» Du jagst, du suchst, du findest. Du versuchst die Leere in deinem Inneren zu füllen, bis der schrille Schrei deiner Seele zu verstummen scheint. Du jagst, du suchst, du findest, bis dir klar wird, dass du selbst zur Beute wirst. «
1499 Anno Maris
Noch dämmerten die Straßen matt in Dunst und Nachttau dahin, als die kleine, gedrungene Gestalt unterwegs war. Flimmernd zeichneten die Fackeln der Straßen eine diesige Allee, während die Stadt sich reckte und streckte und ihr blasses Nachtgewand ablegte. Humpelnd und keuchend beschleunigte die Person ihren Schritt. Der panische Blick fiel rasch zurück und suchte etwas, etwas oder jemanden. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn und auch wenn ihm das kranke Bein einen lähmenden Schmerz durch den Körper jagte, folgte er weiter dem engen Geflecht aus Straßen, bis sich der Abglanz des großen Platzes hinter ihm verlor. Das helle Morgenlicht sickerte von Balkonen und Fensterläden bis knapp über den Boden.
Die Gestalt presste sich gegen die kalten Steinmauern und das Herz pochte ihm gegen die Kehle. War man ihm gefolgt? Seine Hand tastete suchend die porösen Steine ab, bis er endlich das von Zeit und Feuchtigkeit schwarz gewordenen Portal ertastete.
Bläuliches Halbdunkel hüllte alles ein, nachdem die Gestalt sich durch den Eingang geschobenen hatte. Vor Nervosität war ihm mehrere Male der glatte Messingschlüssel durch die schweißnassen Finger gerutscht. Er musste sich erst an die verschlechterten Lichtverhältnisse gewöhnen, sodass die Konturen einer breiten Marmortreppe und eine Galerie mit Fresken voller Engels- und Fabelfiguren gerade eben angedeutet wurden. Hastig setzt er seinen Weg durch einen prächtigen Gang fort und gelangte in einen riesigen, kreisförmigen Saal, wo sich eine regelrechte Kathedrale aus Dunkelheit zu einer von Lichtgraben erfüllten Kuppel öffnete. Feine Staubpartikel schwirrten im hektischen Tanz durch die kleinen Lichtkegel, die vergebens versuchten den Boden mit den Fingerspitzen zu berühren. Ein Gewirr aus Gängen und von Büchern überquellenden Regalen erstreckte sich von der Basis zur Spitze und formte einen Bienenstock aus Tunneln, Treppen, Plattformen und Brücken, die eine gigantische Bibliothek von undurchschaubarer Geometrie erahnen ließen. Der Mann atmete aus, denn sobald er das Gebäude betreten hatte, schien er seine Nervosität und Paranoia wie einen Mantel abgestreift zu haben. Sein Herzschlag normalisierte sich wieder und auch die Schweißperlen waren von seiner wachsgleichen Haut geschwunden.
Stumm lief er durch die großen Hallen. Er kannte sie schon lange, oft hatte er hier Ruhe gefunden. Die Bücher hatten eine sanfte Ausstrahlung, die ihn schon stets beruhigt und an glückliche Tage hatten denken lassen.
Sanft atmete er ein und genoss den Geruch von altem Pergament, dem Leder, das teilweise seit Jahrhunderten die Bücher umschloss und all den anderen Gerüchen, die ihm so lange gefehlt hatten. Während er durch die Gänge strich, fuhr er vorsichtig mit den Händen über all die Blätter, Rollen und Bücher, die bis zur Decke gestapelt vor den Wänden lagerten. Niemand wusste, was hier für Schätze lagen, dessen war er sicher. Für die meisten waren das hier einfach alte Werke, Legenden oder unnütze Schriften. Doch er wusste, was für Schätze hier vergraben lagen – nicht nur weil er selbst viele der Blätter hier beschrieben hatte. Aus diesem Grund lief er immer weiter, er suchte ein ganz bestimmtes Werk.
Er erkannte die Buchrücken und Titel der meisten Bücher, als wären sie seine eigenen Kinder doch kaum einer gönnte er mehr als einen Moment der Aufmerksamkeit, bevor er weiter eilte.
Schließlich – er wusste nicht, wie lange er schon durch die Gänge lief – hatte er gefunden, was er gesucht hatte. Vorsichtig zog er ein einzelnes Blatt aus einem großen Bündel heraus und seufzte so sehnsuchtsvoll, als hätte er eine alte Geliebte nach etlichen Jahren wiedergefunden. Fast liebevoll und mit vorsichtiger Zurückhaltung strichen die runzligen Finger über das streckenweise vergilbte Pergament. Unbewusst formten seine rissigen und blassblauen Lippen die Worte nach, welche er im Stillen las.
„Jedes Mal, wenn ein Buch in andere Hände gelangt, jedes Mal, wenn jemand den Blick über die Seiten gleiten lässt, wächst sein Geist und wird stark“.
Die Stimme lies den Mann herumfahren und als er das Gesicht der Frau mit den stechenden Augen und den schneeweißen Haaren erkannte, hellte sich seine kalkweiße Mine etwas auf.
„Was machst du denn schon hier? Ich dachte ich wäre alleine…“, seufzte der Mann und ließ sich aufhelfen, da es ihm sein Bein nicht gestattete ohne stechende Schmerzen aufzustehen.
„Du solltest wissen, Kalos, dass wir nie allein sind. Nicht seitdem wir die Prophezeiung entschlüsselt haben.“
Die monotone Art mit der die Frau diese Worte aussprach, ließ Kalos das Blut in den Adern gefrieren. Natürlich wusste er, dass sie Recht hatte. Es war eine schleichende Gewissheit gewesen, die sich in seinem Kopf eingenistet hatte, wie eine lauernde Giftnatter. Jederzeit bereit ihr tödliches und lähmendes Gift auszuspucken.
Nach einem Moment der Stille, in dem sie wortlos vorbei an Dutzenden Büchern schritten, die Kalos und die Frau flüsternd in ihre Welt hinter den Buchstaben aus schwarzer Tinte ziehen wollten, ergriff der alte Mann mit belegter Stimme das Wort.
„Wann haben die Fünf dich kontaktiert?“
Die braunen Augen musterten ihn kühl, als hätte er einen Pakt gebrochen. Ein Versprechen, welches sie sich vor vielen Jahren gegeben hatten. Ihre Stimme klang distanziert und kühl, woraus Kalos schloss, dass sie genauso ungern hier zu sein schien, wie er.
„Vor ungefähr vier Tagen erhielt ich den Brief. Du weißt ja, dass sie den Teleschnecken nicht trauen, aus Angst davor, dass sie von der Weltregierung oder Marine abgehört werden.“
„Verstehe“, murmelte Kalos in seinen grauen Bart.
„Haben wir noch Zeit es aufzuhalten, Kalos?“. Die Stimme der Frau war resigniert, als wüsste sie die niederschmetternde Antwort auf ihre Frage bereits.
Kalos sowieso schon faltiges Gesicht konnte die Fassade nicht länger aufrechterhalten, welche auf die Frage hin zusammenbrach wie ein Kartenhaus. Er schluckte schwer und ein Ring aus Blei legte sich um sein Herz. „Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass wir nachdem wir die Formel entschlüsselt haben, alles menschenmögliche unternehmen müssen, um die Welt vor ihm zu schützen!“
Es schien fast so als hätte die Entschlossenheit in Kalos Stimme den Schleier der Unsicherheit in einem Zug weggerissen, denn es rührte sich wieder Leben auf ihren weichen Gesichtszügen.
„Du hast Recht. Die Weltregierung und die Fünf Propheten dürfen nicht in seinen Besitz gelangen.“
Kalos rollte eifrig das Stück Pergament zusammen, welches er zuvor gelesen hatte und ließ es in sein Mantelinneres gleiten. Er warf den Bücherregalen einen letzten sehnsuchtsvollen Blick zu und streichelte seiner Geliebten zärtlich über den Rücken. Danach wandte er sich zum Gehen und stützte sich bei der Frau unter.
„Übrigens Olvia, wie geht es denn deiner Tochter?“
Die Frau hielt so abrupt inne, dass der Mann ins Stolpern geriet. Bei dem reflexartigen Versuch sich auf dem kranken Bein abzustützen, um einen Sturz zu verhindern, ließ der Schmerz ihn leise wimmern.
Doch die Frau konnte nichts mehr erwidern, denn ein Windzug, welcher die Staubpartikel harsch aus ihrem Tanz unter der Kuppel riss, jagte durch die Bibliothek. Mit vor Angst und Gewissheit aufgerissenen Augen starrten sich Kalos und Olvia an. Es war zu spät, denn man hatte sie gefunden...und mit ihnen alles was nötig war, um Horizon zu finden.
Arc I: Der Gefangene im Obersten Stockwerk
Arc II: Mutterinstinkt
Arc III: Für Immer und Ewig
Arc IV: Frühstück bei den Sinclairs
Arc V: Memento Mori
Arc VI: Früchte des Zorns
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