erledigte. Auf dem Nachttisch stand ein weiteres Foto samt Rahmen. Gravez ging davor auf die Knie und nahm das Foto in die Hand. Darauf war derselbe Mann wie im Wohnzimmer abgebildet, allerdings alleine. Trotzdem war ein Lachen auf seinem Gesicht, als ob er sich über irgendetwas freute. Ein sympathischen Lachen, dass es sogar nach dem bloßen Ansehen des Bildes ein Lächeln auf Gravez' Gesicht zauberte. Behutsam stellte er das Bild wieder auf seinen Platz, als am Rand seines Blickfeldes etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Auf dem Kopfkissen lag ein Haar. Ein einzelnes, dunkles Haar. Gravez wunderte sich, denn das passte so gar nicht in das übrige Bild des Hauses. Nirgends war Dreck oder auch nur ein Staubkörnchen zu sehen. Aber hier, mitten auf dem Kissen lag ein Haar. Mittig, als ob es jemand dort platziert hatte. Gravez schoß sofort in den Kopf, dass es eine weitere Nachricht vom Mörder sein konnte. Er nahm einen Plastikbeutel aus seiner Tasche und verstaute gerade das Haar darin, als er Harlow nach ihm rufen hörte.
    "Gravez, kommen sie in die Küche. Das hier sollten sie sich ansehen."


    Kapitel 8
    Gravez machte sich schnellen Schrittes auf in Richtung Küche, von wo aus er Harlow nach ihm rufen hörte. Er durchquerte Schlaf- und Wohnzimmer und stieß vor der Küche angekommen, deren Tür auf. Harlow stand vor dem Kühlschrank und sah Gravez an. Dieser wusste, Harlow hatte etwas gefunden. Etwas, das nichts Gutes verheißen würde. Gravez sollte Recht behalten, denn als er neben Harlow trat und in den offenen Kühlschrank, genauer gesagt, das offene Gefrierfach sah, staunte er nicht schlecht. Dort verstaut und tiefgefroren lagen sämtliche Organe, die ein Mensch für gewöhnlich in seinem Körper mit sich herumträgt.
    "Sind das die Organe, die er dem Opfer entnommen hat?", fragte Gravez, auch wenn die Frage eigentlich überflüssig war. Er wusste grob, wie eine Mumifizierung ablief. Der genaue Vorgang war ihm jedoch nicht geläufig. Aber da würde er zurück ihm Büro schon was im Internet finden.
    "Anzunehmen.", erwiderte Harlow kurz und knapp. Sein Gesicht sprach Bände. Er hasste den Mistkerl, der mordend durch die Welt zog mit jedem weiteren Mord ein klein wenig mehr. Wenn er dachte, sein Hass könnte nicht mehr größer werden, setzt der Calavera-Killer noch einen drauf. Harlow wusste, dass der Mörder kalt und berechnend vorging, aber das hier war ein weiterer morbider Höhepunkt. Zumal das Schlimmste dabei war dass er nicht alles dort verstaut hatte. Das Herz fehlte bei genauerer Betrachtung. Beiden war sofort klar, wohin es verschwunden war. Auch wenn es in der restlichen Wohnung keinen Anhaltspunkt dafür gab, in der Küche befand sich ein Hundenapf. Mit Blutspuren darin. Kopfschüttelnd machte sich Gravez daran, den Napf genauer zu untersuchen. Ob es menschlich war, konnte er nicht genau bestimmen, es war aber anzunehmen.
    "Der Hund ist wohl nach draussen, bevor wir angekommen sind.", sagte Harlow mit Blick auf die Hundeklappe in der Hintertür. "Die anderen Beamten haben bereits keinen Hund mehr im Haus vorgefunden." Sein Gesicht strahlte nicht unbedingt Fröhlichkeit aus, musste er unentwegt daran denken, dass der Mörder dem Hund das Herz seines Besitzers zum Fressen gegeben hat. Eine Ironie, aber eine, die ihn nicht zum Lachen brachte. Er dachte daran, ob der Vierbeiner vielleicht etwas gespürt hatte und deshalb das Haus verließ. Trauer oder Scham darüber, was er getan hat. Andererseits, niemand hatte eine Ahnung, wie lange er schon auf sich gestellt war. Je näher man dem Verhungern ist, desto leichter fällt es einem etwas zu essen. Ganz gleich, was es ist.
    "Das hier ist alles, dass ich gefunden habe.", sagte Harlow mit einem Mix aus Unbehagen, aber auch Erleichterung. "Keine Catrina. Das wäre das erste Mal."
    "Dafür habe ich etwas.", antwortete Gravez und hielt seinem Gegenüber die Tüte mit dem gefundenen Haar hin.
    "Ein Haar?", fragte Harlow ungläubig und zog verwundert eine Augenbraue nach oben.
    "Ja. Der Rest des Zimmers war sauber. Mehr als das. Er war nahezu perfekt. Nur dieses eine Haar lag mitten auf dem Kopfkissen. Man konnte es gar nicht übersehen."
    "Sie meinen, es sollte von uns gefunden werden?"
    "Ich meine es nicht nur, ich bin sogar absolut davon überzeugt.", sagte Gravez. "Warum weiss ich noch nicht. Aber nach dem Brief will er uns noch etwas mitteilen. Ob es uns gefällt oder nicht, wir stecken mittendrin in seinem kranken Spiel."
    "Dann sehen wir zu, dass wir ihn nicht gewinnen lassen." Harlow klopfte Gravez auf die Schulter, als ob er ihm damit sagen wollte, er hätte seine Sachegut gemacht. "Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen. Es scheint keine Catrina hier zu sein. Die Spurensicherung soll den Rest übernehmen und uns mitteilen, wenn sie was von Belang gefunden haben. Wir konzentrieren uns inzwischen auf ihren Fund."
    Harlow und Gravez verließen zusammen das Haus und deuteten im Vorgarten den anderen an, dass das Haus sauber sei und keine Gefahr mehr darstelle. Sofort machte sich der restliche Trupp an die Arbeit. Die Agents Harlow und Gravez setzten sich in ihren Wagen und machten sich auf die einstündige Heimfahrt.

    Während der gesamten Fahrt waren beide in ihre eigenen Gedanken versunken. Harlow fuhr auf Autopilot, immer daran denkend, wo Calavera als nächstes Zuschlagen könnte. Bisher gab es kein erkennbares Muster, außer dass alle Morde im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko stattfanden. Doch innerhalb dieses Bereichs schien er vor- und zurückzuspringen. Ohne erkennbares Muster. Vielleicht gaben die Orte nur für den Täter einen tieferen Sinn. Wenn es so war, konnte niemand voraussagen, welche Stadt als Nächstes von ihm heimgesucht werden würde. Nicht einmal, welches Land. Doch ganz gleich, wo er zuschlagen würde, es musste ihnen schnell gelingen, sich ein einen Reim auf die Morde zu machen. Harlow wollte nicht noch mehr Opfer als unbedingt nötig. Irgendwie musste es doch zu verhindern sein. Er schwor sich, alles dafür zu tun, diesen Schweinehund aus dem Verkehr zu ziehen. Ihn zur Rechenschaft ziehen, für alles, was er den Hinterbliebenen angetan hat. Eigentlich wünschte er sich für diesen Mistkerl die Todesstrafe, doch selbst das wäre in seinen Augen ein zu mildes Urteil. Am Liebsten hätte Harlow ihn Leiden sehen. Ein langsamer, qualvoller Tod. Doch diese Gedanken machten ihm Angst. Wer er beginnen würde, so zu denken, könnte er dann einfach wieder damit aufhören? Nein, er war besser als Calavera. Ein besserer Mensch. Doch war er das tatsächlich? Immer wieder hielt er sich vor Augen, was er mit dem Mörder anstellen würde, wen er ihn finden sollte. Keiner dieser Gedanken sollte besser öffentlich werden. Seine ganze Karriere wäre mit einem Schlag vorbei. Harlow fragte sich ständig, ob er die Kontrolle über seine Gefühle behalten könne, wenn er Calavera gegenüber stehen würde.
    Gravez hingegen hing wie fasziniert an der Tüte mit dem Haar darin. Er fragte sich andauernd, von wem es war. Vielleicht stammte es sogar bloß vom Hund, der nicht mehr anwesend war. Aber es befand sich so arrangiert vor. Auf einem Silbertablett serviert. War es ein Hinweis oder erlaubte man sich einen Scherz mit ihnen? Möglicherweise sitzt Calavera jetzt, in genau diesem Moment gemütlich bei sich zu Hause und grinst sich eins ins Fäustchen. Es war sein Spiel und er bestimmte die Regeln. Gravez gefiel es gar nicht, nur ein Spielball in einem wortwörtlich mörderischen Spiel zu sein. Eine Schachfigur, die jemand beliebig auf einem riesigen Brett führte. Wann immer man auch denkt, man hätte gewonnen, macht der Mann im Hintergrund einen weiteren Zug und entzieht sich dem Ende. Mehr noch, er bringt sich selbst in eine bessere Position und der Bauer, der er war, wäre wieder einmal völlig nutzlos. Dieses Gefühl er Hilflosigkeit hat Gravez wieder mit einem alten Laster beginnen lassen, mit dem er eigentlich vor über 20 Jahren aufgehört hatte. Er fing wieder an, an seinen Fingernägel zu kauen. Langsam, Stück für Stück biss er einen kleinen Teil ab und verschluckte ihn. Ja, dieser Fall ließ ihn zurück in seine Kindheit versetzen. Als Kind wäre er dem Serientäter genauso schutzlos ausgesetzt gewesen. Ohne die geringste Chance, etwas dagegen zu unternehmen.
    Der Klang von Harlows inzwischen vertrauten Klingelton riss beide jäh zurück ins Hier und Jetzt. Harlow zuckte erschrocken zusammen, als das Handy in seiner Tasche zu vibrieren begann. Ungeachtet der Verkehrsvorschriften nahm er den Anruf an. Freisprecheinrichtungen waren für ihn zu modern. Ein Wunder, dass er überhaupt ein Mobiltelefon besaß.
    "Harlow.", war seine kurze und knappe Antwort. Seine Miene wurde noch ungemütlicher mit jeder Sekunde, die der Anruf dauerte. Die einzigen Wörter, die er während des Gespräches von sich gab waren "Ja." und "Verstanden." Den Abschluss bildete keine der üblichen Floskeln, sondern ein leises Grummeln. Sichtlich angefressen steckte er das Telefon wieder ein.
    "Schlechte Neuigkeiten?", fragte Gravez, dem das mürrische Gesicht Harlows nicht entging.
    "Ziemlich schlechte.", lautete Harlows Antwort. "Es scheint der mexikanische Präsident wurde bereits von unserem Fund in Kenntnis gesetzt und hat unseren Präsidenten angerufen. Er soll sehr besorgt sein über die neuesten Entwicklungen. Natürlich kann sich unser Präsident dem nicht einfach verschließen. Mir wurde mitgeteilt, dass wir nach unserer Rückkehr unverzüglich per Videoschaltung Bericht zu erstatten hätten."
    "Dem Präsidenten?" Gravez war erstaunt, der Fall schien weite Kreise zu ziehen. Aber immerhin scherte es den Täter nicht, ob seine Opfer Amerikaner oder Mexikaner waren. Verständlich, dass man daher besorgt um sein eigenes Volk ist.
    "Dem Präsidenten.", wiederholte Harlow. "Ich sagte doch, er ist der einzige Volksvertreter, der von uns weiß. Abgesehen von unseren eigenen Agents selbstverständlich. Aber dass er einen Bericht von uns haben will, gefällt mir ganz und gar nicht. Ich mag es nicht, wenn sich Politiker in unsere Arbeit einmischen. Jeder von denen will sich nur selbst im besten Licht dastehen lassen. Wenn etwas schiefläuft oder nicht perfekt ist, lassen sie das am unteren Ende der Nahrungskette aus. Und das sind wir."
    Es sollte nur noch eine weitere halbe Stunde dauern, bis sie zurück am Stützpunkt ankamen. Währenddessen starrte ein Mann am anderen Ende des Landes ungeduldig auf seine teure Uhr.


    Kapitel 9
    "Meine Herren, ich glaube, wir alle wissen um die Bedrohlichkeit dieser Situation.", eröffnete der Präsident die Videokonferenz. Sein Gesicht stand voller Sorge um die Sicherheit seiner Bürger. Er saß an seinem Schreibtisch, links und rechts die amerikanische Flagge. Er benutzte ganz offensichtlich die Webcam seines Laptops, wie man anhand der Bildqualität und den Verzögerungen bei der Übertragung ganz leicht feststellen konnte. Er wollte keinen öffentlichen Kanal benutzen, damit niemand Fragen stellte. Gravez wusste nicht ganz warum, immerhin ist er der Präsident und was immer er auch für Unterhaltungen führt, sei ganz allein seine Sache. Als Antwort erhielt er, dass die Politik nicht so einfach sei, wie man es sich vorstellt. Überall würden die Leute leuern und auf Schwächen warten, um selbst in der Hierarchie nach oben zu klettern. Die Webcam sei um einiges sicherer als der offizielle Videokanal, auch wenn dieser als abhörsicher bezeichnet wird. Zumindest für Außenstehende gäbe es keine Chance zum Mithören. Für die Mitarbeiter der Regierung jedoch, so würden diese umso genauer zuhören.
    "Dieser Killer – Calavera, wie er bezeichnet wird – läuft also immer noch frei herum und es gibt keine heisse Spur?"
    Harlow musste sich bemühen, nicht beschämt rot anzulaufen und auf den Boden zu blicken. Er konnte schlecht sagen, dass man aktuell keine Möglichkeit hat, weitere Morde zu verhindern. Zu seinem Glück verstand der Präsident, dass es sich hierbei nicht um einen gewöhnlichen Täter handelt.
    "Mr. President", sagte Gravez mit dem Versuch, die Organisation Dark Soul nicht in einem ganz so schlechten Licht dazustehen zu lassen, "ich bin mir nicht zu einhundert Prozent sicher, aber ich vermute, dass er uns einen Hinweis hinterlassen hat."
    "Einen Hinweis?", wiederholte der Präsident, nicht gänzlich unüberrascht. Viele Sereinmörder hinterlassen öfter mal einen Gegenstand. So auch die Catrinas von Calavera.
    "Es handelt sich dabei um ein einzelnes Haar. So platziert, dass wir es auf jeden Fall finden würden."
    "Ein Haar? Keine Puppe?" Der Präsident schien über alles informiert zu sein. Kein Wunder angesichts all des Geldes, dass er an den offiziellen Ausgaben vorbeischmuggeln musste, um dieses Black Project, wie es die Medien gerne nennen zu finanzieren. Ihm sollte es nur recht sein, wenn der Rest denken würde, man benögtige das Geld um in Area 51 eine fliegende Untertasse nachzubauen. Alles war besser als der Öffentlichkeit zu erklären, dass es Menschen gibt, die sich über alle gängigen Moralvorstellungen hinwegsetzen und an Grausamkeit kaum zu überbieten sind. Dann doch lieber der freundliche Alien vom Mars.
    "Es befindet sich bereits im Labor. Mit ewas Glück wissen wir bald, wem es gehört. Nach dem ersten Blick konnten wir bereits verifizieren, dass es sich definitiv um ein menschliches Haar handelt." Harlow griff nach dem Strohhalm, dem Gravez ihm zugeworfen hatte. Wenigstens ein Teilerfolg auf der Tätersuche. "Allerdings gibt es immer noch keinen Treffer in den Datenbanken. Das heisst, er war weder vorbestraft, arbeitet bei einer öffentlichen Behörde oder ist verstorben. Letzteres stimmt uns aber positiv."
    "Dann hoffen wir, dass das auch so bleibt. Sie müssen diesen Kerl so schnell wie möglich finden und unschädlich machen. Ich bitte sie darum. Nicht nur als der Präsident der Vereinigten Staaten, sondern auch als Familienvater. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wenn er eines meiner Kinder in die Finger bekommen würde." Auch der mächtigste Mann der Welt hat eine Schwachstelle. Eine nur zu menschliche. Jeder Vater macht sich darüber Gedanken, was mit seinen Kindern ist.
    "Ich verstehe.", ergänzte Harlow kurz und trocken mit einem Nicken. "Freie Hand genehmigt?"
    "Freie Hand genehmigt.", wiederholte der Präsident. Der Einzige, der nicht verstand, um was es ging, war Gravez, der fragend zu Harlow hinüberblickte. Dieser musste nicht erst zu Gravez sehen um zu erraten, dass er es ihm erklären musste.
    "Freie Hand bedeutet, dass uns alle Möglichkeiten offen stehen. Telefone abhören, Hausdurchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl und sowas alles."
    "Also erst schiessen, dann fragen?" Gravez gefiel dieser Gedanke ganz und gar nicht. Er fragte sich, wie viele Unschuldige schon bei diser Art der Tätersuche in die Schusslinie geraten sind. Dennoch musste er sich eingestehen, dass sie nicht viel vorzuweisen hatten. Ein Haar. Sonst nichts. Immerhin stand noch im Raum, dass es zufällig dorthin kam. Nach und nach freundete sich Gravez mit dem Gedanken an, freie Hand zu haben. Solange es dazu führt, den Dreckskerl endlichzu erwischen. Immerhin war es nur eine Erweiterung des Patriot Act. Gravez schwor sich dennoch, nicht rücksichtslos nach draussen zu stürmen und auf alles zu schiessen, was sich bewegt.
    "Agent Gravez", sprach ihn der Präsident persönlich an. "Ich kann verstehen, dass es ihnen nicht gefällt. Mir widerstrebt es sich eigentlich auch. Aber zum Wohle aller müssen einige unpopuläre Entscheidungen getroffen werden."
    Unpopuläre Entscheidungen, gesprochen wie ein Politiker durch und durch. Gravez hatte sich nie viel aus Politik gemacht. Versprechen, die nicht gehalten wurden. Bestechungen an der Tagesordnung. Verschwenden von Steuergeldern für sinnlose Aktivitäten. Missmutig dreinblickend verschränkte er die Arme und lehnte sich gleichgültig an die Wand, den Blick vom Monitor abgewandt.
    "Agent Harlow", sagte der Präsident ohne auch nur ein Anzeichen der Kenntnisnahme von Gravez' Verhalten. "Calavera erhält die höchste Priorität. Sie verstehen?"
    "Ich verstehe." Harlow schnaubte kurz. Gravez verstand wieder einmal nicht, wovon geredet wurde. Er gab sich zwar Mühe, nach außen Desinteresse zu demonstrieren, trotzdem lauschte er der Unterhaltung weiter zu.
    "Höchste Priorität?", fragte Gravez, sich wieder sichtlich bemüht, doch weiter seinen Pflichten nachzukommen.
    "Höchste Priorität bedeutet nichts weiter als die Einstufung als dass Calavera ab sofort zu einem sehr exklusiven Kreis gehört.", gab ihm Harlow zu verstehen. "Nur eine handvoll Menschen haben es bisher geschafft, in diese Regionen vorzustoßen. Sie sind, wenn man so will, die Elite der Kriminellen."
    "Also, Staatsfeind #1?"
    "Mehr als das." Harlow legte seine Stirn in Falten, als er zu einem kleinen Exkurs ausholte. "In den letzten hundert Jahren gab es immer wieder Kriminelle, die wie ein Geschwür die Menschheit in Angst und Schrecken versetzte. Dillinger und Capone früher. Dann kam Hitler. Saddam Hussein und Osama bin Laden heute. Diese Namen bleiben auf immer mit ungeheuren Gräueltaten verbunden. Und nun stellen sie sich Menschen vor, die sogar noch diese Liste des Bösen toppen."
    Gravez konnte sich das gar nicht vorstellen. Und er wollte es auch nicht. Seine Atmung ging unmerklich schneller und lauter. Er rang mit sich und seinem Verstand. Wie soll man etwas derart Böses noch überragen? Selbst dem mächtigen Politiker am anderen Ende der Leitung machten diese Überlegungen zu schaffen.
    "Stellen sie sich vor", sagte der Präsident, während er sich nach vorne beugte und seine Finger ineinandergrub. "Wir mussten bereits einige Leute vor der Bevölkerung geheim halten, um eine Panik zu verhindern. Wenn Details ans Tageslicht kämen, wäre dies kein Ort mehr, den man als lebenswert bezeichnen würde. Jeder würde dem anderen misstrauen. Dieses Misstrauen würde schon bald zu Gewalttaten führen. In der Annahme von Notwehr. Bald wäre die gesamte Welt nur noch ein Schlachtfeld. Eine Hölle auf Erden. Im sprichwörtlichen biblischen Sinne."
    Gravez verstand, was der Präsident damit ausdrücken wollte. Im entferntesten Sinne nur eine weitere Art von Deeskalation, wie man es ihm in diversen Seminaren, an denen die Teilnahme Pflicht war, erklärt hatte.
    Unvermittelt klingelte Harlows Handy. Er entschuldigte sich kurz und nahm ab. Nach ein paar Sekunden war das Gespräch, wenn man es denn so nennen will, denn außer seinem Namen sagte Harlow kein einziges Wort, auch schon wieder vorbei.
    "Die Gerichtsmedizin. Sie haben die mumifizierte Leiche untersucht."
    "Dann will ich sie nicht länger aufhalten." sagte der Präsident. "Viel Erfolg bei der Jagd nach diesem Irren. Bleibt nur noch zu hoffen, dass nicht noch ein neuer Tag hereinbricht."
    Ohne ein weiteres Wort oder überhaupt eine Verabschiedung, wurde der Bildschirm wieder schwarz und die Unterhaltung war vorbei. Gravez zog eine Augenbraue hoch.
    "Ein neuer Tag hereinbricht? Wieder ein Code für irgendeine übergeheimen Scheiß?"
    "Nicht direkt. Sagen wir einfach, diese Operation damals verlief nicht nach Plan."


    Kapitel 10
    4. Juli 2012 – Westliches Dark Soul Hauptquartier, Los Angeles

    Obwohl die Sonne in den Sommermonaten hier in Kalifornien bereits weit vor sechs Uhr morgens aufgeht, hat sich Gravez noch im Dunkeln daran gemacht, die Berichte der Untersuchungen durchzugehen. Tatortfotos, Zeugenaussagen und mögliche Verbindungen zwischen den Morde. Fehlanzeige. Keines der Opfer scheint mit den anderen in Verbindung zu stehen, noch existiert ein Muster. Der Mörder springt wahllos zwischen den USA und Mexiko umher, mordet an einer Stelle einen einzelnen alten Mann und anderweitig eine komplette junge Familie auf einmal.
    Gravez konnte sich keinen Reim daraufmachen. Was ist das Motiv? Und warum konnte er jedes Mal scheinbar unbeobachtet und ohne Schaden anzurichten in die Häuser einbrechen? Die Organisation hatte nach den ersten Morden alle Schlüsseldienste in der näheren Umgebung überprüft. Alle hatten ein Alibi oder hatten etwas Auffälliges gesehen. Dann passierten weitere Anschläge und die Suche wurde ausgeweitet, dieses Mal auch auf Personen, die über das nötige Wissen über Drohnen und Sprengstoff verfügten. Wieder ein Reinfall.
    Die plausibelste Erklärung für das alles könnte ein allwissendes Gespenst sein. Gravez rieb sich mit den Handballen die Augen. Wenig Schlaf und kreisende Gedanken um ein scheinbares Phantom. Doch ganz egal wie die Sachlage war, für Gravez stand fest dass der Mörder ein stinknormaler Mensch aus Fleisch und Blut ist. Was sollte es denn sonst sein? An übersinnliche Dinge glaubte er nicht, es erschien ihm alles immer zu absurd.
    Die Tür ging auf und Favreau steckte ihren Kopf in Gravez' noch provisorisch eingerichtetes Büro.
    "Dr. Carter ist gerade damit fertig geworden, unser neuestes Opfer zu untersuchen und meinte, er müsse uns unbedingt etwas mitteilen. Hörte sich an, als ob es dringend wäre."
    "Schon wieder schlechte Nachrichten?"
    "Gab es jemals gute in letzter Zeit?"

    Die Hallen der Gerichtsmedizin schienen überall auf der Welt gleich auszusehen. Nicht nur die gleichen sterilen Fliesen, die gleichen leblosen Körper auf Metalltischen und der gleiche Geruch in der Nase. Nein, selbst die Grundrisse schienen für Gravez wie ein Ei dem anderen zu gleichen. Sogar der gleiche Mediziner wie in San Diego. Dr. Carter begrüsste Gravez so gut wie es ihm möglich war, ohne ihn mit diversen Flüssigkeiten zu beflecken, die man lieber nicht an seiner Alltagskleidung hat. Dennoch war Gravez froh, mit Parker ein bekanntes Gesicht zu sehen.
    "Was gibt es, Doc? Neuigkeiten über unsere Mumie?"
    "Und ob", antwortete Parker mit einem leicht freudg erregten Gesichtsausdruck. Ungewöhnlich, da er für gewöhnlich die Ergebnisse der Autopsie sehr emotionslos überbringt. Gravez hätte alles darauf gewettet, dass es seinem Beruf geschuldet war. Er konnte sich gut vorstellen, dass Parker als junger Arzt frisch von der Uni voller Energie war, bestrebt, die Welt mit jeder vorgenommenen Autopsie ein wenig sicherer zu machen. Die Dutzenden und Hunderten von Leichen, die ihm seitdem untergekommen waren, haben ihn wohl desillusioniert.
    "Sehen sie sich das Opfer an". Parker deutete mit seiner Hand auf einen der Metalltische. Darauf lag das jüngste Opfer von Calavera. Ein älterer Mann, keine besonderen Merkmale. Abgesehen davon, dass ihm jemand die Organe entnommen, das Blut durch Konservierungsmittel ausgetauscht und ihn in einem Sarg zurückgelassen hat.
    "Sorry, Doc, aber ich kann da nichts erkennen. Sie sind der Arzt." Gravez' Blick wanderte über die Leiche, aber für ihn könnte es auch ein altägyptischer Pharao sein.
    "Tut mit Leid, dass vergesse ich des Öfteren." Parker und Gravez grinsten sich gegenseitig an. "Was ihnen auffallen sollte, ist dass es keine Besonderheiten gibt." Gravez fragte sich, worauf Parker hinaus wollte. Im Moment erschloß sich ihm der Sinn nicht ganz. Parker jedoch deutete auf einen Schnitt, der über die ganze Länge des Brustkorbes verläuft.
    "Es war ein einzelner, präzise ausgeführter Schnitt. Sehr linear, keine Kurven. Das Randmuster deutet auf ein Skalpell hin. Kein Anzeichen dafür, das während des Schnittes angehalten wurde. Noch nicht einmal die Geschwindigkeit wurde verändert. Nicht schneller, nicht langsamer. Ein gleichbleibender, nicht verwackelter Schnitt. Selbst erfahrene Mediziner gelingt so etwas äußerst selten. Dazu gehört eine Menge Übung." Es schwang beinahe so etwas wie Bewunderung in Parkers Stimme mit. Gravez wusste, dass dies ausnehmlich des medizinischen Standpunktes galt.
    "Er muss also vorher geübt haben? Oder auch über medizinische Vorkenntnisse verfügen", folgerte Gravez.
    "Anzunehmen", erwiderte Parker zustimmend. "Allerdings hätte er auch mit toten Tieren wie Schweinen üben können. Oder auch nur sein bereits zerlegtes Fleisch zu diesem Zweck aufschneiden müssen. Es gibt viele Wege, Geschicklichkeit zu erlangen. Genauso wie beim nächsten Punkt." Parker klappte die Brust des Mannes auf. Gravez hasste diesen Punkt an Autopsien. Nicht sein Magen bereitete ihm dabei Probleme, sondern die Vorstellung, dass die Opfer in den meisten Fällen Höllenqualen zu durchstehen hatten. Denn nicht alle finden sich auf dem Autopsietisch wieder.
    "Alle Organe wurden ebenso sorgfältig entfernt, wie der oberflächliche Schnitt. Die Ränder genauso sauber wie jeder einzelne Handgriff an ihm. Weit und breit ist nicht die Geringste Unsauberkeit zu erkennen. Doch das ist noch nicht das Alles." Gravez machte sich auf alles gefasst. Er wusste, dass jedes Mal wenn Calavera seine Finger mit im Spiel hatte, es an irgendeiner Stelle noch einen Haken gab.
    "War ja klar", kommentierte Gravez trocken. "Was ist es dieses Mal?"
    "Auf Grund der perfekten Erhaltung der Leiche ist es mir unmöglich, einen genauen Todeszeitpunkt festzustellen. Es könnte vor einer Stunde passiert sein, wie vor einem Jahr."
    "Ich hätte jetzt eigentlich mit etwas gerechnet wie einer Botschaft, eingeritzt in den leeren Raum, wo einmal das Gehirn seinen Platz hatte."
    "Sie sehen immer gleich das Negative, Angel", sagte Parker mit einem deutlich herauszuhörenden süffisanten Unterton.
    "Ist der Erfahrung geschuldet", verteidigte sich Gravez mit einem Schulterzucken.
    "Ich habe nie von etwas Negativen gesagt, das haben sie nur angenommen. Ganz im Gegenteil, es gibt gute Neuigkeiten."
    "Ersnthaft?", fragte Gravez sichtlich überrascht und einem leichten Anflug von Hoffnung, endlich einen Hinweis zu haben.
    "Wer auch immer das getan hat, hat sich bemüht, alles perfekt zu machen. Was er aber anscheinend übersehen hat, ist dieser kleine Freund hier." Er hielt Gravez ein kleines Glasdöschen hin, in dem dieser schon wieder nichts erkennen konnte.
    "Wie ich ihrem fragenden Gesichtsausdruck entnehmen kann, wissen sie nicht, was sie da vor sich haben."
    "Sollte ich?"
    "Keine Ahnung, ich weiss nur, dass sie es in normalen Zustand kennen. Was sie dort sehen, sind die Überreste einer Fliege. Anscheinend ist sie im Sarg gefangen gewesen, als Calavera den Deckel darauf platziert hat."
    "Inwiefern hilft uns das weiter?"
    "Diese Fliege ist seit über einem Jahr tot. Dieser Mann hier war Calaveras erstes Opfer!"


    Über Leser und Kritiken/Reviews freue ich mich immer ;)

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  • Dann will ich mal ein wenig kommentieren.


    Also eine Krimi-FF. Wird dann wohl die zweite FF diesen Genres sein, die ich verfolgen werde (Icedragoon hat ja auch so eine).
    An sich hast du einen sehr schönen Schreibstil, der mich voll überzeugt und es war mir ein großes Vergnügen, dein erstes Kapitel zu lesen.

    Was mich allerdings ab und zu störte, war das Weglassen mancher Wörter in einem Satz, wie zB:

    Sir Guscht of Himself schrieb:

    brummte Angel Gravez, den heissen Becher Kaffee in der Hand.


    Ja, an manchen Stellen klingt so etwas sehr gut, aber bei wiederum anderen Stellen muss man tatsächlich zweimal lesen, bevor man überhaupt den Satz versteht. Es ist mir ein paar Mal in diesem Kapitel aufgefallen. Du magst das wahrscheinlich und ich kann dich verstehen, da ich es auch ab und zu mache, aber wenn es sich dann relativ komisch liest und man sogar den Satz wiederholen muss, ist es sehr ungünstig und sollte einfach aufgebessert werden, sprich, du solltest ein Wort hinzufügen.
    Ab und zu hast du auch einige Wörter aneinander gereiht, was wohl eher ein Flüchtigkeitsfehler, dennoch etwas störend ist, zumal der Rest deines Textes wirklich sehr gut sind.


    Aber das waren nur winzige ''Fehler'', die man nach solch einem Kapitel gerne verzeiht. Ich bin wirklich sehr auf das nächste Kapitel gespannt.
    Mich als Leserin hast du bereits gewonnen :)

    Ziemlicher kurzer Post, aber naja ...

    LG
    Raja
  • Erstmal Danke für die Kritik (und überhaupt das Lesen ;)).

    Ich habe im zweiten Kapitel versucht, nicht mehr ganz so häufig das von dir angesprochene nachgehängte Satzglied (oder wie ich es nennen soll) zu verwenden.
    Die aneinander gereihten Wörter sind meinem Laptop geschuldet. Die Leertaste ist da so träge, dass man da richtig draufkloppen muss. Wenn ich da einmal nur leicht drücke, nimmt es die Leerstelle nicht an. Und manchmal übersieht es leider trotz Durchlesen am Ende wieder, weil man einfach drüberliest. Man weiss ja, was da stehen soll, deshalb fällt es einem nicht sofort auf. Versuche, mich da zu bessern.
  • Sehr schönes Kapitel.
    Gravez findet also eine „La Catrina“. Dass diese zur Ehrung der Toten genommen werden, lässt mich dann vermuten, dass sie eine Art Zeichen des Mörders oder der Mörder ist. Kennt man ja aus manchen Filmen. Da werden Rosen bei den Toten hinterlegt etc. Aber dass man dann ausgerechnet etwas nimmt, um den Toten Ehre zu erweisen... schon komisch. Vielleicht liege ich auch total falsch mit meiner Vermutung :D
    Tja, dann tauchen die „Men in Black“ auf. Meiner Meinung nach hättest du bei der Stelle, wo Agent Easton Harlow sich vorstellte, doch lieber den Namen nicht genannt, denn dann zu sagen, dass man den genannten Namen direkt wieder vergessen solle, ist schon etwas komisch. Wie dem auch sei, ist ja nichts Schlimmes.

    Was ich krass finde ist, dass Gravez' Familie und er selbst womöglich auch, direkt in Gefahr kommen, obwohl er gerade mal den Tatort besichtigt hatte. Lässt wieder Vermutungen anfallen, wie zB, dass sie beobachtet werden, oder so.
    Was dir meiner Meinung nach nicht gelungen ist, ist dieses Hektische, als sie auf dem Weg zum Haus von Gravez war. Die Spannung war irgendwie nicht da... Ich weiß nicht.


    Alles in Allem jedoch ein tolles Kapitel, mit einem schönen Schreibstil.

    Hoffentlich kommentieren hier noch einige, denn deine FF ist es Wert, gelesen und kommentiert zu werden.
    Ich werde sie jedenfalls weiterverfolgen.

    LG
    Raja
  • Direkt zwei Kapitel auf einmal lesen. Du sollltest vielleicht mit dem Posten neuer Kapitel warten und vor allem klar machen, dass du ein neues Kapitel gepostet hast. Einfach deinen letzten Beitrag editieren und als neu markieren, dann wird man auch aufmerksam :D

    Zu den beiden Kapiteln kann ich nur sagen: Wow.

    Wie schon davor ein sehr angenehmer Schreibstil, ohne nennenswerte Fehler.
    Zum Ende des dritten Kapitels dachte auch ich noch, dass Sophia wohl nur eine Illusion sei und dann... lebt sie noch!
    Sehr schön gemacht, eine eher unerwartete Wendung.

    Dann noch diese ominöse Person am Tatort. Wird wohl ein Katz und Maus Spiel...?! Ich bin sehr gespannt und freue mich auf das nächste Kapitel :D

    Viel gibt es eigentlich nicht zu schreiben, wieder eine tolle Leistung!

    LG
    Raja
  • Ach, solange immer jemand anderes vor mir postet, kann ich es ja so machen wie jetzt auch ;) Kapitel 5 ist on.

    EDIT: Mit Kapitel 6 beginnt der nächste grosse Akt.

    EDIT²: Kapitel 7 on. Weitere kommen jetzt nur noch jeden Freitag. Erkältung und vor allem Skyrim haben mich ein wenig zurückgeworfen^^;

    EDIT³: Kapitel 8 on.

    EDIT^4: Nach 80 Stunden Skyrim bleibt nur noch, alle Skills auf 100 zu bringen. Deshalb kann ich endlich Kapitel 9 präsentieren.

    EDIT^5: Nachdem auch Mass Effect 3 erledigt ist, kommt hier Kapitel 10. Hoffentlich schaffe ich noch etwas, bis Diablo 3 kommt^^;

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