Hallo alle miteinander,
nun, da der FF-Bereich ja wirklich gewaltig am boomen ist, konnte ich es mir nicht verkneifen hier auch wieder etwas künstlerisch tätig zu werden. Zu diesem Zweck habe ich mich mal an etwas Neues gewagt. Diese FF wird - das möchte ich an dieser Stelle schon einmal direkt klar stellen - kein groß angelegtes Projekt sein. Ich werde die Geschichte relativ kompakt erzählen, was aktuell auf knapp 10 Kapitel hinauslaufen wird. Für Langzeitprojekte, wie eben meine mittlerweile stillgelegte FF ("The Prophecy") fehlt mir mittlerweile - schlicht und ergreifend - die Zeit, weil mich meine eigene Fantasy-Geschichte dafür einfach viel zu sehr beansprucht. Kleinere Projekte wie dieses hier könnten in Zukunft aber relativ regelmäßig erfolgen. Das wird sich zeigen, je nach dem was meine Fantasie so alles hergibt
Vorab sei noch mal kurz erwähnt, dass ich keinen regelmäßigen Veröffentlichungsrhythmus anstrebe. Ich werde versuchen so ca. alle zwei Wochen neues Material zu veröffentlichen, kann diesbezüglich aber natürlich nichts versprechen. Insbesondere in diesem Monat dürfte sich das als schwierig gestalten, da ich in den kommenden Wochen mit meinem Umzug beschäftigt sein dürfte.
Wie dem auch sei, hier dann erst mal der Prolog zu Echo der Vergangenheit!
Prolog
Ein Pfeil ruhte in der gespannten Sehne seines Bogens. Die Pfeilspitze lugte über eine Felsklippe hinweg. Eine Felsklippe von vielen, die gemeinsam einen schmalen Pfad, eine Schlucht, formten. Eine gefährliche Route, die von Handelskarawanen stets gemieden wurde.
Zwei Männer - beide von einem dunkelgrünen Mantel umhüllt - standen dort oben, auf der Spitze des Berges. Standen und warteten. Warteten auf den richtigen Moment. Auf den Moment, in dem der Schütze seine Bogensehne einfach loslassen und der Geschichte ihren Lauf lassen würde.
Ein Konvoi stolzierte durch die Schlucht. Acht Pferde, die von gut ausgerüsteten und kämpferisch hervorragend ausgebildeten Soldaten beritten wurden. Und ein weiteres Pferd, das von den Männern und Frauen in stählerner und schimmernder Rüstung abgeschirmt wurde. Dieses wurde von einem Mann mit edlen Gewändern und einer goldenen Krone geführt.
„Er ist da“, stellte der Komplize des Schützens ernüchternd fest.
„Ich weiß.“
Der Schütze wimmelte seinen Gefährten ab, konzentrierte sich ganz auf sein Ziel. Er hatte nur einen Versuch. Nur eine Chance. Er musste fokussiert bleiben, durfte sich von nichts und niemandem ablenken lassen. Er sah hinauf zum Himmel, wo sich die weißen Wolken verzogen und die Sonne ihre wärmenden Strahlen auf ihn werfen konnte. Er blickte hinüber zu den Bäumen und Büschen neben sich, beobachtete genau wie die Blätter und Blüten im Winde tanzten und durch die Lüfte wirbelten. Mit Pfeil und Bogen zu schießen bedurfte einem gewaltigen Maß an Konzentration und Geduld. Alles musste berücksichtigt werden. Die Entfernung und der Winkel zum Ziel, die Wetterbedingungen, die Windstärke. Einfach alles.
Er blickte wieder hinüber zu dem Konvoi, den Pfeil hielt er stets gespannt in der Bogensehne. Vor seinen Augen baute sich ein inneres Fadenkreuz auf, das alle Bedingungen um ihn herum berücksichtigte. Dann ließ er los. Ohne ein Wort zu sagen. Ohne eine Mimik zu verziehen. Der Pfeil sauste durch die Luft, zerschnitt förmlich den Wind. Er drehte sich um, band sich seinen Bogen um seinen Rücken und begab sich gen Wald. Sein Komplize blieb zunächst noch, wollte sicherstellen, dass ihre Mission auch wirklich von Erfolg gekrönt sein würde. Das Zersplittern der Kopfknochen des Königs konnte er jedoch ganz deutlich hören, trotz der großen Entfernung zum Konvoi. Er blickte hinüber, sah wie die Ritter von ihren Pferden abstiegen und zu ihrem König eilten, dessen Blut die Erde längst in einem schimmernden Rot gefärbt hatte. Sein linkes Auge stand weit offen, das Rechte war durch die eingedrungene Pfeilspitze zerstört worden. Er war sofort tot, jede Hilfe kam zu spät. Und der vermummte Mann folgte dem Bogenschützen. Mit einem breiten Lächeln auf seinen Lippen.
Die See war an jenem Tag erstaunlich ruhig. Etwas, was er von der Neuen Welt überhaupt nicht kannte. Die Möwen zwitscherten, flogen im Winde. Kleinere Wellen schlugen immer wieder an das Holz ihrer Schaluppe, während er einige Fische dabei beobachtete, wie sie in einer derartig geordneten Formation hintereinander und nebeneinander schwammen, wie er es eigentlich nur von gut organisierten Armeen kannte. Er legte seine Hand ins Wasser, genoss die kühle Flüssigkeit auf seiner Haut.
„Was geht dir im Kopf herum, Vane?“ fragte ihn sein Komplize, der ihn nun schon eine Weile stillschweigend beobachtet hatte. Doch er antwortete nicht. Sein Blick ruhte weiterhin auf der ruhigen See. Auf seinem eigenen Spiegelbild. Dem vernarbten Gesicht mit langer, schwarzer Mähne, das er selbst nicht mehr wieder erkannte. Wie war es nur dazu gekommen? Wie war er zu dem geworden, der er heute war? Wie war er zu jemandem geworden, der für einen Mann bereitwillig mordete, dem er bisher nur ein einziges Mal begegnet war und über den er so gut wie nichts wusste? Er wusste wie.
Er erinnerte sich noch genau an den Tag, der sein Leben für immer verändert hatte. An den Buster Call von Ohara. An den Befehl seines kommandierenden Offiziers – Vizeadmiral Sakazuki – das Flüchtlingsschiff abzuschießen. An seiner Verweigerung diesen Befehl auszuführen. An seine Inhaftierung. Und an seine Freilassung, veranlasst durch Vizeadmiral Kuzan. Er erinnerte sich an sein kleines Haus. An seinen Garten, an sein Ackerfeld, an die friedvollen Menschen, die dort einfach nur in den Tag hinein lebten und versuchten all das Grauen, das außerhalb ihrer Heimat – Tag für Tag – geschah, zu vergessen. Oder es wenigstens zu verdrängen. Er erinnerte sich an den Tag, an dem plötzlich zwei Männer in dunkelgrünem Mantel vor seiner Haustür standen, ihm sagten, dass sie seine Geschichte kennen würden und nach Männern wie ihm suchten. Nach Männern, die die Schattenseite der Marine, der Weltregierung, kennengelernt haben, denen jedoch Mittel und Wege fehlten, um aus eigener Kraft heraus einen Wandel zum Besseren bewirken zu können. Doch genau das boten sie ihm an. Und er akzeptierte.
Das war der Tag, an dem er sich entschlossen hatte nicht länger untätig dabei zu zusehen, wie die Regierung die Bevölkerung ausbeutet und unterjocht. Das war der Tag, an dem er sich der Revolutionsarmee angeschlossen hatte!
Kapitel 1: Der König ist tot – Lang lebe der König!
Dunkle Wolken verdichteten den Himmel über Thangur, dem Königreich hinter den Blüten. Ein Name, der nicht von irgendwoher kam, da sich die Hauptstadt inmitten eines Waldes befand, wo sämtliche Häuser, selbst der Palast, hoch oben in den Baumkronen errichtet worden waren. In den Baumkronen der Eva-Bäume, die in dieser Hülle und Fülle nur an wenigen Orten zu finden waren. Thangur war einer davon. Die alten Schriften des Landes reichten bis zu 800 Jahre zurück in die Vergangenheit und die einzige Konstante, die die Geschichte gezeigt hatte, ist die Art des Lebens in Thangur.
An jenem Tag blieben sämtliche Türen verschlossen. Niemand war draußen unterwegs. Alle waren Zuhause geblieben. Es regnete. Die Götter weinten. Weinten um den König, der vor drei Tagen skrupellos ermordet wurde. Auf offener Straße.
Inmitten des pompösen Palastes hatten sich viele Aristokraten und Stadtoberhäupte versammelt, um der dort stattfindenden Beisetzung des Königs beizuwohnen. Sie alle waren dort, um ihm, der von ihnen so sehr geschätzt wurde, die letzte Ehre zu erweisen. Ihm, der inmitten des Saals lag. In seinen edlen Gewändern. Mit gereinigten Wunden und zwei Steinen auf den Augen. Seine Hände ruhten auf seinem Bauch. Die Finger ineinander verschränkt.
Sie alle trauerten um ihn. Der Priester war versucht tröstende Worte zu finden. Bei den meisten der Anwesenden hatte seine Rede eine beruhigende Wirkung, nur bei einem nicht. Der junge Prinz konnte seine Tränen, gefüllt mit Schmerz, Trauer und Hass, nicht länger zügeln. Er sprang von seinem Platz auf und stürmte hinaus. Er konnte es einfach nicht mehr länger ertragen.
„Die Mission war erfolgreich. König Ardaer ist tot“, berichtete Vanes Gefährte ihrem leitenden Kommandanten. Dieser saß an seinem Schreibtisch, hatte vor sich einige weitere Berichte liegen, die er an diesem späten Abend noch abzuarbeiten hatte. Vanes Blick lag jedoch mehr auf den Büchern, die im Regel hinter ihm standen. Eines der Bücher dort weckte dabei besonders sein Interesse. Die Teufel von Ohara. Teufel? Vane kam nicht umher sich die Frage zu stellen, wer mit dieser Bezeichnung wohl gemeint war … Denn auch wenn die Regierung die Menschen von Ohara als Teufel proklamierte, so sah er die wahren Teufel doch vielmehr in den Menschen, die bereitwillig ein ganzes Volk ausgelöscht haben. Aus Gründen, die dabei sogar nur der innerste Kreis der Weltregierung bekannt waren. Eine typische Propaganda der Weltregierung, wie er sie in den vergangenen Monaten und Jahren immer wieder erlebt hatte.
Dieses gewaltige Maß an Verleugnung machte ihn einfach nur krank. So krank, dass er für einen kurzen Moment vergaß, dass er sich im Büro seines Kommandanten befand. Er ballte seine rechte Hand zu einer Faust, als er plötzlich die beruhigende Hand seines Gefährten auf seiner linken Schulter spürte.
„Bist du noch bei uns, Vane?“ fragte er ihn.
„Was? Tut mir leid, Jon. Ich war gerade gedanklich woanders“, erwiderte er, während er seine Hand in seiner Hosentasche versteckte.
„Ihr habt da wirklich gute Arbeit geleistet. Dragon wird erleichtert darüber sein zu erfahren, dass unsere Bemühungen um Thangur nun endlich Früchte zu tragen scheinen“, erklärte ihr Kommandant, dessen auffälligstes Merkmal der Widerspruch zwischen jugendhaften Gesichtszügen und grauer Haarpracht war.
„Ihr könnt gehen.“
Er nahm seinen Stift in die Hand, vertiefte sich wieder in die anderen Berichte seiner Leute. Jon verneigte sich vor ihm, war bereit das Büro zu verlassen. Vane jedoch nicht. Es gab da noch etwas, was ihn plagte. Etwas, was er schon lange einmal zur Sprache bringen wollte.
„Kommandant?“
„Ja?“
„Wieso wollten Sie, dass ich König Ardaer töte?“ fragte er, ohne seine Worte vorher genauer abzuwägen. Hastig drehte sich Jon zu Vane um, konnte kaum glauben, was er da zu hören bekommen hatte. Auch ihr Kommandant schenkte ihm einen erneuten Blick. Dabei bemerkte er eine besonders hohe Intensität in den Augen seines Gegenübers. Er wusste sofort, dass dieser nicht locker lassen würde. Dass er äußerst wissbegierig war. Neugieriger, als er es sein sollte. Neugieriger, als letztlich gut für ihn war.
„Weil es Dragon so wollte.“
„Das ist alles? Weil der Revolutionsanführer es so wollte?“ hakte Vane kurzerhand nach.
„Das ist alles.“
Jon zog an dem Ärmel seines Gefährten, wollte ihn zum Gehen bewegen, doch gelang es ihm nicht.
„Ist sonst noch irgendwas?“
„Was bezweckt Dragon damit? Ist ihm überhaupt klar, was für Gefahren er das Volk von Thangur damit ausgesetzt hat? Die Rebellen werden für die Ermordung des Königs vom Prinzen verantwortlich gemacht werden. Damit steht ein Bürgerkrieg kurz bevor. Viele Unschuldige werden dabei sterben … Und das ist ihm völlig egal?“
Da legte der Kommandant seinen Stift weg, erhob sich blitzartig von seinem Platz. In seiner Miene glaubte Vane eine Mischung aus Wut und Nervosität zu erkennen. Die Wut jedoch überwog dabei.
„In seinem Job muss ihm das egal sein! Um eine neue Welt zu erschaffen, muss die alte Welt zuerst zum Einsturz gebracht werden … Schließlich muss ein Fundament auch auf etwas errichtet werden!“, entgegnete er seinem Untergebenen mit erhobener Stimme. Seine Hände zu Fäusten geballt, mit deren Fingerknöchel er sich auf seiner eigenen Tischplatte abstützte.
Vane schwieg nur. Verzog keine einzige Miene, gab keinen Ton mehr von sich. Er tauschte intensive Blicke mit seinem Vorgesetzten aus, bis er sich vor diesem kurz verbeugte, an Jon vorbeiging und das Büro schließlich verließ.
Der Kommandant ließ sich letztlich wieder in seinen Stuhl zurückfallen. Er öffnete eine der zwei Schubladen seines Schreibtisches, holte eine Teleschnecke heraus. Er nahm den Hörer ab, die Person am anderen Ende der Leitung tat es ihm gleich.
„Wir haben ein Problem.“
„Du Blödmann, was hast du dir dabei bloß gedacht?“ fluchte Jon den Bogenschützen an, während er ihn im Schwitzkasten gepackt hielt, aus dem er sich jedoch mühelos zu befreien wusste.
„Och komm schon, sag mir nicht dich hätten diese Dinge nicht auch interessiert“, wies Vane die Empörung seines Kameraden von sich ab.
„Nein, das haben sie nicht. Und soll ich dir auch sagen warum nicht? Weil ich ein guter Soldat bin! Und ein guter Soldat hinterfragt seine Befehle nicht, sondern führt sie aus. Und zwar zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten.“
„Und genau darin liegt das Problem dieser Welt … Jeder will dienen, will seine Pflicht erfüllen und seinen Teil dazu beitragen die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber niemand hinterfragt seine Befehle! Wenn Dragon zu dir kommen und dir sagen würde du sollst einmal quer durch den Calm Belt hin und zurück schwimmen, du würdest es tun! Ich jedoch würde kurz inne halten und ihn fragen wieso ich das tun sollte!“
Kurzes Schweigen trat zwischen ihnen ein. Jon schätzte seinen Gefährten. Mehr als er selbst jemals zugeben würde. Und zwar aus demselben Grund, aus dem er ihn manchmal auch verachtete. Weil er den Mut hat den Mund aufzumachen. Er selbst redete sich stets ein, dass er den Befehlen ihres Kommandanten und des Anführers blind folgte, weil er ein guter Soldat war. Doch das war gelogen. In Wahrheit tat er es, weil er Angst vor den Konsequenzen hatte, sollte er es nicht tun. Er fürchtete sich vor ihnen. Genauso wie er sich einst vor seinen Vorgesetzten innerhalb der Marine gefürchtet hatte.
„Ich brauch erst mal etwas frische Luft“, riss Vane ihn aus seinen Gedanken heraus, ehe er zur Tür hinausschritt.
Die Beisetzung von König Ardaer war vorbei. Die dunklen Wolken hatten sich verzogen. Die wärmenden Strahlen des hellen Himmelskörpers ließen die Wassertropfen, die sich auf Ästen und Blättern angesammelt hatten, trocknen. Doch die Aristokraten hatten den Palast noch immer nicht verlassen. Denn der Tod des alten Königs hatte auch immer die Ernennung des neuen Königs zur Folge.
Der junge Prinz, der offenbar gerade erst das Erwachsenenalter erreicht hatte, stand mit dem Rücken zum pompösen Thron. Er trug dieselben, anmutigen Gewänder, wie auch schon sein Vater zuvor. In seiner rechten Hand hielt er ein goldenes Zepter, an deren Spitze sich ein goldenes Blatt befand. Der hohe Priester – derselbe, der auch zuvor die Trauerrede für seinen Vater gehalten hatte – stand direkt neben ihm. Er hielt ein paar inspirierende Worte zu seinen Ehren. Dieselben, die auch schon seinem Vater zuvor, und dessen Vater vor ihm, gewidmet worden waren. Es waren alte Floskeln, die zu der Tradition ihres Landes einfach dazu gehörten. So wie das Schiff zum Wasser gehörte. Der junge Prinz jedoch nahm kaum eines dieser vielen Worte wirklich war. Gedanklich war er die ganze Zeit über nur bei seinem Vater. Seinem verstorbenen Vater. Der Mann, der ihn ganz alleine groß gezogen hatte, nachdem seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war. Der Mann, der immer zu ihm gehalten hatte. Der ihm dabei geholfen hatte seine Jugendliebe für sich zu gewinnen. Der Mann, der ihm ein großes Vorbild und Idol war. Der Mann, der ihm gezeigt hat, was es bedeutet ein gerechter Herrscher zu sein. Der Mann, der für ihn nicht nur Vater, sondern auch bester Freund war. Und der Mann, den man ihm genommen hatte. Er wusste, dass sein Vater nicht wollen würde, dass er sich mit der Vergangenheit plagt. Dass er einen Groll hegen würde. Er würde wollen, dass er noch vorne schauen und einfach nur sein Leben leben würde. Das wusste er. Doch er konnte es nicht. Jede Faser in seinem Körper schrie danach. Schrie nach Vergeltung. Nach Rache. Er wusste, wie gefährlich dieser Durst sein könnte. Dass er ihm nicht nachgeben durfte, es jedoch tun würde. Er würde die Verantwortlichen finden. Den Schützen, den Auftraggeber. Und er würde sie alle töten lassen!
„Der König ist tot, lang lebe der König!“
Das waren die letzten Worte – und auch die Einzigen, die der junge Prinz überhaupt wahrnahm – die aus dem Munde des hohen Priesters kamen. Worte, mit denen ein neues Zeitalter in der Geschichte von Thangur eingeleitet werden sollte.
Er senkte die Krone ab, platzierte diese auf dem Kopf des jungen Thronfolgers. Ein lauter Applaus der Aristokraten widerhallte in dem riesigen und pompösen Thronsaal. Er setzte sich. Das Zepter weiterhin fest umschlungen. Die Euphorie seines Gefolges durchströmte seinen Körper förmlich, sie gab ihm Kraft. Die Kraft das zu tun, was notwendig war.
„Lang lebe der König“, flüsterte er die Ausrufe seiner Untergebenen nach. Mit einem Lächeln auf den Lippen.
Kapitel 2: Ich versteh es nicht
Murmelnde Bäche. Zwitschernde Vögel. In der Luft zirkulierende Blüten. Summende Bienen. Die sanfte Einwirkung der Sonnenstrahlen, deren Intensität durch die dichten Wälder abgeschwächt wurde. An den Bäumen empor kletternde Eichhörnchen. Das liebreizende Aroma der modrigen, nassen Erde und des frischen Holzes, das in der Luft lag. Ein Windhauch brachte seine lange, schwarze Mähne zum Tanzen.
Er liebte das. Diese Ruhe. Nichts genoss er mehr, als die Stille der Natur. Jetzt mehr denn je, denn er wusste, was ihm bevorstand. Er wusste, was er zu tun hatte. Und er wusste, was für Konsequenzen seine ihm nun folgenden Taten nach sich ziehen würden.
Das Zerbrechen eines Astes ließ ihn aufhorchen. Einen kurzen Blick über seine rechte Schulter später wusste er bereits, wer seine Ruhephase egoistisch für beendet erklärt hatte. Eine junge Frau trat aus den grünen Sträuchern hervor. Ihr schulterlanges, braunes Haar verdeckte ihre witzigen, kleinen Ohren, über die er sich früher immer so gerne lustig gemacht hatte. Auffällig war ihre Sonnenbrille, die sie so gut wie nie abnahm. Selbst in geschlossenen Räumen, ja selbst bei Dunkelheit, trug sie diese noch. Immer wieder versuchte er sie davon zu überzeugen ihre Gläser abzunehmen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist, da diese schließlich auch ihre Sehfähigkeit beeinflussten, doch jedes Mal weigerte sie sich. Letztlich hatte er eingesehen, dass dies einfach ein modischer Tick von ihr zu sein schien. Genauso wie die braune Lederjacke, die sie sich über die Schultern gelegt hatte, statt ihre Arme durch die Ärmel zu stecken. Darunter trug sie meist ein enges, weißes Top, das ihre natürlichen Proportionen auf bestem Wege zur Geltung brachte, sowie eine einfache Jeanshose, an deren Gürtel sich zwei Pistolen befanden, während sie über ihren Rücken ein Schwert gebunden hatte. In ihrem rechten Mundwinkel steckte eine Zigarette. Er verabscheute das Rauchen. Er begriff einfach nicht, wieso manche ihre Lunge so gerne mit Rauch füllten. So hatte er auch schon oft versucht der Schwertkämpferin das Rauchen abzugewöhnen, doch vergeblich. Das einzige Mal, dass er sie ohne einen Glimmstängel im Mund gesehen hatte, war bei der Beerdigung von Liara. Ihrer Schwester.
„Lara, was willst du hier?“ kam es schließlich aus Vane heraus, als er seine alte Bekannte erkannt hatte.
„Na was wohl, ich hab nach dir gesucht! Wir waren verabredet, oder hast du das etwa schon wieder vergessen?“
Da fiel es ihm wieder ein. Vor drei Monaten, als sie beide ihre neue Missionen angenommen hatten, hatten sie sich darauf verständigt einander zu suchen, sobald sie beide wieder zurück auf Bartigo waren, um auf ihren jeweiligen Erfolg anzustoßen. Um miteinander Geschichten zu teilen und Gedanken auszutauschen. Vane war an jenem Tag nach Thangur aufgebrochen, um den ansässigen König zu beobachten, seine Routen zu studieren und so den idealen Zeitpunkt zu bestimmen, um ihn zu liquidieren. Und Lara … Nun, er wusste nicht, was für einem Auftrag sie zuletzt nachgegangen war. Seit dem Tod ihrer Schwester hatte sie sich zurückgezogen, ließ niemanden mehr an sich heran. Nicht einmal ihren eigenen Schwager. Egal was er auch versuchte, er schaffte es nicht zu ihr durchzudringen. Sie verriet ihm nicht einmal mehr, was sie am Vortag zu Mittag gegessen hatte, wenn er sie mal danach fragte. Sie vertraute sie niemandem mehr an, war vollkommen in sich gekehrt. Und er verstand es. Schließlich verhielt er sich – lange Zeit nach dem Tod von Liara – genauso, wie ihre Zwillingsschwester. Bis ihm eines Tages bewusst wurde, dass dieses Leben nicht lebenswert war. Dass Liara nie gewollt hätte, dass sie ihren Lebenswillen verlieren würden.
„Stimmt, da war ja was … Tut mir leid, das muss ich irgendwie verdrängt haben.“
Lara seufzte nur missmutig, obwohl sie ihn lange genug kannte, um zu wissen, dass er immer wieder mal Dinge einfach nur verdrängte. Was bei ihm letztlich aber so viel hieß wie, dass er es einfach nur unter Unmengen an Alkohol begraben hatte.
„Was machst du hier, Vane?“ fragte sie ihn schließlich, musterte ihren Schwager, wie er – mit geschlossenen Augen – seine offene Handfläche gegen einen der vielen, nassen Baumstämme presste. Beobachtete, wie er den Herzschlag des Waldes versuchte zu erfühlen. Beobachtete, wie er eins mit der Natur wurde. Und er öffnete seine Augen.
„Sie ist gerne hier gewesen … Liara. Ich komme immer wieder hierher. Versuche zu verstehen, was sie an diesen Bäumen nur so fasziniert hat.“
Er nahm seine Hand von der Holzrinde, verstaute diese in seiner rechten Hosentasche, ehe er sich seinen Bogen griff, der an eben jenem Baum lehnte, sich diesen über seine Schulter warf und den Rückweg aus dem Wald antrat.
„Und?“
Er blieb kurz stehen. Ihre Schultern trafen sanft aufeinander, als er ihr in ihre smaragdgrünen Augen blickte, die selbst die getönten Gläser ihrer Sonnenbrille nicht zu verbergen vermochten. Sein Blick wanderte hinüber zu den üppigen Sträuchern, den stolz emporragenden Bäumen und den vielen Waldtieren, die der Landschaft erst ihr Leben einhauchten. Die Vögel, mit ihrer grazilen Luftakrobatik. Die Fische, die sich von den Wellen der Bäche tragen ließen. Die Eichhörnchen, die an den Baumstämmen empor huschten.
„Nichts und. Ich versteh es nicht.“
Er verließ den Wald. Ohne noch einmal zurückzuschauen. Und Lara folgte ihm.
„Gut so, Sabo. Eins, zwei, eins, zwei, und Ausfall. Eins, zwei, eins, achte auf deine Fußarbeit, zwei und jetzt die Pirouette. Nein, nein, was hab ich gerade zu dir gesagt? Achte auf deine Beinarbeit. Noch mal von vorne. Eins, zwei, eins, zwei, los Kuma, übernimm mal für mich.“
„Natürlich, Dragon.“
Der Mann mit der auffälligen Gesichtstätowierung distanzierte sich ein Stück weit vom hauseigenen Trainingsgelände, auf dem viele, junge Männer und Frauen ihr tägliches Training absolvierten. Sie alle hatten den Wunsch stärker zu werden. Sie alle wollten ihrem Leben einen Sinn geben. Deshalb kamen sie zu ihm. Deshalb kamen sie zur Revolutionsarmee. Junge, Alte. Verheiratete, Geschiedene. Witwen und Witwer. Jeder, der bereit war sein Leben ganz der Revolution, und damit dem Beginn eines neuen Zeitalters, zu widmen, war willkommen. Egal wer er war. Egal wo er herkam. Auf Bartigo hörte ihr altes Leben auf zu existieren. Und ein Neues begann.
Sabo jedoch war anders. Er war nicht dort, weil er sich dieses Leben ausgesucht hatte. Er war nicht zu ihnen bekommen, weil er etwas verändern wollte. Er war dort, weil dieses Leben ihn ausgewählt hatte. Er war dort, weil er einfach nur weg von seinem alten Zuhause wollte. Jener Tag, an dem sie einander im Goa Königreich begegnet waren, veränderte sein Leben. Doch nicht nur seins, sondern auch das von Dragon. Denn seit jenem Tag fühlte er sich für den Jungen, dem er das Leben gerettet und den er bei sich aufgenommen hatte, verantwortlich. Lange Zeit wusste er nicht warum. Immer wieder fragte er sich selbst, aus welchem Grund er ihn anders behandelte, als die anderen Kinder, die sie von der Straße holten und ihnen ein neues Leben boten. Ein Leben mit Ambition. Ein Leben mit Passion. Doch irgendwann wurde ihm klar, dass diese Verbindung, die sie miteinander teilten, einfach weit tiefer ging. Dass sie zurück auf eben jenen Moment ging, als sich ihre Wege zum ersten Mal gekreuzt hatten. Sabo schloss eine elementare Lücke in seinem Leben. Eine Lücke, die sein Sohn, den er nie hatte kennenlernen dürfen, in seinem Herzen einst hinterlassen hatte.
Dragon verließ den Trainingsplatz, nahm auf einer Bank Platz und warf sich ein kleines Handtuch über die Schultern, mit dem er sich die Schweißtropfen von der Stirn tupfte. Er griff zu einer Wasserflasche, öffnete diese und trank sie mit einem Ansetzen bis zur Hälfte leer. Dabei genoss er, wie die kühle Flüssigkeit in seiner bebenden Kehle zirkulierte und eine erfrischende, fast schon lindernde, Wirkung mit sich brachte. Plötzlich vernahm er ein Räuspern, erblickte einen hochgewachsenen Mann mit einem Schwert an seiner Taille und grauem, mittellangem Haar, das im starken Widerspruch zu seinem faltenlosen Gesicht stand.
„Hmm, Riku? Du wolltest mit mir reden, oder?“
Verdutzt und irritiert wanderte der Blick des Grauhaarigen von einem Punkt des offenen Geländes zum Nächsten. Er wusste nicht, wo er hinsehen sollte. Noch nie, seit seiner Rekrutierung vor sechs Jahren, hatte er den Anführer der Revolutionsarmee so gesehen. Verschwitzt und in einem einfachen Jogginganzug gekleidet. Er wagte es kaum ihm in die Augen zu schauen, weil er befürchtete, dass er, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, die Autorität – aufgrund dieses ungewöhnlichen Anblicks – seines Anführers vergessen würde.
„Sir, einer unserer Männer – Vane – stellt Fragen bezüglich unserer Ziele und Methoden. Unerwünschte Fragen. Sein letzter Auftrag scheint an ihm zu nagen.“
„Und damit kommst du jetzt zu mir, weil ...“, entgegnete Dragon seinem kommandierenden Offizier, der damit – auf subtile Art und Weise – die Auffassungsgabe von Riku in Frage stellte.
„Nun ja, weil … Weil er mit seinen Fragen für Probleme sorgen könnte. Sollten … sollten wir nicht versuchen das Ganze zu unterbinden?“, hakte der Schwertkämpfer, plötzlich in Schweiß getränkt und triefend vor Nervosität, stotternd nach, doch Dragon schmunzelte nur kurz. Es schien fast so, als würde er sich an den Unsicherheiten seines Kommandanten ergötzen, wenngleich er sichtbar genervt von dem Grund seines Besuches war.
„Wenn wir jedes Mal den Schlagstock herausholen würden, nur weil ein neuer Rekrut mal ein paar unbequeme Fragen zu seinen Befehlen stellte, dann hätten wir bald niemanden mehr, den wir damit noch verprügeln könnten.“
„Sir?“
Dragon seufzte. Nicht jedoch wegen Riku's offensichtlicher Unfähigkeit seinen Standpunkt zu begreifen, sondern wegen dem, was sich gerade auf dem Trainingsplatz abspielte. Denn schon wieder hatte Sabo seine Beinarbeit vernachlässigt, wodurch er unvorbereitet zu Boden fiel und sich dabei das Knie aufgeschürft hatte. Schlagartig erhob er sich und eilte zu seinem Ziehsohn.
„Lass die Sache einfach auf sich beruhen. Ist nicht das erste Mal, das jemand hinterfragt, was wir eigentlich tun. Das klärt sich von selbst“, rief er dem Grauhaarigen jedoch noch zu, der die Worte seines Anführers zwar wohl wissend aufnahm, seine Ansichten jedoch keineswegs teilte. Dafür war Vane die Sache einfach viel zu ernst, als dass dieser die Sache einfach auf sich ruhen lassen würde.
Und, während Dragon sich um die Wunde von Sabo kümmerte, verließ Riku das Trainingsgelände. Einer seiner Männer hatte außerhalb des Geländes die ganze Zeit über stillschweigend auf ihn gewartet. Ein unauffälliger Mann mit kahl rasiertem Kopf, schwarzem Anzug mit ebenso schwarzer Krawatte und einer dunkel getönten Sonnenbrille auf der Nase.
„Und, werden wir die Sache auf sich beruhen lassen?“, fragte ihn dieser und bewies damit einmal mehr, über was für hervorragend ausgeprägtes Gehör er doch verfügte.
Riku räusperte sich kurz, dachte noch einmal über die Worte von Dragon nach, während er diesem einen flüchtigen Blick zuwarf.
„Der Anführer scheint derzeit nicht in der Lage zu sein, um das bevorstehende Ausmaß dieser Situation zu erkennen. Wir erledigen das auf eigene Faust. Gib deinen Leuten Bescheid. Sie sollen Vane in Gewahrsam nehmen!“
Dunkle Wolken verdichteten den Himmel über dem Königreich in den Bäumen. Der Himmel erzürnte. Er polterte, warf Blitze hinunter. Drei Tage war es nun her, seitdem König Ardaer sein gewaltsames Ende gefunden hatte. Drei lange Tage, die das Land nun schon in Dunkelheit gehüllt war. Denn seit jenem Tag hatten die Götter von Thangur für nicht einmal eine Sekunde geruht. Der Regen rieselte auf die Menschen hinab. Die damit einhergehende Kälte hatte einige Bürger bereits ins Bett verdammt. Eine Grippewelle zog durchs Land, die von einigen Abergläubischen als eine Strafe der Götter angesehen wurde. Eine Strafe für ihr Versagen. Eine Strafe dafür, dass sie ihren König, denjenigen, der ihnen stets Schutz, ein sicheres Leben, beschert hatte, hatten sterben lassen.
„Schwachsinn!“, brüllte ein hervorragend definierter Mann, dessen untere Gesichtshälfte fast vollständig mit Haaren bedeckt war, durch sein großes Zelt, das sich am Rande einer tiefen Klippe befand. Einer Klippe, hinter der das offene Meer, die Neue Welt, lag. Ein Ozean, den er selbst schon einmal bereist hatte. Schmerzhafte Erinnerungen, an die er sich nur ungern erinnerte.
„Eine Strafe der Götter? So was Albernes hab ich schon lange nicht mehr zu hören bekommen! Den Göttern ist doch scheißegal, wie wir unser Leben hier unten verbringen. Niemand von diesen sogenannten Heiligen Priestern stand jemals vor einem unserer Götter! Woher wollen sie also wissen, was die Götter uns sagen wollen?“, setzte er seine Hasstirade, dem Glauben in diesem Land gegenüber, fort.
„Wollt ihr wissen, was ich glaube? Ich glaube, dass wir unser Schicksal selbst bestimmen! Wer auch immer unseren König ermordet hat, wir sollten ihm oder ihr dafür dankbar sein! Denn jetzt sind diese hochnäsigen und selbstgefälligen Aristokraten noch mit ihrer vorgegaukelten Trauer dem Kronprinzen gegenüber beschäftigt, was uns eine einmalige Chance ermöglicht … Die Chance unser Land endlich aus ihren korrupten Klauen zu befreien und diese großartige Nation wieder dem Volk zurückzugeben!“
Männer und Frauen, jeder von ihnen in einem dunkelbraunen Mantel gekleidet, bejubelten seine Ansprache. Sie feierten ihn, seine Einstellung, seine Offenheit und seine Abgeklärtheit, mit der er ihr Land zu retten versuchte. Und es gab niemandem, den sie bei dieser Rebellion mehr als Anführer sehen wollen würden. Weil es niemanden gab, der die Aristokraten besser kannte, als er. Er, der einst als Oberbefehlshaber der königlichen Leibwache tätig war. Er, der diese Rebellion vor gut drei Monaten begründet hatte. Er, der auf den Namen Erthor von Noël hörte!
nun, da der FF-Bereich ja wirklich gewaltig am boomen ist, konnte ich es mir nicht verkneifen hier auch wieder etwas künstlerisch tätig zu werden. Zu diesem Zweck habe ich mich mal an etwas Neues gewagt. Diese FF wird - das möchte ich an dieser Stelle schon einmal direkt klar stellen - kein groß angelegtes Projekt sein. Ich werde die Geschichte relativ kompakt erzählen, was aktuell auf knapp 10 Kapitel hinauslaufen wird. Für Langzeitprojekte, wie eben meine mittlerweile stillgelegte FF ("The Prophecy") fehlt mir mittlerweile - schlicht und ergreifend - die Zeit, weil mich meine eigene Fantasy-Geschichte dafür einfach viel zu sehr beansprucht. Kleinere Projekte wie dieses hier könnten in Zukunft aber relativ regelmäßig erfolgen. Das wird sich zeigen, je nach dem was meine Fantasie so alles hergibt
Vorab sei noch mal kurz erwähnt, dass ich keinen regelmäßigen Veröffentlichungsrhythmus anstrebe. Ich werde versuchen so ca. alle zwei Wochen neues Material zu veröffentlichen, kann diesbezüglich aber natürlich nichts versprechen. Insbesondere in diesem Monat dürfte sich das als schwierig gestalten, da ich in den kommenden Wochen mit meinem Umzug beschäftigt sein dürfte.
Wie dem auch sei, hier dann erst mal der Prolog zu Echo der Vergangenheit!
Ein Pfeil ruhte in der gespannten Sehne seines Bogens. Die Pfeilspitze lugte über eine Felsklippe hinweg. Eine Felsklippe von vielen, die gemeinsam einen schmalen Pfad, eine Schlucht, formten. Eine gefährliche Route, die von Handelskarawanen stets gemieden wurde.
Zwei Männer - beide von einem dunkelgrünen Mantel umhüllt - standen dort oben, auf der Spitze des Berges. Standen und warteten. Warteten auf den richtigen Moment. Auf den Moment, in dem der Schütze seine Bogensehne einfach loslassen und der Geschichte ihren Lauf lassen würde.
Ein Konvoi stolzierte durch die Schlucht. Acht Pferde, die von gut ausgerüsteten und kämpferisch hervorragend ausgebildeten Soldaten beritten wurden. Und ein weiteres Pferd, das von den Männern und Frauen in stählerner und schimmernder Rüstung abgeschirmt wurde. Dieses wurde von einem Mann mit edlen Gewändern und einer goldenen Krone geführt.
„Er ist da“, stellte der Komplize des Schützens ernüchternd fest.
„Ich weiß.“
Der Schütze wimmelte seinen Gefährten ab, konzentrierte sich ganz auf sein Ziel. Er hatte nur einen Versuch. Nur eine Chance. Er musste fokussiert bleiben, durfte sich von nichts und niemandem ablenken lassen. Er sah hinauf zum Himmel, wo sich die weißen Wolken verzogen und die Sonne ihre wärmenden Strahlen auf ihn werfen konnte. Er blickte hinüber zu den Bäumen und Büschen neben sich, beobachtete genau wie die Blätter und Blüten im Winde tanzten und durch die Lüfte wirbelten. Mit Pfeil und Bogen zu schießen bedurfte einem gewaltigen Maß an Konzentration und Geduld. Alles musste berücksichtigt werden. Die Entfernung und der Winkel zum Ziel, die Wetterbedingungen, die Windstärke. Einfach alles.
Er blickte wieder hinüber zu dem Konvoi, den Pfeil hielt er stets gespannt in der Bogensehne. Vor seinen Augen baute sich ein inneres Fadenkreuz auf, das alle Bedingungen um ihn herum berücksichtigte. Dann ließ er los. Ohne ein Wort zu sagen. Ohne eine Mimik zu verziehen. Der Pfeil sauste durch die Luft, zerschnitt förmlich den Wind. Er drehte sich um, band sich seinen Bogen um seinen Rücken und begab sich gen Wald. Sein Komplize blieb zunächst noch, wollte sicherstellen, dass ihre Mission auch wirklich von Erfolg gekrönt sein würde. Das Zersplittern der Kopfknochen des Königs konnte er jedoch ganz deutlich hören, trotz der großen Entfernung zum Konvoi. Er blickte hinüber, sah wie die Ritter von ihren Pferden abstiegen und zu ihrem König eilten, dessen Blut die Erde längst in einem schimmernden Rot gefärbt hatte. Sein linkes Auge stand weit offen, das Rechte war durch die eingedrungene Pfeilspitze zerstört worden. Er war sofort tot, jede Hilfe kam zu spät. Und der vermummte Mann folgte dem Bogenschützen. Mit einem breiten Lächeln auf seinen Lippen.
~Zwei Tage später ~
Die See war an jenem Tag erstaunlich ruhig. Etwas, was er von der Neuen Welt überhaupt nicht kannte. Die Möwen zwitscherten, flogen im Winde. Kleinere Wellen schlugen immer wieder an das Holz ihrer Schaluppe, während er einige Fische dabei beobachtete, wie sie in einer derartig geordneten Formation hintereinander und nebeneinander schwammen, wie er es eigentlich nur von gut organisierten Armeen kannte. Er legte seine Hand ins Wasser, genoss die kühle Flüssigkeit auf seiner Haut.
„Was geht dir im Kopf herum, Vane?“ fragte ihn sein Komplize, der ihn nun schon eine Weile stillschweigend beobachtet hatte. Doch er antwortete nicht. Sein Blick ruhte weiterhin auf der ruhigen See. Auf seinem eigenen Spiegelbild. Dem vernarbten Gesicht mit langer, schwarzer Mähne, das er selbst nicht mehr wieder erkannte. Wie war es nur dazu gekommen? Wie war er zu dem geworden, der er heute war? Wie war er zu jemandem geworden, der für einen Mann bereitwillig mordete, dem er bisher nur ein einziges Mal begegnet war und über den er so gut wie nichts wusste? Er wusste wie.
Er erinnerte sich noch genau an den Tag, der sein Leben für immer verändert hatte. An den Buster Call von Ohara. An den Befehl seines kommandierenden Offiziers – Vizeadmiral Sakazuki – das Flüchtlingsschiff abzuschießen. An seiner Verweigerung diesen Befehl auszuführen. An seine Inhaftierung. Und an seine Freilassung, veranlasst durch Vizeadmiral Kuzan. Er erinnerte sich an sein kleines Haus. An seinen Garten, an sein Ackerfeld, an die friedvollen Menschen, die dort einfach nur in den Tag hinein lebten und versuchten all das Grauen, das außerhalb ihrer Heimat – Tag für Tag – geschah, zu vergessen. Oder es wenigstens zu verdrängen. Er erinnerte sich an den Tag, an dem plötzlich zwei Männer in dunkelgrünem Mantel vor seiner Haustür standen, ihm sagten, dass sie seine Geschichte kennen würden und nach Männern wie ihm suchten. Nach Männern, die die Schattenseite der Marine, der Weltregierung, kennengelernt haben, denen jedoch Mittel und Wege fehlten, um aus eigener Kraft heraus einen Wandel zum Besseren bewirken zu können. Doch genau das boten sie ihm an. Und er akzeptierte.
Das war der Tag, an dem er sich entschlossen hatte nicht länger untätig dabei zu zusehen, wie die Regierung die Bevölkerung ausbeutet und unterjocht. Das war der Tag, an dem er sich der Revolutionsarmee angeschlossen hatte!
~ Am nächsten Tag – In Thangur ~
Dunkle Wolken verdichteten den Himmel über Thangur, dem Königreich hinter den Blüten. Ein Name, der nicht von irgendwoher kam, da sich die Hauptstadt inmitten eines Waldes befand, wo sämtliche Häuser, selbst der Palast, hoch oben in den Baumkronen errichtet worden waren. In den Baumkronen der Eva-Bäume, die in dieser Hülle und Fülle nur an wenigen Orten zu finden waren. Thangur war einer davon. Die alten Schriften des Landes reichten bis zu 800 Jahre zurück in die Vergangenheit und die einzige Konstante, die die Geschichte gezeigt hatte, ist die Art des Lebens in Thangur.
An jenem Tag blieben sämtliche Türen verschlossen. Niemand war draußen unterwegs. Alle waren Zuhause geblieben. Es regnete. Die Götter weinten. Weinten um den König, der vor drei Tagen skrupellos ermordet wurde. Auf offener Straße.
Inmitten des pompösen Palastes hatten sich viele Aristokraten und Stadtoberhäupte versammelt, um der dort stattfindenden Beisetzung des Königs beizuwohnen. Sie alle waren dort, um ihm, der von ihnen so sehr geschätzt wurde, die letzte Ehre zu erweisen. Ihm, der inmitten des Saals lag. In seinen edlen Gewändern. Mit gereinigten Wunden und zwei Steinen auf den Augen. Seine Hände ruhten auf seinem Bauch. Die Finger ineinander verschränkt.
Sie alle trauerten um ihn. Der Priester war versucht tröstende Worte zu finden. Bei den meisten der Anwesenden hatte seine Rede eine beruhigende Wirkung, nur bei einem nicht. Der junge Prinz konnte seine Tränen, gefüllt mit Schmerz, Trauer und Hass, nicht länger zügeln. Er sprang von seinem Platz auf und stürmte hinaus. Er konnte es einfach nicht mehr länger ertragen.
~Bartigo Island ~
„Die Mission war erfolgreich. König Ardaer ist tot“, berichtete Vanes Gefährte ihrem leitenden Kommandanten. Dieser saß an seinem Schreibtisch, hatte vor sich einige weitere Berichte liegen, die er an diesem späten Abend noch abzuarbeiten hatte. Vanes Blick lag jedoch mehr auf den Büchern, die im Regel hinter ihm standen. Eines der Bücher dort weckte dabei besonders sein Interesse. Die Teufel von Ohara. Teufel? Vane kam nicht umher sich die Frage zu stellen, wer mit dieser Bezeichnung wohl gemeint war … Denn auch wenn die Regierung die Menschen von Ohara als Teufel proklamierte, so sah er die wahren Teufel doch vielmehr in den Menschen, die bereitwillig ein ganzes Volk ausgelöscht haben. Aus Gründen, die dabei sogar nur der innerste Kreis der Weltregierung bekannt waren. Eine typische Propaganda der Weltregierung, wie er sie in den vergangenen Monaten und Jahren immer wieder erlebt hatte.
Dieses gewaltige Maß an Verleugnung machte ihn einfach nur krank. So krank, dass er für einen kurzen Moment vergaß, dass er sich im Büro seines Kommandanten befand. Er ballte seine rechte Hand zu einer Faust, als er plötzlich die beruhigende Hand seines Gefährten auf seiner linken Schulter spürte.
„Bist du noch bei uns, Vane?“ fragte er ihn.
„Was? Tut mir leid, Jon. Ich war gerade gedanklich woanders“, erwiderte er, während er seine Hand in seiner Hosentasche versteckte.
„Ihr habt da wirklich gute Arbeit geleistet. Dragon wird erleichtert darüber sein zu erfahren, dass unsere Bemühungen um Thangur nun endlich Früchte zu tragen scheinen“, erklärte ihr Kommandant, dessen auffälligstes Merkmal der Widerspruch zwischen jugendhaften Gesichtszügen und grauer Haarpracht war.
„Ihr könnt gehen.“
Er nahm seinen Stift in die Hand, vertiefte sich wieder in die anderen Berichte seiner Leute. Jon verneigte sich vor ihm, war bereit das Büro zu verlassen. Vane jedoch nicht. Es gab da noch etwas, was ihn plagte. Etwas, was er schon lange einmal zur Sprache bringen wollte.
„Kommandant?“
„Ja?“
„Wieso wollten Sie, dass ich König Ardaer töte?“ fragte er, ohne seine Worte vorher genauer abzuwägen. Hastig drehte sich Jon zu Vane um, konnte kaum glauben, was er da zu hören bekommen hatte. Auch ihr Kommandant schenkte ihm einen erneuten Blick. Dabei bemerkte er eine besonders hohe Intensität in den Augen seines Gegenübers. Er wusste sofort, dass dieser nicht locker lassen würde. Dass er äußerst wissbegierig war. Neugieriger, als er es sein sollte. Neugieriger, als letztlich gut für ihn war.
„Weil es Dragon so wollte.“
„Das ist alles? Weil der Revolutionsanführer es so wollte?“ hakte Vane kurzerhand nach.
„Das ist alles.“
Jon zog an dem Ärmel seines Gefährten, wollte ihn zum Gehen bewegen, doch gelang es ihm nicht.
„Ist sonst noch irgendwas?“
„Was bezweckt Dragon damit? Ist ihm überhaupt klar, was für Gefahren er das Volk von Thangur damit ausgesetzt hat? Die Rebellen werden für die Ermordung des Königs vom Prinzen verantwortlich gemacht werden. Damit steht ein Bürgerkrieg kurz bevor. Viele Unschuldige werden dabei sterben … Und das ist ihm völlig egal?“
Da legte der Kommandant seinen Stift weg, erhob sich blitzartig von seinem Platz. In seiner Miene glaubte Vane eine Mischung aus Wut und Nervosität zu erkennen. Die Wut jedoch überwog dabei.
„In seinem Job muss ihm das egal sein! Um eine neue Welt zu erschaffen, muss die alte Welt zuerst zum Einsturz gebracht werden … Schließlich muss ein Fundament auch auf etwas errichtet werden!“, entgegnete er seinem Untergebenen mit erhobener Stimme. Seine Hände zu Fäusten geballt, mit deren Fingerknöchel er sich auf seiner eigenen Tischplatte abstützte.
Vane schwieg nur. Verzog keine einzige Miene, gab keinen Ton mehr von sich. Er tauschte intensive Blicke mit seinem Vorgesetzten aus, bis er sich vor diesem kurz verbeugte, an Jon vorbeiging und das Büro schließlich verließ.
Der Kommandant ließ sich letztlich wieder in seinen Stuhl zurückfallen. Er öffnete eine der zwei Schubladen seines Schreibtisches, holte eine Teleschnecke heraus. Er nahm den Hörer ab, die Person am anderen Ende der Leitung tat es ihm gleich.
„Wir haben ein Problem.“
~ * ~
„Du Blödmann, was hast du dir dabei bloß gedacht?“ fluchte Jon den Bogenschützen an, während er ihn im Schwitzkasten gepackt hielt, aus dem er sich jedoch mühelos zu befreien wusste.
„Och komm schon, sag mir nicht dich hätten diese Dinge nicht auch interessiert“, wies Vane die Empörung seines Kameraden von sich ab.
„Nein, das haben sie nicht. Und soll ich dir auch sagen warum nicht? Weil ich ein guter Soldat bin! Und ein guter Soldat hinterfragt seine Befehle nicht, sondern führt sie aus. Und zwar zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten.“
„Und genau darin liegt das Problem dieser Welt … Jeder will dienen, will seine Pflicht erfüllen und seinen Teil dazu beitragen die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber niemand hinterfragt seine Befehle! Wenn Dragon zu dir kommen und dir sagen würde du sollst einmal quer durch den Calm Belt hin und zurück schwimmen, du würdest es tun! Ich jedoch würde kurz inne halten und ihn fragen wieso ich das tun sollte!“
Kurzes Schweigen trat zwischen ihnen ein. Jon schätzte seinen Gefährten. Mehr als er selbst jemals zugeben würde. Und zwar aus demselben Grund, aus dem er ihn manchmal auch verachtete. Weil er den Mut hat den Mund aufzumachen. Er selbst redete sich stets ein, dass er den Befehlen ihres Kommandanten und des Anführers blind folgte, weil er ein guter Soldat war. Doch das war gelogen. In Wahrheit tat er es, weil er Angst vor den Konsequenzen hatte, sollte er es nicht tun. Er fürchtete sich vor ihnen. Genauso wie er sich einst vor seinen Vorgesetzten innerhalb der Marine gefürchtet hatte.
„Ich brauch erst mal etwas frische Luft“, riss Vane ihn aus seinen Gedanken heraus, ehe er zur Tür hinausschritt.
~ In Thangur ~
Die Beisetzung von König Ardaer war vorbei. Die dunklen Wolken hatten sich verzogen. Die wärmenden Strahlen des hellen Himmelskörpers ließen die Wassertropfen, die sich auf Ästen und Blättern angesammelt hatten, trocknen. Doch die Aristokraten hatten den Palast noch immer nicht verlassen. Denn der Tod des alten Königs hatte auch immer die Ernennung des neuen Königs zur Folge.
Der junge Prinz, der offenbar gerade erst das Erwachsenenalter erreicht hatte, stand mit dem Rücken zum pompösen Thron. Er trug dieselben, anmutigen Gewänder, wie auch schon sein Vater zuvor. In seiner rechten Hand hielt er ein goldenes Zepter, an deren Spitze sich ein goldenes Blatt befand. Der hohe Priester – derselbe, der auch zuvor die Trauerrede für seinen Vater gehalten hatte – stand direkt neben ihm. Er hielt ein paar inspirierende Worte zu seinen Ehren. Dieselben, die auch schon seinem Vater zuvor, und dessen Vater vor ihm, gewidmet worden waren. Es waren alte Floskeln, die zu der Tradition ihres Landes einfach dazu gehörten. So wie das Schiff zum Wasser gehörte. Der junge Prinz jedoch nahm kaum eines dieser vielen Worte wirklich war. Gedanklich war er die ganze Zeit über nur bei seinem Vater. Seinem verstorbenen Vater. Der Mann, der ihn ganz alleine groß gezogen hatte, nachdem seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war. Der Mann, der immer zu ihm gehalten hatte. Der ihm dabei geholfen hatte seine Jugendliebe für sich zu gewinnen. Der Mann, der ihm ein großes Vorbild und Idol war. Der Mann, der ihm gezeigt hat, was es bedeutet ein gerechter Herrscher zu sein. Der Mann, der für ihn nicht nur Vater, sondern auch bester Freund war. Und der Mann, den man ihm genommen hatte. Er wusste, dass sein Vater nicht wollen würde, dass er sich mit der Vergangenheit plagt. Dass er einen Groll hegen würde. Er würde wollen, dass er noch vorne schauen und einfach nur sein Leben leben würde. Das wusste er. Doch er konnte es nicht. Jede Faser in seinem Körper schrie danach. Schrie nach Vergeltung. Nach Rache. Er wusste, wie gefährlich dieser Durst sein könnte. Dass er ihm nicht nachgeben durfte, es jedoch tun würde. Er würde die Verantwortlichen finden. Den Schützen, den Auftraggeber. Und er würde sie alle töten lassen!
„Der König ist tot, lang lebe der König!“
Das waren die letzten Worte – und auch die Einzigen, die der junge Prinz überhaupt wahrnahm – die aus dem Munde des hohen Priesters kamen. Worte, mit denen ein neues Zeitalter in der Geschichte von Thangur eingeleitet werden sollte.
Er senkte die Krone ab, platzierte diese auf dem Kopf des jungen Thronfolgers. Ein lauter Applaus der Aristokraten widerhallte in dem riesigen und pompösen Thronsaal. Er setzte sich. Das Zepter weiterhin fest umschlungen. Die Euphorie seines Gefolges durchströmte seinen Körper förmlich, sie gab ihm Kraft. Die Kraft das zu tun, was notwendig war.
„Lang lebe der König“, flüsterte er die Ausrufe seiner Untergebenen nach. Mit einem Lächeln auf den Lippen.
Murmelnde Bäche. Zwitschernde Vögel. In der Luft zirkulierende Blüten. Summende Bienen. Die sanfte Einwirkung der Sonnenstrahlen, deren Intensität durch die dichten Wälder abgeschwächt wurde. An den Bäumen empor kletternde Eichhörnchen. Das liebreizende Aroma der modrigen, nassen Erde und des frischen Holzes, das in der Luft lag. Ein Windhauch brachte seine lange, schwarze Mähne zum Tanzen.
Er liebte das. Diese Ruhe. Nichts genoss er mehr, als die Stille der Natur. Jetzt mehr denn je, denn er wusste, was ihm bevorstand. Er wusste, was er zu tun hatte. Und er wusste, was für Konsequenzen seine ihm nun folgenden Taten nach sich ziehen würden.
Das Zerbrechen eines Astes ließ ihn aufhorchen. Einen kurzen Blick über seine rechte Schulter später wusste er bereits, wer seine Ruhephase egoistisch für beendet erklärt hatte. Eine junge Frau trat aus den grünen Sträuchern hervor. Ihr schulterlanges, braunes Haar verdeckte ihre witzigen, kleinen Ohren, über die er sich früher immer so gerne lustig gemacht hatte. Auffällig war ihre Sonnenbrille, die sie so gut wie nie abnahm. Selbst in geschlossenen Räumen, ja selbst bei Dunkelheit, trug sie diese noch. Immer wieder versuchte er sie davon zu überzeugen ihre Gläser abzunehmen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist, da diese schließlich auch ihre Sehfähigkeit beeinflussten, doch jedes Mal weigerte sie sich. Letztlich hatte er eingesehen, dass dies einfach ein modischer Tick von ihr zu sein schien. Genauso wie die braune Lederjacke, die sie sich über die Schultern gelegt hatte, statt ihre Arme durch die Ärmel zu stecken. Darunter trug sie meist ein enges, weißes Top, das ihre natürlichen Proportionen auf bestem Wege zur Geltung brachte, sowie eine einfache Jeanshose, an deren Gürtel sich zwei Pistolen befanden, während sie über ihren Rücken ein Schwert gebunden hatte. In ihrem rechten Mundwinkel steckte eine Zigarette. Er verabscheute das Rauchen. Er begriff einfach nicht, wieso manche ihre Lunge so gerne mit Rauch füllten. So hatte er auch schon oft versucht der Schwertkämpferin das Rauchen abzugewöhnen, doch vergeblich. Das einzige Mal, dass er sie ohne einen Glimmstängel im Mund gesehen hatte, war bei der Beerdigung von Liara. Ihrer Schwester.
„Lara, was willst du hier?“ kam es schließlich aus Vane heraus, als er seine alte Bekannte erkannt hatte.
„Na was wohl, ich hab nach dir gesucht! Wir waren verabredet, oder hast du das etwa schon wieder vergessen?“
Da fiel es ihm wieder ein. Vor drei Monaten, als sie beide ihre neue Missionen angenommen hatten, hatten sie sich darauf verständigt einander zu suchen, sobald sie beide wieder zurück auf Bartigo waren, um auf ihren jeweiligen Erfolg anzustoßen. Um miteinander Geschichten zu teilen und Gedanken auszutauschen. Vane war an jenem Tag nach Thangur aufgebrochen, um den ansässigen König zu beobachten, seine Routen zu studieren und so den idealen Zeitpunkt zu bestimmen, um ihn zu liquidieren. Und Lara … Nun, er wusste nicht, was für einem Auftrag sie zuletzt nachgegangen war. Seit dem Tod ihrer Schwester hatte sie sich zurückgezogen, ließ niemanden mehr an sich heran. Nicht einmal ihren eigenen Schwager. Egal was er auch versuchte, er schaffte es nicht zu ihr durchzudringen. Sie verriet ihm nicht einmal mehr, was sie am Vortag zu Mittag gegessen hatte, wenn er sie mal danach fragte. Sie vertraute sie niemandem mehr an, war vollkommen in sich gekehrt. Und er verstand es. Schließlich verhielt er sich – lange Zeit nach dem Tod von Liara – genauso, wie ihre Zwillingsschwester. Bis ihm eines Tages bewusst wurde, dass dieses Leben nicht lebenswert war. Dass Liara nie gewollt hätte, dass sie ihren Lebenswillen verlieren würden.
„Stimmt, da war ja was … Tut mir leid, das muss ich irgendwie verdrängt haben.“
Lara seufzte nur missmutig, obwohl sie ihn lange genug kannte, um zu wissen, dass er immer wieder mal Dinge einfach nur verdrängte. Was bei ihm letztlich aber so viel hieß wie, dass er es einfach nur unter Unmengen an Alkohol begraben hatte.
„Was machst du hier, Vane?“ fragte sie ihn schließlich, musterte ihren Schwager, wie er – mit geschlossenen Augen – seine offene Handfläche gegen einen der vielen, nassen Baumstämme presste. Beobachtete, wie er den Herzschlag des Waldes versuchte zu erfühlen. Beobachtete, wie er eins mit der Natur wurde. Und er öffnete seine Augen.
„Sie ist gerne hier gewesen … Liara. Ich komme immer wieder hierher. Versuche zu verstehen, was sie an diesen Bäumen nur so fasziniert hat.“
Er nahm seine Hand von der Holzrinde, verstaute diese in seiner rechten Hosentasche, ehe er sich seinen Bogen griff, der an eben jenem Baum lehnte, sich diesen über seine Schulter warf und den Rückweg aus dem Wald antrat.
„Und?“
Er blieb kurz stehen. Ihre Schultern trafen sanft aufeinander, als er ihr in ihre smaragdgrünen Augen blickte, die selbst die getönten Gläser ihrer Sonnenbrille nicht zu verbergen vermochten. Sein Blick wanderte hinüber zu den üppigen Sträuchern, den stolz emporragenden Bäumen und den vielen Waldtieren, die der Landschaft erst ihr Leben einhauchten. Die Vögel, mit ihrer grazilen Luftakrobatik. Die Fische, die sich von den Wellen der Bäche tragen ließen. Die Eichhörnchen, die an den Baumstämmen empor huschten.
„Nichts und. Ich versteh es nicht.“
Er verließ den Wald. Ohne noch einmal zurückzuschauen. Und Lara folgte ihm.
~ * ~
„Gut so, Sabo. Eins, zwei, eins, zwei, und Ausfall. Eins, zwei, eins, achte auf deine Fußarbeit, zwei und jetzt die Pirouette. Nein, nein, was hab ich gerade zu dir gesagt? Achte auf deine Beinarbeit. Noch mal von vorne. Eins, zwei, eins, zwei, los Kuma, übernimm mal für mich.“
„Natürlich, Dragon.“
Der Mann mit der auffälligen Gesichtstätowierung distanzierte sich ein Stück weit vom hauseigenen Trainingsgelände, auf dem viele, junge Männer und Frauen ihr tägliches Training absolvierten. Sie alle hatten den Wunsch stärker zu werden. Sie alle wollten ihrem Leben einen Sinn geben. Deshalb kamen sie zu ihm. Deshalb kamen sie zur Revolutionsarmee. Junge, Alte. Verheiratete, Geschiedene. Witwen und Witwer. Jeder, der bereit war sein Leben ganz der Revolution, und damit dem Beginn eines neuen Zeitalters, zu widmen, war willkommen. Egal wer er war. Egal wo er herkam. Auf Bartigo hörte ihr altes Leben auf zu existieren. Und ein Neues begann.
Sabo jedoch war anders. Er war nicht dort, weil er sich dieses Leben ausgesucht hatte. Er war nicht zu ihnen bekommen, weil er etwas verändern wollte. Er war dort, weil dieses Leben ihn ausgewählt hatte. Er war dort, weil er einfach nur weg von seinem alten Zuhause wollte. Jener Tag, an dem sie einander im Goa Königreich begegnet waren, veränderte sein Leben. Doch nicht nur seins, sondern auch das von Dragon. Denn seit jenem Tag fühlte er sich für den Jungen, dem er das Leben gerettet und den er bei sich aufgenommen hatte, verantwortlich. Lange Zeit wusste er nicht warum. Immer wieder fragte er sich selbst, aus welchem Grund er ihn anders behandelte, als die anderen Kinder, die sie von der Straße holten und ihnen ein neues Leben boten. Ein Leben mit Ambition. Ein Leben mit Passion. Doch irgendwann wurde ihm klar, dass diese Verbindung, die sie miteinander teilten, einfach weit tiefer ging. Dass sie zurück auf eben jenen Moment ging, als sich ihre Wege zum ersten Mal gekreuzt hatten. Sabo schloss eine elementare Lücke in seinem Leben. Eine Lücke, die sein Sohn, den er nie hatte kennenlernen dürfen, in seinem Herzen einst hinterlassen hatte.
Dragon verließ den Trainingsplatz, nahm auf einer Bank Platz und warf sich ein kleines Handtuch über die Schultern, mit dem er sich die Schweißtropfen von der Stirn tupfte. Er griff zu einer Wasserflasche, öffnete diese und trank sie mit einem Ansetzen bis zur Hälfte leer. Dabei genoss er, wie die kühle Flüssigkeit in seiner bebenden Kehle zirkulierte und eine erfrischende, fast schon lindernde, Wirkung mit sich brachte. Plötzlich vernahm er ein Räuspern, erblickte einen hochgewachsenen Mann mit einem Schwert an seiner Taille und grauem, mittellangem Haar, das im starken Widerspruch zu seinem faltenlosen Gesicht stand.
„Hmm, Riku? Du wolltest mit mir reden, oder?“
Verdutzt und irritiert wanderte der Blick des Grauhaarigen von einem Punkt des offenen Geländes zum Nächsten. Er wusste nicht, wo er hinsehen sollte. Noch nie, seit seiner Rekrutierung vor sechs Jahren, hatte er den Anführer der Revolutionsarmee so gesehen. Verschwitzt und in einem einfachen Jogginganzug gekleidet. Er wagte es kaum ihm in die Augen zu schauen, weil er befürchtete, dass er, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, die Autorität – aufgrund dieses ungewöhnlichen Anblicks – seines Anführers vergessen würde.
„Sir, einer unserer Männer – Vane – stellt Fragen bezüglich unserer Ziele und Methoden. Unerwünschte Fragen. Sein letzter Auftrag scheint an ihm zu nagen.“
„Und damit kommst du jetzt zu mir, weil ...“, entgegnete Dragon seinem kommandierenden Offizier, der damit – auf subtile Art und Weise – die Auffassungsgabe von Riku in Frage stellte.
„Nun ja, weil … Weil er mit seinen Fragen für Probleme sorgen könnte. Sollten … sollten wir nicht versuchen das Ganze zu unterbinden?“, hakte der Schwertkämpfer, plötzlich in Schweiß getränkt und triefend vor Nervosität, stotternd nach, doch Dragon schmunzelte nur kurz. Es schien fast so, als würde er sich an den Unsicherheiten seines Kommandanten ergötzen, wenngleich er sichtbar genervt von dem Grund seines Besuches war.
„Wenn wir jedes Mal den Schlagstock herausholen würden, nur weil ein neuer Rekrut mal ein paar unbequeme Fragen zu seinen Befehlen stellte, dann hätten wir bald niemanden mehr, den wir damit noch verprügeln könnten.“
„Sir?“
Dragon seufzte. Nicht jedoch wegen Riku's offensichtlicher Unfähigkeit seinen Standpunkt zu begreifen, sondern wegen dem, was sich gerade auf dem Trainingsplatz abspielte. Denn schon wieder hatte Sabo seine Beinarbeit vernachlässigt, wodurch er unvorbereitet zu Boden fiel und sich dabei das Knie aufgeschürft hatte. Schlagartig erhob er sich und eilte zu seinem Ziehsohn.
„Lass die Sache einfach auf sich beruhen. Ist nicht das erste Mal, das jemand hinterfragt, was wir eigentlich tun. Das klärt sich von selbst“, rief er dem Grauhaarigen jedoch noch zu, der die Worte seines Anführers zwar wohl wissend aufnahm, seine Ansichten jedoch keineswegs teilte. Dafür war Vane die Sache einfach viel zu ernst, als dass dieser die Sache einfach auf sich ruhen lassen würde.
Und, während Dragon sich um die Wunde von Sabo kümmerte, verließ Riku das Trainingsgelände. Einer seiner Männer hatte außerhalb des Geländes die ganze Zeit über stillschweigend auf ihn gewartet. Ein unauffälliger Mann mit kahl rasiertem Kopf, schwarzem Anzug mit ebenso schwarzer Krawatte und einer dunkel getönten Sonnenbrille auf der Nase.
„Und, werden wir die Sache auf sich beruhen lassen?“, fragte ihn dieser und bewies damit einmal mehr, über was für hervorragend ausgeprägtes Gehör er doch verfügte.
Riku räusperte sich kurz, dachte noch einmal über die Worte von Dragon nach, während er diesem einen flüchtigen Blick zuwarf.
„Der Anführer scheint derzeit nicht in der Lage zu sein, um das bevorstehende Ausmaß dieser Situation zu erkennen. Wir erledigen das auf eigene Faust. Gib deinen Leuten Bescheid. Sie sollen Vane in Gewahrsam nehmen!“
~Königreich Thangur ~
Dunkle Wolken verdichteten den Himmel über dem Königreich in den Bäumen. Der Himmel erzürnte. Er polterte, warf Blitze hinunter. Drei Tage war es nun her, seitdem König Ardaer sein gewaltsames Ende gefunden hatte. Drei lange Tage, die das Land nun schon in Dunkelheit gehüllt war. Denn seit jenem Tag hatten die Götter von Thangur für nicht einmal eine Sekunde geruht. Der Regen rieselte auf die Menschen hinab. Die damit einhergehende Kälte hatte einige Bürger bereits ins Bett verdammt. Eine Grippewelle zog durchs Land, die von einigen Abergläubischen als eine Strafe der Götter angesehen wurde. Eine Strafe für ihr Versagen. Eine Strafe dafür, dass sie ihren König, denjenigen, der ihnen stets Schutz, ein sicheres Leben, beschert hatte, hatten sterben lassen.
„Schwachsinn!“, brüllte ein hervorragend definierter Mann, dessen untere Gesichtshälfte fast vollständig mit Haaren bedeckt war, durch sein großes Zelt, das sich am Rande einer tiefen Klippe befand. Einer Klippe, hinter der das offene Meer, die Neue Welt, lag. Ein Ozean, den er selbst schon einmal bereist hatte. Schmerzhafte Erinnerungen, an die er sich nur ungern erinnerte.
„Eine Strafe der Götter? So was Albernes hab ich schon lange nicht mehr zu hören bekommen! Den Göttern ist doch scheißegal, wie wir unser Leben hier unten verbringen. Niemand von diesen sogenannten Heiligen Priestern stand jemals vor einem unserer Götter! Woher wollen sie also wissen, was die Götter uns sagen wollen?“, setzte er seine Hasstirade, dem Glauben in diesem Land gegenüber, fort.
„Wollt ihr wissen, was ich glaube? Ich glaube, dass wir unser Schicksal selbst bestimmen! Wer auch immer unseren König ermordet hat, wir sollten ihm oder ihr dafür dankbar sein! Denn jetzt sind diese hochnäsigen und selbstgefälligen Aristokraten noch mit ihrer vorgegaukelten Trauer dem Kronprinzen gegenüber beschäftigt, was uns eine einmalige Chance ermöglicht … Die Chance unser Land endlich aus ihren korrupten Klauen zu befreien und diese großartige Nation wieder dem Volk zurückzugeben!“
Männer und Frauen, jeder von ihnen in einem dunkelbraunen Mantel gekleidet, bejubelten seine Ansprache. Sie feierten ihn, seine Einstellung, seine Offenheit und seine Abgeklärtheit, mit der er ihr Land zu retten versuchte. Und es gab niemandem, den sie bei dieser Rebellion mehr als Anführer sehen wollen würden. Weil es niemanden gab, der die Aristokraten besser kannte, als er. Er, der einst als Oberbefehlshaber der königlichen Leibwache tätig war. Er, der diese Rebellion vor gut drei Monaten begründet hatte. Er, der auf den Namen Erthor von Noël hörte!
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