Das Hämmern des Hammers wich dem Bersten spröden Holzes, als eine der blutrünstigen Jagdkolonnen durch die notdürftigen Bretterscheite in die Bar brach. Mit der Hand ihrer Mutter vor dem wimmernden Mund musste die kleine Tochter des Wirts das brutale Treiben im Erdgeschoss mitanhören, versteckt hinter den billigen Lumpen des einzigen Kleiderschranks.
»Wir müssen uns verstecken!, hatte ihre Mutter gefleht, »Sie werden bald hier sein!«
»Ab in den Schrank! Ich verrammele die Bar! Geht!«
»Das schaffst du nicht mehr!«
»Geht schon!«
Nun lag er geschlagen in einer Lache seines eigenen Blutes nieder, Splitter und Scherben in der aufgeschnittenen Haut. Keine Minute hatte seine improvisierte Absicherung dem grollenden Ansturm der Wilden Jagd standgehalten, der nun seinen Pub verwüstete. Diese Männer waren weder Polizisten noch Soldaten, wie sie Tischte umwarfen, Stühle zertraten und das Hochprozentige leerten; vermutlich waren sie es nie gewesen. Längst hatten sich Möchtegern-Rächer, nationalistische Eiferer und Alltagssezessionisten in die Schwadronen der Krone geschmuggelt oder just eigene Milizen ins Leben gerufen, um ihren Durst nach lairischem Blut und fountischer Rassehoheit zu stillen. So soffen sie und traten — auf ihn, die leeren Flaschen, Möbel und die Treppenstufen. Unter den Schuhsohlen der krakeelenden Säufer zerfaserten seine Schreie zu einem gurgelnden Wimmern. Wie ein Wolfsrudel stimmte die wilde Horde in seine Schmerzenslaute ein, als seine Familie entdeckt und an ihren aufreißenden Nachthemden die Treppen hinabgeschleift wurde. Ihr Flehen und Ächzen verhallte im allumfassenden Gezeter und Weinen der Straßen Mac Brónachs zu einem Orchester des Albtraums.
Der augenscheinliche Rädelsführer des Packs betrachtete die zum Abschuss aneinandergereihte Familie mit animalischem Appetit. Fette, rußverklebte Haarsträhnen schlabberten wie schwarze Speichelfäden vor seiner Stirn, wenn er die verzerrte Fratze spastisch neigte oder tollwütig zu einer Seite warf. Niemand, nicht einmal diese Nachkommenschaft altfountischer Geschwisterehen, erwartete die Anführer der Lairish Independence Army in einer unscheinbaren Spelunke im lairischen Gossenbezirk vorzufinden. Diese Nacht würde keiner Menschenseele Frieden spenden, weder ihnen noch Gott noch der Königin in ihrem roten Palast. Blut allein fächerte die dürstenden Flammen.
Berauscht von der eigenen Macht schlug der Fount dem Wirt direkt ins Gesicht. Speichel, Blut und Rotze spritzten aus seinem knackenden Schädel auf das ergraute Nachthemd seiner Frau, und wieder jaulten die Angreifer ihre gutturalen Laute wie hämische Hyänen. Vom Whiskey geküsst mäanderte die schlabbrige Mähne des Rädelsführers zwischen Mutter, Vater und Tochter hin und her. Die grauen Augen des Kindes starrten teilnahmslos auf die löchrigen Dielen, durch deren Ritzen und Rillen das schwarze Blut ihres Vaters in den Kriechkeller sickerte.
Das Grinsen des Anführers glich einem Blitzschlag bei Nacht und ebenso rasch griff er sich das Mädchen, presste es mit Gewalt vor seine Schuhe in den Dreck. Sofort stürzte ihre Mutter auf Knien zu ihrem Kind, doch ein hinabsausender Gewehrlauf zertrümmerte ihren Scheitel. Leblos schlug sie auf dem Holz auf, die krampfenden Finger nur mickrige Millimeter entfernt nach ihrer Tochter ausgestreckt. Diese ausblutenden Schemen waren alles, was das Mädchen noch von ihren Eltern sah, bevor ihr Peiniger ihren hilflosen Körper mit dem Stiefelabsatz auf den Rücken rollte. Ihr mattbraunes Haar klebte an den nassen Lippen wie das Nachthemd an ihrer flachen Brust. Ein verlorener Blick traf den seinen — und gab nicht nach.
»Der Bastardkönig wird euch alle töten…«, wisperte sie benebelt. Auf dem Rücken liegend, weinend, aber voller Überzeugung. Beseelt von einem unerschütterlichen Vertrauen in die Kinder des Grüns und die Lilie von Og MacLarr, die sie aus dem Joch fountischer Knechtschaft befreien würde, steigerte sich das Mädchen in diese utopische Fantasie. »Er wird kommen und euch töten…!«
»Der Bastardkönig wird hängen!«, blaffte der Rädelsführer widerlich betrunken, den Flaschenhals noch an der blasigen Unterlippe. »Typisch Laire. Wir geben euch Obdach und Fressen, wir schenken euch Ziv—zivlisa…zion. Und ihr?«
Mit einer ausladenden Geste befahl er seinen Schlägern, die ohnehin dahinsiechenden Eltern zu fixieren. Der verkrüppelte Wirt kämpfte mit der Kraft eines Löwen, der von Bären zerfleischt wird, und musste doch hilflos mitansehen, wie seine kleine Tochter an den Haaren gepackt und über den Tresen geworfen wurde. Die Hände des Schlägers wanderten über den kindlichen Körper wie über die Rundungen einer bezahlten Frau. Dieses zarte Geschöpf mochte bislang nicht geblutet haben, doch an diesem Abend würde es so weit sein. Mit einem grässlichen Grinsen schob er den Stoff über ihr Gesäß und öffnete sich den Hosenbund. In seinem Rücken kulminierte das betrunkene Grölen seiner Lakaien mit dem Flehen und Kämpfen des Vaters zu einem manischen Applaus, der die Schreie des Mädchens übertönte. Soeben wollte der Jäger ihre bloßliegende Scham durchstoßen, als ein Schuss die Stimmung und seine Erektion abtötete. Die Kugel durchschlug seinen Schädel, ohne auf massiven Widerstand zu stoßen, und unlängst nach dem seinen fielen auch die Körper seines besoffenen Rudels in sich zusammen.
Kerker des Red Apple Palace, Nickleby
Im Hauptmann der Palastwachen fand Ulysses einen Fount, der lairischen Blutes würdig gewesen wäre, hätte es das Schicksal, Gott oder die Schwärze des Universums besser mit ihm gemeint. Hochgewachsen, breitschultrig und rotbehaart loderte das rosige Mannsbild der Kerkerdecke wie ein frischentflammter Kerzendocht entgegen.
»Da habt Ihr dem armen Beecham aber einen gehörigen Bären aufgebunden«, knurrte er nicht unsympathisch, nachdem seine Muskelarme den unbequemen Hocker in Stellung geschubst hatten. Etwas an der Art seiner Gebärden, seiner Bestimmtheit und zackigen Zielgerichtetheit gemahnte Ulysses an einen älteren, verlebteren Cathal Donoghue — abseits des geschmacklosen Schauzbarts, der Ulysses an das zerfetzte Tuch an den Hörnern eines siegreichen Stieres erinnerte.
»Ist es wahr?«, fragte der Hauptmann, nun sitzend. Er schien das Gewicht der Frage auf die angespannten Schenkel zu stützen. »Abgesehen von der Arschsache, meine ich.«
Ulysses nickte schwach, worauf er ehrliches Mitgefühl im übermüdeten Wachsgesichts ausmachte. Wie erwartet. Tief im Inneren dieses Kolosses zersprangen Gläser, jede Sekunde jeden Tages, und die Scherben zerschnitten ihm das Herz. Genau deshalb hatte der scheue Hund ihn auserkoren.
»Akutes Orléanisches Syndrom«, erklärte Ulysses nüchtern und der Hauptmann, für einen Augenblick gelähmt, rückte sich lautstark den Stuhl zurecht. Nicht, um seinen Aufenthalt im Kerker bequemer zu gestalten, sondern, um die zittrigen Finger abzulenken.
»Das ist scheiße«, murmelte er schließlich — mit einem unaussprechlichen Schmerz in der dröhnenden Stimme, »Kann aber nicht sagen, dass Ich's Euch nicht gönne. ›Hoheit‹, oder was auch immer.«
Schwallartiges Gelächter brach durch Ulysses' verlotterte Zähne, Karies wie Schrotkugeln verschießend, und verwandelte das bedrückende Verlies in einen belebten Pub auf dem Main Drag.
»Geschenkt«, grinste er breit und finster und gelb wie der Teufel, »Ich hab die Scheiße schon zwei Jahrzehnte länger überlebt als die meisten armen Bastarde, die bei ihrem ersten Anfall am Zungenblut ersaufen. Seit damals schachere ich mit geborgter Zeit.«
Plötzlich bedeutungsschwanger neigte der Bastardkönig das goldgelockte Haupt vor, als breche sich eine Engelsstatue aus der Fassade ihrer Kathedrale frei. »Sehen Sie, Captain Haywood…Peter. Ich halte hier ein paar gute Jahrzehnte in meinen Händen, die ich nicht werde einlösen können. Sie kennen nicht zufällig jemanden, der sie gebrauchen könnte?«
Weißer Wachs rann in Strömen über Peter Haywoods flambiertes Kerzengesicht. Fiebernd und fröstelnd zugleich lüftete er den Stehkragen seiner Uniform, die enger und steifer kratzte, desto heftiger sich die Lungen des Hauptmannes verweigerten. Die einsetzende Erleuchtung entriss ihm beinahe die Eingeweide.
»Ihr…Ihr wolltet, dass ich—!«
»Ja«, unterbrach Ulysses ihn weicher als Lammwolle.
»Was…was wisst Ihr?!«, platzte Peter heraus — brüllend, ohne zu grollen, und fragend, obwohl er die Antwort an dem unbehaglichen Zucken der hündisch verzerrten Lefzen ablesen konnte.
»Alles.« Im unsteten Schein der Wandleuchter mäanderte Ulysses' hässliche Fratze zwischen den Sphären des Himmels und der Hölle. Engel, Dämon; Wolf oder Schaf im fremden Pelz. Mit unbeschreiblicher Tiefe raunte er:
»Ich weiß um Ihre Überstunden und Sonderaufträge, Ihre verzweifelten Bittgesuche und abgelehnten Anträge. Die Schulden und die Sendschreiben. Sie sind ein eifriger Mann, Peter, doch Ihr Sohn ist dem Tod geweiht — und Sie wissen es.«
Dicke Tränen quollen über die Augenringe des Hauptmannes, dessen zusammensackenden Körper jede Stärke verlassen hatte. Nicht länger war er das knisternd-lodernde Feuer; er war das sinkende Schiff, das in den Flammen unterging.
»Sie haben alles getan«, setzte Ulysses mitleidslos nach, »und sind gescheitert. Selbst der hochdekorierte Kapitän der königlichen Grenadiere besitzt nicht genug Geld oder Einfluss, um das Leben des eigenen Kindes zu retten. Ziemlich kranker Witz, finden Sie nicht?«
Zorn, Schuld, Trauer, Entsetzen, Scham, Verzweiflung — Angst. Peter Haywoods Gesicht zerfiel vor Ulysses' giftgrünen Augen zu menschlichem Schutt. »Was…was wollt Ihr von mir?«
»Wie ich sagte: Ich hab ein paar Jahrzehnte zu vergeben.« Vielsagend hob Ulysses die aneinandergeschmiedeten Hände. »Und ich denke, Sie kennen meinen Preis.«
»Ihr könnt nicht helfen«, wimmerte Haywood kopfschüttelnd, sein Schnauzer wehend wie eine brennende Flagge über eroberten Ländereien.
»Wieso nicht?«, fragte der Bastardkönig schnodderig, »Weil ich nicht über die Mittel, den Einfluss oder das Netzwerk verfüge, um einem kleinen Jungen ein neues Herz zu beschaffen? Oder weil ich nichts über diese sonderbare Mutation weiß, die Ihre desidheratische Ehegattin in ihre lupenreine fountische Blutlinie eingeschleppt hat?«
Getrieben riss Haywood Augen, Nase und Schnauzer aufwärts. Endlich schien er süßes Blut geleckt zu haben. Getrieben, jedoch noch immer ungläubig, stotterte er:
»Wie habt Ihr…? Wem…wem gehört das Herz?«
»Einem verurteilten Kinderschänder im Todestrakt«, nuschelte Ulysses halbherzig, »Oder dem großen roten Shanks. Oder einem sündigen Priester, der sich so sein Ticket zum Himmel erschwindeln will. Fragen Sie keine bedeutungslosen Dinge, Peter. Alles, was zählt, ist, dass dieses Herz dieselbe Tanduri-Tikka-Masala-Anomalie wie ihr Sohn in sich trägt und ein Schiff im Hafen von Aycester vor Anker liegt, das Sie zu ihm bringen wird. Sie, Ihre Frau und den kleinen Davy.«
»Unmöglich!«
Zornentbrannt schnellte der Hauptmann auf, und nicht einmal Gott hätte ermessen können, ob dieser Zorn dem Bastardkönig oder ihm selbst galt. Gebrochen und doch wacker wischte sich Haywood Tränen und Rotze aus dem Bart und zupfte sich die rote Uniform zurecht, als könnten seine ausgerichteten Paradeorden die Zerrissenheit in seiner Brust überstrahlen. Der scheue Hund aber hatte sich festgebissen und würde nicht ohne sein Stück Fleisch von Peter Haywood ablassen. Mit geschlossenen Augen lehnte Ulysses die Bürde dieser Entscheidung, die nicht die seine war, gegen die modrige Zellenmauer und murmelte mit psychedelischer Geruhsamkeit:
»Davy verdient den Rest meines Lebens, Peter. Warum wollen Sie ihm diese Chance verwehren? Warum soll Ihre Frau über dem Grab ihres Kindes den Verstand verlieren? Sein Tod, ihr Leid. Wofür? Für eine Königin, die nicht einmal einen kleinen Finger für das Leben des Sohnes Ihres treuesten Beschützers gerührt hat? Für eine Nation, die Banken und Maschinen rettet, aber todkranke Kinder jämmerlich krepieren lässt? Sagen Sie mir, was einem Vater mehr bedeuten könnte als der eigene Sohn.«
Nichts, dachte Peter Haywood ohne zu Zögern. »Nichts…«
Ein schiefes Lächeln flimmerte über die halbverdunkelte Visage des Bastardkönigs. Skrupellos, aufrichtig, abscheulich.
»Was muss ich tun?«, fragte der Hauptmann mit düsterem Schaudern.
»Den Schlüssel zu meiner Zelle gegen ein langes, glückliches Leben mit ihrem Kind eintauschen. Sie nehmen jeden Mann mit, der Ihnen zu folgen bereit ist, und verschwinden aus dem Palast. Dann bringen Sie Ihre Familie nach Colter Lane, besteigen die Kutsche und blicken nie wieder zurück. Am anderen Ende des Meeres warten das neue, Eins-zu-Eine-Millionen-Herz Ihres Sohnes und eine kleine Altersvorsorge für Sie und Ihre Frau.«
»Ich…« Haywoods Stimme zitterte vor Aufregung, Freude, marternder Skepsis. »Ich kann Euch nicht vertrauen.«
»Stimmt«, gab Ulysses unumwunden zu, »Aber Davy wird nicht lange genug leben, damit ich mir Ihr vertrauen verdienen kann. Riskieren Sie ein Fünkchen Hoffnung oder sehen Sie Ihrem Sohn beim Sterben zu. Es gibt keinen Versuch.«
Peter Haywood führte nicht länger die ehrwürdige Leibgarde ihrer Majestät an, als er an seinen gusseisernen Schlüsselbund griff und dem Bastardkönig die Freiheit vor die Füße warf.
»Jetzt bin ich ein Verräter…«
»Sie sind ein guter Vater«, korrigierte Ulysses, »und ein schlechter Fount. Beides macht Sie zu einem ganz passablen Menschen, zumindest in meinem Buch.«
Der Verräter lächelte müde und matt, zum Gehen gewandt und doch noch einmal kehrtmachend. »Gestattet mir eine Frage…«
Ulysses hatte keinen Finger nach dem Schlüssel krumm gemacht. Selbst jetzt regte sich in den gleißend-grünen Augen kaum träges Leben. »Ja?«
»Was geschieht mit Catherine? Wird Sie…?«
»Spielt es noch eine Rolle?«
»Nein, aber…«, druckste Haywood, »Sie ist ein...nettes Mädchen, wisst Ihr. Nur ein wenig…weltfremd.«
»Catherine ist nicht mein Feind. Sie sitzt nur zur falschen Zeit auf dem falschen Thron.«
Haywood nickte fahrig, obschon ihm die Antwort keinerlei Trost spendete. Ulysses verstand sich nicht auf's Händchenhalten und ohnehin — die dunkle Tat war getan.
»Gehen Sie zu Ihrer Familie«, sprach der Bastardkönig halb weisend, halb drohend, und ohne einen Funken Gnade in den toxischen grünen Augen, »Leben Sie.«
Copperfield
Leichenfledderer und Totengräber gleichermaßen wühlten sich in den ausgebrannten Massengräbern des zerstörten Copperfields durch die Asche und den Schutt und die Erinnerungen. Längst hatten die überforderten Rettungskräfte — hauptsächlich verzweifelte Einheimische, Marinerekruten und auszubildende Sanitäter aus dem Umland Baskervilles — die Suche nach Überlebenden aufgegeben und ihren Posten für die Leichenspürhunde geräumt. Das aufgeregte Bellen ritt auf dem Sturm und schlug Mercedes mit dem Gestank verkohlter Maschinen ins Gesicht, als sie durch das Epizentrum der Katastrophe hinkte. Die versprengten Gesetzeshüter, die ihren Weg hätten ausbremsen sollen, umging sie geschickt oder lehrte ihnen mit einem gekonnten Aufstampfen ihrer Kanonenprothese das Fürchten. Schwarz und formlos rollten die Überreste der zusammengekrachten Hallenanlagen im Schutz der Nacht auf sie zu. Selbst jetzt noch, da sie an den Ort des Geschehens zurückgekehrt war, erschien ihr der Kampf gegen die wahnsinnige Vogelmaske kaum realer als ein Traum im Tagebuch eines Fremden. Vereinzelt traf sie auf zerlumpte Schatten, Schrottsammler und Aasfresser auf der Suche nach einer Gelegenheit, Profit aus dem Chaos zu scheffeln. Doch alle kuschten sie vor dem gellenden Donnern ihres falschen Beines und huschten wie Schaben in die Ritzen zurück, aus denen sie gekrochen waren. Mercedes bemerkte sie alle, ohne auch nur einen von ihnen zu beachten. Ihre Aufmerksamkeit hing düsteren Gedanken nach, die um Callaghan und Ondine kreisten und die Frage, wie viele Geheimnisse eine ehrliche Seele erträgt, bevor sie zerbricht. Eine Antwort lieferte ihr Gewaltmarsch nicht, wohl aber den gesuchten alten Bahnhofs am Westrand.
Wie der Schwanz eines umtriebigen Welpen hatte die blutverschmierte Stadtkarte Copperfields in der Hand des Grauen Spions gewackelt, ehe er Mercedes unter Zuhilfenahme sämtlicher Muskeln und Gebärden seinen Geistesblitz hatte begreiflich machen können. Zuvor musste er, so zumindest die Theorie der Kopfgeldjägerin, zufälligen Gesprächsfetzen über die Explosionsschneise gelauscht und eine innere Blaupause des neuen, angeschlagenen Copperfields entworfen haben. Seine Idee, die Bombe nicht als bloße Maßnahme zur Beweismittelvernichtung abzutun, war Mercedes erstaunlich stimmig erschienen. Kein Taschenspielertrick der Schwarzen Witwe verzichtete auf einen doppelten Boden oder die Genugtuung, jedermann an der Nase herumgeführt zu haben. Was also, wenn die Vernichtung der halben Stadt lediglich als perfide Ablenkung fungieren sollte? Eine Art kontrolliertes Feuer, um ahnungslose Tiere aus ihrem Unterschlupf zu treiben. Alsbald hatten Mercedes und der Agent den verlassenen Bahnhof der Stadt als Objekt von Interesse lokalisiert. Nicht zuletzt, da jener eine Verbindung zum Bahnangestellten Michele de Luca bot, dessen aufgeknüpfter Leichnam gemeinsam mit seiner Familie, Caesar Milano und den Trifles in die Luft gesprengt worden war. Eine kurze, nonverbale Diskussion später hatte sich Mercedes den bronzebraunen Mantel übergeworfen und dem trotzigen Grauen Agenten, nicht gänzlich gewaltlos, strikte Bettruhe verordnet — zu seinem und ihrem Besten.
Callaghans martialische Lehren begleiteten sie unter dem unheilvoll klappernden Bahnhofsschild hindurch in das Reich des Unbekannten. Zufälle existieren nur in Büchern und Lügen. Über die Jahre war Mercedes zu derselben Einsicht gelangt. Das heruntergewirtschaftete Gebäude bibberte in einem fragilen Dämmerzustand zwischen verwaistem Denkmal und abrissreifer Ruine, in der Vögel nisteten und Ratten Vogeleier stibitzten. Im Gegensatz zur knochenfarbenen Kapelle des neuen Bahnhofs gemahnte Copperfields einstige Lebensader an eine desolate Brennerei, vollgepumpt mit Backsteinen und einer stechenden Alkoholfahne. Die Kleinstadtjugend musste so manche feuchtfröhliche Stunde in der Abgeschiedenheit dieser Baracken verlebt haben. In dieser Nacht hingegen tastete sich das emsige Echo fleißiger Arbeiter durch die reglose Einsamkeit der Trümmerhalde. Sofern keine Ratte in diesen verwahrlosten Gängen die nächste Stufe der evolutionären Leiter erklommen hatte, schien der Agent den richtigen Riecher bewiesen zu haben. Behutsam setzte Mercedes ihre schallende Prothese im Takt des Lärms auf, um Spuren im Staubfilm unbemerkt bis unter ein rostiges Vordach zu einer Art gasbeleuchteter Ausgrabungsstätte folgen zu können.
»Was genau is'n das eigentlich für'n Zeug?«, hörte sie eine prustende Männerstimme. Zwischen den milchweißen Orbs aus Laternenschein schleppten zweibeinige Mulis schwere Kisten hinter einen monumentalen Schatten.
»Irgendnen Sprengstoff oder so. Was Scheißgefährliches jedenfalls.«
Ein dritter Mann, hörbar jünger als seine Kollegen, quäkte aufgebracht:
»Was'n das für 'ne Scheiße! Dafür werd ich nich gut genug bezahlt!«
»Mach dir nicht ins Hemd!«, blaffte der Erste gegen den donnerrollenden Herbststurm, »Milano meinte, das Pulver hier so ganz allein is harmlos! Du brauchst das Flüssige dazu, damit's hochgeht!«
Verfolgt von den Erinnerungen an Gavroche und das grüne Feuer horchte Mercedes auf, schaudernd.
»Was woll'n die in Nickleby damit hochjagen? 'Ne abgeranzte Fabrik?«
»Was weiß ich. Hab nich gefragt, is nich mein Bier.« Gewissenhaft hievten die Männer die schweren Kisten hinter das dunkle Gebilde. »Ich weiß nur, dass Nachtarbeit besser bezahlt wird und ich die Berry gebrauchen kann. War's das?«
Zustimmendes Grunzen, bis Mercedes ihre Prothese lautstark auf einen Mauervorsprung wuchtete und ihnen den Feierabend verhagelte. Die Arbeiter, allesamt so hässlich und trantütig, wie ihre Stimmen vermuten ließen, rissen vor Schreck die schwieligen Hände in die Höhe.
»Sachte, Lady!«, kläffte der fetteste unter ihnen hochfrequent, »W-wir arbeiten hier nu—«
Plötzlich verglühte Mercedes im Bannstrahl eines zyklopischen Auges, das direkt neben ihrem Körper die eisernen Lider aufschlug und die rostigen Schienen entblößte, auf denen die Kopfgeldjägerin stand. Sobald der Lindwurm sie erblickte, entfachte ein Feuer in seinen Gedärmen und heiße Rußschwaden entfalteten sich über seinem langen Wanst zu giftigen Schwingen. Der Überraschungsmoment langte den Arbeitern zur Flucht und der Nachtzug setzte sich paffend in Bewegung. Unter behäbigem Rattern schälte er sich aus dem Bahnhofsportal, schnaubend wie ein kranker Büffel. Mercedes dachte gar nicht daran, ihn passieren zu lassen. Siegesgewiss stemmte sie Fuß und Prothese gegen die Schienenbohlen und ließ das gewaltige Ungetüm heranrollen — nicht ahnend, dass die feuerfressende Dampflok nicht das monströseste Monster in diesem Hort des Unrats darstellte. Grauenerregende Laute, wie sie Mercedes nie zuvor vernommen hatte, rumorten durch die düstere Ruine, gefolgt von einem schaurigen, unbeschreiblichen Klackern. Mit reptilienhafter Kaltblütigkeit stapfte eine dinosaurierartige Silhouette aus dem Finstern in den Lichtkegel des walzenden Güterzuges. Bipedal, hochragend, raubtierschlank.
Instinktiv wich Mercedes vor dieser befremdlichen Kreatur zurück, welche sich alsbald als urzeitliches Vogelwesen zu erkennen gab. Mit schillernden silbergrauen Federn, gekrönt von einem beachtlichen weißglänzenden Warbonnet und einem Schnabel, der sich bleiern und drohend wie eine geschliffene Sense gegen das Licht abzeichnete. Erneut sah sich Mercedes schwarzen Vogelaugen gegenüber, aus diesen jedoch blitzte blutdürstende Vorfreude. In einer Rasanz, die Mercedes' Haki spielend ausstach, stürzte sich der schreiende Terrorvogel auf die Kopfgeldjägerin und versetzte ihr einen klauenbesetzten Tritt gegen die Brust, der ihre Lungen zerquetschte. Als bestünde er nicht aus geschmiedeten Apparaturen, sauste ihr halbstählerner Körper von der ausfahrenden Lokomotive weg — ungebremst durch eine Wand ins Innere des Bahnhofsgebäudes. Wimpernschläge, die sich wie Tage des Wachkomas anfühlten, zogen vorüber. Und erst das Schreien des Vogelmonsters untermalt vom pfeifenden Zug weckte Mercedes aus ihrem steinernen Bett. Reaktionsschnell rollte sie herum, dass der pfeilschnelle Schnabel des Ungetüms neben ihr in den Fliesenboden einschlug und ein hämmerndes Beben durch die Erde jagte. Sofort standen beide wieder aufrecht, der Terrorvogel mit schabenden Krallen. Flüchtig streifte der Scheinwerfer des Zuges die ungleichen Kontrahenten und entblößte einen Schimmer menschlicher Intelligenz in den bohrenden Augen, der Mercedes würgen ließ. Als der Lichtkegel weiterzog, begann das Monster zu keifen und ein Schuss aus Mercedes' Prothese zerfetzte das Dunkel. Das schwere Kaliber sprengte ein Loch in die Wand hinter dem geschmeidig ausweichenden Untier. Sogleich flog Mercedes Greifarm durch die Öffnung den entkommenden Lastwaggons hinterher, doch eine Kraft jenseits industrieller Leistungsstärke schlug ihre Hand aus der Bahn. Erneut hatten die staksenden Beine des Terrorvogels ihren Plan vereitelt und visierten nun Mercedes selbst an. Gerade rechtzeitig schnellte die rasselnde Seilwinde des Greifhakens zurück, um den heranpreschenden Schatten zu peitschen. Krakeelend drehte der Laufvogel ab, schlug einen erratischen Haken — und verlor sich in der Dunkelheit. Der Zug war in die Nacht entschwunden, die still und schwer auf die fountische Marsch drückte. Dann plötzlich: Eine rasante Flanke, derer sich Mercedes kaum zu erwehren imstande sah. Zwischen beiden Händen verkeilte sie den massiven Schnabel, just bevor er ihre Stirn spalten konnte; die Gewalt der Kreatur aber schleuderte beide hinaus auf die Schienen. Wieder und wieder entging die Kopfgeldjägerin dem einprasselnden Schädel nur um Haaresbreite, versuchte verzweifelt, ihre Pistole zu zücken oder auch nur die Hand auszustrecken. Die kreischenden Salven jedoch stießen ihre Gliedmaßen fort und durchlöcherten den Erdboden um ihren ausweichenden Schopf. In dieser aussichtslosen Lage fixiert sah sich Mercedes mit einem letzten Ausweg konfrontiert. Jede Logik musste sich der physischen Übermacht der Vogelbestie geschlagen geben und so bekämpfte die Maschinenfrau Feuer mit Feuer; der Schnabel des Terrorvogels donnerte gegen die Stahlplatte unter Mercedes' hakischwarzer Stirn. Blitzende Vibrationen durchzuckten sie bis in die empfindsamen Nervenspitzen im Rückenmark, und der Schmerz, der auf diese dumpf-dröhnende Taubheit folgte, überstrahlte jeden klaren Gedanken. Wackelnd wie eine galoppierende Giraffe taumelte auch der große Vogel rücklings, vor Ohrenklingeln nicht bemerkend, wie sich eine monumentale Macht hinter ihm durch das Dunkel pflügte. Mercedes hingegen spürte den Schemen herannahen und flüchtete torkelnd von den Schienen. Es handelte sich um eine unbeleuchtete Tenderlokomotive, die sich kräftig schlotternd ihren Weg durch das nächtliche Dickicht des Horizonts wühlte — Volle Fahrt voraus! Just als Mercedes die altbekannte graue Schiebermütze seitlich des Führerstandes im Fahrtwind wehend entdeckte, geriet der orientierungslose Terrorvogel unter die malmenden Radsätze und ward von den gefräßigen Achsen begierig verschlungen. Mercedes erkannte rasch, dass dieses Gefährt weder für sie noch für Gott abbremsen würde und triezte ihre schwerfällige Prothese vorwärts. Gerade genug beschleunigend, um sich wenig elegant auf die vorbeischrammende Eisenbahn zu schmeißen.
Mac Brónach, Nickleby
Zusammengedrängt in der Kälte kauerte sich die traumatisierte Familie in den Ruinen ihrer Existenz aufeinander. Ihre Augen, hohl und zertrümmert wie geschändete Gräber, folgten Felicia Zhangs Hundertschaft in geistesferner Trance. An Haaren und Beinen schleppten die Gesetzeshüter die erschossenen Banditen aus dem demolierten Lokal. Der Chief Inspector selbst verscheuchte allzu neugierige Blicke mit dem Lauf ihres Gewehres. Erst, als die toten Leiber aufgebahrt im Straßenschlamm versumpften, löste sie sich aus der Dunkelheit und trat ins gedimmte Licht des Pubs.
»Ein Sanitätstrupp patrouilliert die Straßen. Sie werden bald vorbeigekommen«, gab sie sich tröstend — wohlwissend, dass keine Mullbinde die tiefen seelischen Wunden der Familie flicken könnte.
Der versprengte Leichenberg vor der Tür gehörte lediglich zur ersten Welle der wilden Armeen, welche sich in dieser Sekunde ihren Weg durch das Jaggers und Cattle's Corridor marodierten. Mac Brónach war dem Untergang geweiht, und weder Zhang noch das berühmte Glück der Lairen könnten seine Bewohner noch retten.
»Ist…es wahr?«
Die Polizistin hatte das Zupfen an ihrem Mantelsaum kaum bemerkt, weshalb die Kleine ihr brüchiges Stimmchen gebrauchen musste. Ihr zerfledertes Nachthemd knitterte wie ein mottenzerfressenes Leichentuch vor den blauen Hämatomen, die den zitternden Körper pflasterten.
»Was ist wahr?«, fragte Zhang harscher, als es der angeknacksten Psyche des Mädchens bekömmlich war. Untröstlich löste sie sich daher aus dem martialischen Befehlsgestus, der ihr im fountischen Polizeidienst die Karriereleiter gehalten hatte, und ging beinahe mütterlich vor dem traumatisierten Kind in die Hocke. »Was ist wahr?«
»Der Bastardkönig…«, stammelte die Kleine aufgeregt, »Ist es wahr? Ist er—«
Die Verwunderung der Inspektorin wich grauenvollstem Verständnis, als der fauchende Sturm ein zischendes Hitzegewitter durch die eingeschlagenen Fenster peitschte und einen geflügelten Dämonin aus seinem erstickenden Wanst gebar. Diane Rovira, berüchtigte Vasallin der Penny Dreadful, hüllte sich in einen Kokon aus goldgelber Seide, der in mannigfachen Schmetterlingsschleppen um ihr nachtschwarzes Haar wallte und samtige Schlieren in die staubverpestete Luft malte. Rücksichtslos wie der Loch Llyr höchstselbst pulverisierte Lorcas brachialer Auftritt alles, was von den Schlägern verschont geblieben war — Gläser, Vitrinen, Wandbilder — und warf einige Polizisten von den Beinen. Zuletzt fiel gar Felicia Zhangs als unverwüstlich geltender Zopfgummi der Macht der Staubfrau zum Opfer, sodass glattes dunkles Haar wie Teer vor die sichelförmigen Augen der Inspektorin rutschte. Dann, auf einen beherzten Ruck, versiegte der Wind, die Hitze, das krustige Inferno. Lorca alias Rovira hatte ihre Machtdemonstration beendet und visierte das kleine Mädchen hinter Zhang an, als wolle sie es fressen.
»Sind hier noch mehr?«, fragte sie ungeduldig und wiederholte die Frage, nachdem weder Kind noch Wirtsleute reagiert hatten. Statt einer Antwort warf sich Zhang dazwischen:
»Was zum Teufel treiben Sie hier?! Diese Leute sind unschuldige Zivilisten!«
»Bei diesen unschuldigen Zivilisten habe ich den Bastardkönig aufgegabelt«, erklärte Lorca mit der Sensibilität einer beidseitig brennenden Zündschnur, »Wer weiß, welche subversiven Subjekte wir hier noch finden werden?«
»Dies ist ein lairischer Pub im lairischen Viertel«, konstatierte Zhang streng und furchtlos, »Wie fahrlässig stünde es der LIA zu Gesicht, solch ein denkbar offensichtliches Versteck nicht nur zu wählen, sondern gar öffentlich zu frequentieren? Das einzige subversive Subjekt, das ich hier ausmache, Miss Rovira, sind Sie!«
Lorcas linkes Auge zuckte unmerklich. Eine unbeschreibliche Feuersbrunst kochte in der Staubfrau Busen hoch und steckte ihr Fleisch in Brand. Das hochexplosive Gemisch brach sich schließlich über die feuerroten Stresspusteln auf ihrer sonnengegerbten Haut frei; ein aktiver Vulkan voller Krater, der Zhang nur allzu gern glühende Lava über die Brüste gespuckt hätte.
»Felicia, nicht wahr?«, brodelte Lorca lippenleckend. Beinahe erwartete die Inspektorin, der schillernde Speichel würde gemeinsam mit dem blassen Lippenstift verdampfen.
»Für Sie, Chief Inspector Zhang.«
»Von mir aus!« Lorcas Zischen spie unverhohlene Verachtung in die Gesichter der Umstehenden. Das kleine Mädchen, ihre Eltern und die schweißgebadete Polizeidevision verdammte sie mit einem einzigen staubspeienden Augenaufschlag zum Tode durch Zorn, während Zhang ein weitaus weniger genehmes Schicksal erwarten sollte. Lorcas Haut glich einem ausgedörrten Flussbett, auf dem Krähenfüße wie staubende Landgräben um ihre zu Reißzwecken verengten Lider aufbrachen, und aus ihren bröckelnden Fäusten emanierte aschgoldener Puder. Ein einziges Flaumhärchen auf Zhangs Wange, welches sich im Sturm der falschen Richtung zuwandte, hätte die alles verzehrende Rage der falschen Rovira entfesseln und jede Erinnerung an Leben im lairischen Bezirk auslöschen können. Entsprechend greifbar schien die unausgesprochene Erleichterung, als das Bibbern einer Teleschnecke Lorcas Aufmerksamkeit umlenkte.
In dem mattbleiernen Geschöpf, welches sie aus den gelben Untiefen ihrer Robe barg, erkannte Zhang eine spezielle Züchtung der Weltregierung mit unabhängiger Frequenz, um Abhörschnecken oder Störsignale zu umgehen.
»Auf wessen Seite stehen Sie?«, fragte Lorca über das penetrante Blubbern des Tieres hinweg, worauf Zhang stolz erwiderte:
»Mein Schwur lautet, das Gesetz des Commonwealth zu hüten und sein Volk vor Schaden zu bewahren.«
»Und die Königin?«
Zhangs steinerne Miene verrückte um keinen Millimeter. »Geben wir nicht vor, derselben Herrin zu dienen, Rovira.«
Wenige Momente, die dem zitternden Mädchen an Zhangs Rockzipfel wie das Warten auf den nächsten Geburtstag vorkamen, hielten Lorca und die Inspektorin noch todbringenden Blickkontakt. Dann verpuffte die gespenstische Dame mit einem herablassenden Schnauben — nichts zurücklassend als Angst, Herzrasen und wütend wirbelnde Staubflöckchen.
Tender
Ohne Unterlass rackerte sich die tapfere Tenderlokomotive auf den feucht-schillernden Gleisen ab, begierig die hereinrollenden Schienen mampfend und giftigen Rauch rülpsend. Obwohl von Copperfield bereits kaum mehr als schwache Lichtflecke am düsteren Horizont übrig waren, schien sich die arme Maschine durch zähesten Teer zu buddeln. Zu tief und gleichförmig wogten die Nacht und die Marsch und die dünne Linie, die beide trennte.
»Sie transportieren Sprengstoff«, erklärte Mercedes dem Grauen Spion, dessen vom Kohlenschaufeln ausgelaugte Lungen die rasselnden Geräusche ihres Gefährts imitierten. Sie erwartete Entsetzen, Überraschung. Stattdessen fand sie nur ihre eigene Erschöpfung auf dem schweißgebadeten Bubengesicht des atemlosen Agenten reflektiert.
»Was auch sonst«, schien er sagen zu wollen — natürlich, was auch sonst. Beide ahnten sie, dass das, was auch immer der vorausrasende Güterzug nach Nickleby verfrachtete, auch die Explosionen in Gavroche und Copperfield verursacht hatte. Die Vorstellung eines untergehenden Nickleby befeuerte Mercedes, die sie der Tenderlokomotive unentwegt Kohle in den Rachen schaufelte. Für keine Sekunde hegte sie einen Zweifel an ihrer Fähigkeit, die Waggons zu stoppen oder die gesamte Bahn von den Schienen zu reißen; der Agent beim Anblick ihrer glänzenden Muskelstränge ebensowenig. Seit sie ihren bronzebraunen Mantel abgestreift hatte, teilte sich seine Sorge um das Wohl der fountischen Hauptstadt die Aufmerksamkeit mit den lustvollen Anwallungen, die der trainierte Körper dieser wunderschönen Frau in ihm auslöste. Nicht sonderlich professionell, wie er sich eingestehen musste, aber dieser Zug war seit seiner desaströsen Niederlage gegen Myzete Beelzebub ohnehin abgefahren. Immerhin schien er nun die Chance zu erhalten, einen anderen einzuholen und seine Versäumnisse damit irgendwie wieder gut zu machen.
»Danke, übrigens.« Todernst lehnte die schweißglänzende Mercedes auf der rußverkrusteten Schaufel, Wind im Haar und Diamanten auf der Haut. »Du hättest nicht kommen sollen, aber ich bin froh, dass du es trotzdem getan hast. Wäre ich nur schneller gewesen, hätte ich—«
Das vehemente Kopfschütteln bereitete dem schwerverwundeten Spion Höllenqualen, doch das war es ihm wert. Wie gern wollte er ihre Selbstvorwürfe zurückweisen, ihr verständlich machen, welch Leistung sie im Kampf gegen diesen Teufelsvogel vollbracht hatte. Immerhin hatte sie im Überraschungsmoment abwehren können, was über ihn sehenden Auges hereingebrochen war. Hereinbrechen würde. Auf seinen langen Stelzen hetzte der Terrorvogel über die Schienen, um Rache an der Lok zu nehmen, deren hinterhältige Attacke er nahezu unversehrt überlebt hatte. Weder Kälte noch Nässe hemmten seinen blitzartigen Marathon, gleich einer polierten Klinge glitt sein Schnabel durch die Finsternis. Endlich erspähte das Urtier seine Beute. Nahezu zeitgleich verspürten Mercedes und der Agent diesen Jäger im Dunkeln, welcher seine Klauen nach einem unendlich langen Sprung bereits in das Heck der Lokomotive geschlagen hatte und sich nun mit unvorstellbaren Leibeskräften auf das Kohlelager schwang. Die kleine Tender ruckelte bedrohlich, als könnte jede neuerliche Erschütterung ihren Heldentod bedeuten. Und so fasste der Graue Spion einen folgenschweren Entschluss. Alle großen Reden, die jemals von großen Menschen der Geschichte gehalten wurden, kondensierten in seinen graubraunen Augen zu einer einzigen weggeblinzelten Träne, bevor er mit dem unsteten Düstern der vorbeiziehenden Nacht verschmolz. Ehe der Terrorvogel zu reagieren wusste, packte ihn die zum Leben erwachte Dunkelheit bei seinem langen Hals und zog ihn mit sich in das schwarze Loch jenseits der ratternden Lok.
Betäubt starrte Mercedes in die vorbeiziehende Leere, driftete verlassen auf einem schwarzen Meer. Zumindest beinahe. Wo der Spion zuvor gekeucht hatte, wartete eine mattbleierne Teleschnecke geduldig auf einen neuen Meister. Wutschluckend nahm die Kopfgeldjägerin das kleine Tierchen an sich, welches sogleich schleimige Spuren ihren nackten Arm hinaufzog und sich, über Schulter und Hals, hinter ihrer Ohrmuschel festsaugte. Sie ertrug diese widerwärtige Tortur, so es ihre schneckenfressenden Urahnen ermöglichten, mit Fassung. Der Graue Spion hatte seine Entscheidung getroffen, als er sich selbst zu ihrem Beschützer erkor, damit sie zu Nicklebys Retterin werden könnte. Nun war es an ihr, seinem Opfer Bedeutung zu verleihen. Ohne noch einmal zurückzublicken ergriff sie die Schaufel und fütterte der hungrigen Dampflok neues schwarzes Gestein; eins werdend mit dem Feuer und dem Stahl, der sie einem blutigen Morgen entgegentrug.
Auf der lauen Salzlake trieb der leblose Körper des Grauen Spions wie ein verwundeter Fisch, der mit abgerissenen Finnen auf den hungrigen Reiher wartet. Der Sturz hatte die Wunde an seinem Hals nicht nur neuerlich aufgerissen, sondern bis auf den hintersten Zipfel seiner Kehle zerfetzt und entblößte sein wundes Fleisch nun für die brennenden Sümpfe der meernahen Marsch. Der Schmerz zerrte unerträglich an jeder Faser seines zerschellten Körpers, stechend und siedend wie kochendes Wasser auf nackter Haut, und doch lächelte der graue Blick des Agenten den schwarzen Gestirnen mit unerschütterlicher Seelenruhe zu. In dieser gottverlassenen fountischen Einöde wurde die Nacht noch nicht vom nordwärts einfallenden Sturm beherrscht. Schwebende Nebelbrocken klebten an der stehenden Herbstluft und spendeten seinen glühenden Gliedern lindernde Kälte. Die Welt schien friedlich, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Erst, als sich das trübe Schlammbett den Klauen des Terrorvogels beugte, regten sich seine blaugrauen Augen. Patschende, knirschende Vogelzinken im flachen Morast. Die Kreatur fand den Agenten in einer Lache seiner Selbst vor. Mit ausgestreckten Armen verschwamm er im Grau der Marsch. Wie angetrocknete Farbreste blätterte ihm die nachtschwarze Tarnung von der aschfahlen Haut und verdampfte im Salzsud des schwappenden Tümpels. Instinktiv senkte der prähistorische Raubvogel den sensenartigen Schnabel und neigte das silbergraue Haupt, um den seelenlosen schwarzen Glubschern einen besseren Blick auf seinen sterbenden Leib zu gewähren. Ein gierendes Klicken in dem gefiederten Schlund verriet sadistischste Befriedigung. Beide wussten sie, dass die kleine Tenderlokomotive dem Laufvogel niemals entkommen könnte. Schon bald hätte das Monster die ratternde Bahn eingeholt. So blieb dem Tier Zeit, sich an dem sinnlosen Opfer des Spions zu laben. Sardonisch gurrend stellte der Vogel seine monströse Kralle auf die Brust des Sterbenden und pumpte einen Schwall Blut durch seinen Körper, der in einer gurgelnden Fontäne aus der zerrissenen Schlagader sprudelte. Mit diabolischer Schadenfreude verringerte das Ungetüm den Druck, als wollte es die Übung wiederholen, just bevor ein stechender Schmerz seine knorpelige Ferse durchzuckte. Mit letzter Kraft hatte der Graue Spion eine finale, haki-schwarze Fingerpistole durch den riesigen Laufknochen gebohrt. Kreischend wirbelte der Terrorvogel um die eigene Achse, hysterisch mit den verkümmerten Flügeln flatternd und beim Versuch, den durchbrochenen Lauf zu belasten, tragikomisch in die schlammige Suppe platschend. Wie ein kämpfender Alligator rotierte der einbeinige Vogel orientierungslos im Matsch. Wie gerne hätte sich der Agent an diesem Anblick ergötzt. Doch seine Zeit war gekommen. Längst nahm er das Zetern des wütenden Ungeheuers kaum lauter war als das Geschnatter gen Süden ziehender Gänse. In seinen letzten Augenblicken dachte er an Mercedes…Nickleby…Lorelei — und vorsichtige Hoffnung erfüllte ihn, wo das Leben seine Brust verließ. Als sich der humpelnde Vogel in nunmehr menschlicher Gestalt rachsüchtig über seinen Körper bäumte, war der Graue Spion bereits gegangen; im Nebelschleier der Nacht kaum zu unterscheiden von den Marschwiesen, dem Wasser und dem Blut.
Rosary Hill, nahe Nickleby
Hauptmann Haywood fühlte sich ehrloser als ein gemeiner Dieb, der in der Verstohlenheit der Nacht aus einem leergeräumten Anwesen huscht. Keiner Menschenseele hatte er seinen Verrat gebeichtet, aus Angst, die loyalsten seiner Männer stellten sich zwischen ihn, seinen Sohn und das versprochene Eins-zu-Eine-Millionen-Herz. Obwohl er wenig Vertrauen in die Versprechungen des Bastardkönigs setzte, trieb ihn der bloße Gedanke an seinen kleinen Davy durch die unliebsamen Rosenbüsche des Rosary Hill. Die spitzen Dornen zerstachen seine Uniform und die eingeflochtenen Perlenstränge schnürten sich in sein Fleisch. Im jaulenden Herbststurm kulminierte das Rasseln der Rosenkränze zu einer kakophonischen Litanei zischender, zungenloser Münder aus den endlosen Tiefen des Kosmos. Ganz gleich, wie verbissen er sich durch das dornige Dickicht schlug, die tosende Kaskade rächte sich mit jedem niedergemähten Rosenblatt. Dann sah er es: Nickleby, oder was davon übrig war. Ein vom Himmel gestürzter Phönix, der am Fuße des Hügels eitrige Flammenflüsse in die undurchdringliche Düsternis des fountischen Marschlandes blutete. Lodernde Scheiterhaufen bleckten an den schwarzen Zinnen und die garstigen Feuertürme des Union Black pulsierten wie Portale der Hölle. Unwillkürlich bekreuzigte sich Haywood, der sich dem brennenden Auge Gottes nackt und schutzlos in der Finsternis ausgeliefert sah. Wie paralysiert knickten seine Beine unter der Bürde des Verrats ein; auf allen Vieren schürfte er sich die Hände an dem roten Rosenstrauch auf, der ihn gefällt hatte. Doch als er sich wieder aufraffte, hatte der Wind plötzlich gedreht und trudelte mit dem marternden Crescendo der rasselnden Rosenbüsche den Hang hinab. Befreit von den geisterhaften Schreien des Himmels löste der Anblick der untergehenden Hauptstadt plötzlich eine unheimliche Erleichterung in Haywood aus. Mit der Klarheit eines Novizen, der zum ersten Mal das reinigende Gewicht des Skapuliers auf seinen Schultern spürt, betrachtete er das schwelende Menschenfeuer im Tal mit erneuerter Glaubensstärke. All das unaussprechliche Leid in den Straßen, auf den Feldern und Inseln jenseits des Meeres lastete nämlich nicht auf ihm — sondern auf Catherine. Auf der Königin, die das Herz ihres eigenen Landes in Brand gesteckt hatte und nun, unberührt von den Höllenqualen ihres Volkes, die Nacht der Jagd in den maltesischen Seidenlaken ihres Himmelbettes verschlief. Achtlos hatte die Puppenregentin die teuflische Hatz im Commonwealth entfesselt. Die Flammen, den Hass, den Wahnsinn. Ihrer tölpelhaften Ignoranz entsprangen die wilden Horden und sie allein müsse nun die verdienten Konsequenzen tragen. Ertragen. Mit gestärkter Entschlossenheit zur Flucht bahnte sich Haywood seinen Weg ins Tal. Hatte er schließlich nichts weiter getan, als der verdienten Strafe Gottes den Weg zu bereiten? War es nicht wohlmöglich die letzte Bestimmung des todgeweihten Bastardkönigs, Founts Founts und Lairen Lairen sein und die junge Catherine büßen zu lassen für ihre Fahrlässigkeit, ihre Willkür und ihre Dummheit? Selbst die selbstvergessenste Regentin müsste sich am Ende aller Zeit vor dem Einen Richter verantworten, von dessen Gnaden sie einst ward berufen — und soweit Haywood dies beurteilen konnte, zeugte dieser Stunde wenig von der Vergebung des Schöpfers.
Bentleys Versteck, irgendwo in Ncklebey
Noch immer vermochte Ondine nicht zu bestimmen, ob die randalierenden Wesen jenseits der Zimmermauern lachten oder weinten, ob sie schrieen oder tobten, ausgelassen feierten oder unaussprechlicher Folter frönten. Da sie die hohen Fenstersimse selbst auf Zehenspitze nicht erreichte, beschwor ihre kindliche Fantasie grauenerregende Quellen des psychotischen Lärms herauf. Abartige Homunkuli mit unzähligen tollwütigen Köpfen, die sich in widerstrebenden Stimmungen stritten, ausschlugen und einander bissen, die die diesigen Gassen wie blinde Wachhunde abtrotteten oder jenen eisweißen Mond anbellten, den ihr schlummernder Wärter in seinen Augen gefangen hielt. Verlassen von der Freiheit, welche Monsieur LePoulpe ihr geschenkt hatte, und derart alleingelassen mit ihren Gedanken, wurde Ondine allzu rasch von den Erinnerungen an Saint Cosette eingeholt. Sie mochte das saphirschwarze Kloster hinter sich gelassen haben, doch das Echo in seinen dumpfen Hallen dröhnte wie das Scheppern eiserner Ketten in ihren Ohren nach. Unsere Dame wohnt im Haus unserer Seele, ihre Liebe aber wirkt durch die Tat unserer Hände. So leise wie irgend möglich und doch vollkommen vergeblich hatte das Mädchen bereits sämtliche Schränke, Schubläden, Kommoden, Regale, die Küchenspüle und sogar das stinkende Spülklo nach dem Schlüssel abgesucht, der ihre Fußfessel aufsperren und Zauberkräfte freigeben würde. Obschon Müßiggang aller Höllenfeuer Zunder war, schien der Heiligen Dame wenig daran gelegen, den Fleiß ihrer Schäfchen zu entlohnen. Noch immer versauerte Ondine ohne Schlüssel oder gar Zauber in der winzigen Stube. Wozu denn all die eingeprügelten Geschichten vom Anfang und Ende und dem ganzen Dazwischen? Wozu denn beten, bitten und Amen rufen, wozu entkleidet und mit Blüten gesalbt durch eisige Keller schreiten, wenn ihr die Dame nicht einmal für einen vermaledeiten Abend ein offenes Ohr lieh? Sichtlich erzürnt auf die Frau da oben wandte sich Ondine zum Mann dahinten um. Das einzige Versteck, welches ihr noch einfiel, schnarchte auf seinem Stuhl wie ein Bär im Winterschlaf. Könnte ihr die Dame derart übel mitspielen? Aufgewühlt warf Ondine dem großen vergilbten Standspiegel ratlose Blicke zu. Ihr geflochtenes Haar implodierte zusehends; das rosenbestickte weiße Kleidchen, welches ihr zuvor noch so kostbar erschienen war, franste an den billig vernähten Enden; mehrere Blütenblätter verwelkten bereits an baumelnden Fäden; und die Wunde auf ihrer Stirn pochte derart heftig, dass sie das unentwegte Bum-Bum, Bum-Bum im Spiegel zu erkennen glaubte. Wer war dieses desolate Geschöpf, welches da barfüßig auf den klebrigen Holzdielen ausharrte? Nichts wollte sie mit ihm zu tun haben — und noch weniger mit ihm gemein. In ihrer Vorstellung verband diese armselige Kreatur mehr mit den vielköpfigen Monstren in den dunklen Straßen als mit ihr, die sie über den dreckigen Dingen schwebte.
»Tête de nègre…?«, erinnerte sich Ondine an das Gespräch mit dem netten Dädalus.
»Ja?«
»Ich…ich möchte keine Angst mehr vor ihr haben.«
»Das verstehe ich…Komm, ich zeige dir einen Trick…«
Sich aufbäumend gegen ihre eigene Unvollkommenheit und die Grenzen des kleinbürgerlichen Kerkers zeigte Ondine der ganzen verdammten gespiegelten Welt den Mittelfinger - sich selbst, den tanzenden Einhörnern an der Zimmerdecke, vielleicht sogar der holden Dame; und natürlich dem dunklen Herren, dessen Stuhl jedoch plötzlich verwaist dastand. Erschrocken fuhr Ondine herum, wo ihr das halbseidene Grinsen ihres Entführers bereits auflauerte.
»Du warst fleißig«, flachste er mit Blick auf jene eine verflixte Schublade, die Ondine in ihrer Hast nicht gänzlich zurückgeschoben hatte. Ihrem Fluchtversuch zum Trotz hockte Bentley eigentümlich tiefenentspannt vor dem kreidebleichen Mädchen, auf den Schuhspitzen balancierend und die Hände in den Hosentaschen vergraben.
»Hörst du nicht?« Gemeinsam lauschten sie den archaischen Schreien der umherziehenden Lairenjäger. »Die ganze Stadt ist trunken vor Blut. Diese Bestien würden dich zerfleischen, bekämen sie dich zu fassen.«
»Mach mir den Ring ab«, schlug sie vor, »Dann bekommt mich niemand zu fassen.«
Darüber lachte er ein schurkisches, vampirisches Lachen, wie es aus einer dunklen Krypta bei Sonnenuntergang entweicht. »Du machst dir keine Vorstellungen von den Monstern, die zwischen den Ritzen der hohen Häuser lauern. Du fürchtest mich, weil du niemals wahre Schrecken erlebt hast.«
»Ich fürchte dich nicht«, erwiderte sie platt. »Ich kenne dich. Du bist ein Habicht.«
»Ein Habicht?«
»Oder eine Krähe. Ein Rabe. Ein Bussard.«
Ähnlich der Vögel, die Ondine mit ihm assoziierte, schwang sich Bentley empor und wanderte beschwingt zum Bett. Dort angekommen, fläzte er sich nieder und gab dem Platz neben sich einen anrüchigen Klaps. »Komm, setz dich. Und sprich weiter.« Murrend tat Ondine, wie ihr geheißen.
Doubletrouble Manor, Anne-The-Splendid
In der Stadt des Stahls zirkulierten Feuerfunken statt Herbstlaub in den Ausläufern des Loch Llyr und graue Asche rieselte, wo die Winde verschnauften. Unaufhaltsam hatte sich die Welle der Gewalt an das noble Heiress Borough herangewagt. Selbst die sagenhaften Reichtümer des One Piece hätten nicht die Schrecken ausbezahlen können, denen sich das Sanktuarium der Reichen und Gepuderten nunmehr ausgeliefert sah. Fette, brennende Menschenschlangen glitten durch die pittoresken Alleen und stachen mit eisernen Zungen durch Fenster, Türen und Menschen. Die Rechtlosen lynchten die Entrechteten und ein beachtlicher Teil lachte, während es geschah.
»Was tun wir?«, fragte O'Mara sicher verwahrt hinter den halbdurchschimmernden Blumenvorhängen seines großbürgerlichen Lazaretts. Cassiopeia, die sich schurkenrot in seinen verwaisten Rollstuhl geflegelt hatte, zückte ihr Lächeln zusammen mit ihrem Feuerzeug und sagte doppelbödig:
»Lorelei taktiert zurückhaltend. Was wollen Sie tun, Brian?«
»Das willst du nicht wissen«, erwiderte er kalt.
»Wohin Sie auch gehen, der Untergang folgt Ihnen. Schauen Sie nach links, nach rechts — der Tod ist schon da. Und kein Engel weit und breit.«
»Trägt der Tod zufällig schwarzen Lippenstift?«
Glucksend drehte die Agentin eine verspielte Runde auf dem rücklings gekippten Rollstuhl. »Carla ist Ihnen ähnlicher, als Sie meinen.«
Perplex wandte O'Mara die blutunterlaufenden Augen von den gesetzlosen Straßen ab und ihr zu. Im Dämmerdüstern des verdunkelten Gemachs und der aufflackernden Zigarettenglut zerfiel Cassiopeias Gesicht in ein Schattenspiel herumirrender, rastloser Schemen. Qualm formte ihre Lippen und das rote Haar wehte vor den bernsteingoldenen Luchsaugen. Wütend bestand O'Mara:
»Ich bin nicht wie Carla.«
»Aber natürlich sind Sie das«, hielt die Rothaarige ohne Kraftanstrengung dagegen, mit geschickter Zunge Rauchkringel paffend. »Sagen Sie mir, Brian…Was treibt Carla Ihrer Meinung nach an?«
»Rattengift und Krähenblut.«
»Angst.«
Vor diesem kurzen, dumpfen Lachen vermochte sich der Kopfgeldjäger nicht zu drücken. Zunächst amüsiert, dann irritiert und schließlich agitiert wog er Cassiopeias mutige These ab. Angst? Über die Selbstsicherheit, in der dieses Wort schwelgte und sich wälzte, geriet O'Maras festgesetzte Meinung über die Frau in Schwarz ins Wanken — was Cassiopeia begrüßte.
»Ihr Scheitern im Bordell und Marys Tod fußen auf ihrer Unfähigkeit, mehr in Carla zu sehen als die dunkle Fee von Roßkosch. Sie versuchen, dem schwarzen Lippenstift ihre Meinung überzustülpen und übersehen dabei, was darunter liegt. Das ist der eine Vorteil, den Carla Ihnen voraus hat. Eine unausgesprochene Verbindung, die Sie nicht anzuzapfen imstande sind. Carla versteht Sie, Brian, jedoch nicht umgekehrt.«
»All das hier…« O'Maras wunde Handfläche bedeutete einen Bogen über die Asche, die Brände und das Schlachten. »Wirkt das auf sie wie die Tat einer verängstigten Frau?«
»Konnte sie es sich im Angesicht ihrer Situation denn leisten, in weniger großen Maßstäben zu denken? Sie sehen in Carla allein die Entführerin ihrer kleinen Freundin, die Mörderin der Huren und die machthungrige Intrigantin im apfelroten Palast. Sie sehen eine Frau, die von Gier und opportunistischem Anspruchsdenken getrieben wird und verkennen dabei die Gefahr, in der sie schwebt. Seit Roßkosch über ihr zusammengestürzt ist, treibt Carla der unbedingte Wille zu überleben. Nicht nach den Regeln ihrer Häscher, Brian, sondern ihren eigenen. So schlug sie in die Hand ein, die sie zu erschlagen gedachte — Ulysses', oder seiner Gefährten — und nahm Luca als Geisel, um Ihnen zu entfliehen. Carla und ihre Abtrünnigen fielen aus dem Himmel — und die Hölle folgte ihnen. Was ich sehe, ist ein Reh. Gejagt von Wölfen. Sie sind Carlas Hölle, Brian, nicht umgekehrt.«
Mit der Unentschlossenheit eines gebrochenen Wesens wog O'Mara die Worte der Agentin ab. Vor seinen moosgrünen Augen zogen das Inferno und das Gemetzel langsam vorüber und berührten ihn doch kaum mehr als ein Schiff, welches weit draußen den Horizont passiert.
»Helfen Sie mir«, sagte er ohne sich umzuwenden, um Cassiopeias blutglänzendes Lächeln nicht ertragen zu müssen. Tatsächlich aber zeigte die Rothaarige keine Regung, als sie erwiderte:
»Carlas…Karriere steht unter Verschluss.«
O'Mara grunzte herablassend. »Eure schmutzigen Geheimnisse interessieren mich nicht, Triagast. Mir ist egal, was die Weltregierung von ihr verlangte. Ich möchte verstehen, wer Carla ist, nicht, was sie tat.« Todmüde legte er die Stirn an das feurig illuminierte Fensterglas. »Die meisten Menschen erschaffen sich ihre eigene Hölle. Ich will wissen, wie Carla zu der ihren kam.«
Red Apple Palace, Rosary Hill
Ein Blick auf die schlafende Monarchin genügte, um den Reiz jener märchenhaften Schönheiten zu ergründen, die einzig der wahren Liebe Kuss aus ihrer Tristesse erretten könnte. Gleich der heldenhaften Königssöhne in den alten Geschichten trat Carla ungefragt an das Bett der schlummernden Catherine heran, eindringend in das Innerste ihres Gemachs und ihrer intimsten, sinnlichsten Verletzlichkeit. Jedes Mädchen habe von ihrem Prinzen träumen, diesem großen Heros, der durch Dornen und Drachengekröse watet und für seine Umstände kaum mehr verlangt als bedingungslose, grenzenlose, hirnlose Dankbarkeit. Selig ist die Schlafende, denn einmal erweckt, gehörte ihr Leben nicht länger ihr. Verpflichtung gäbe sich als Liebe aus, Liebe als Glück, Glück als Bestimmung. Das gute Märchen endet mit der Ehe, doch eine gute Ehe beginnt mit einer hingebungsvollen Frau — und welche Frau könnte sich williger hingeben als ein naseweises Dummchen frisch aus dem Winterschlaf? Gedankenversunken ließ sich Carla an der Bettkante nieder und beobachtete die ahnungslose Catherine mit der voyeuristischen Süffisanz einer Viper im Mauseloch. Schleichend, wie sich dunkle Wolken vor die Sonne drängen, schoben sich ihre schwarzen Nägel durch das karamellfarbene Haar der Puppenkönigin. Schwerlich genügte ein Kuss, um das zugedröhnte Geschöpf aus seinen Träumen zu reißen. In den aufgebauschten, rüschenbeladenen Seidenbezügen erinnerte das Antlitz der Monarchin an eine diffizile Kreation aus Marzipan, deren Verzehr zu gleichen Teilen befriedigte und befremdete. Im Moment war sie unangetastet und rein, schon der erste süße Bissen aber ließe das Kunstwerk verderben und die Illusion — wäre dahin.
30 Jahre zuvor
Pure Glückseligkeit keimt, wo ein Mensch aus dem Schlafe tritt. Zwischen geträumten Träumen und der wachen Welt blitzt ein flüchtiger Moment purer Unwissenheit, der weder fühlt noch denkt und allein dem Atmen gilt. Leben ohne Bürden, ohne Sorgen. Eine Existenz um der Existenz Willen, bevor die ertränkende Realität uns alle in den Alltag reißt. In diesem Traum nach dem Traum, der kaum einen Wimpernschlag anhält und jedem Gedächtnis trotzt, fühlte Carla die Schwerelosigkeit einer behüteten Kindheit. Doch wie all die kostbaren Momente, verflog auch dieser viel zu schnell. Die Sensation völliger Geborgenheit wich blanker Furcht, als Carla die dunkle Silhouette am Türspalt vorbeiziehen sah. Ein ächzender, schlurfender, hinkender Schatten im aufgeheizten Dunst des großen leeren Hauses. Ängstlich verkroch sich Carla unter ihre dünne Leinendecke, den armen Elefanten Fridolin eng an ihre Brust gepresst. Ob ihr die Panik den Schweiß auf die Stirn trieb oder Fridolins dichtes Vlies, war unmöglich zu sagen. Durch ihre Decke horchte das Mädchen nach dem Rumpeln in der Küche, aus der die stöhnenden Leidenslaute des Scheusals wie geknebelte Schreie drangen. Scheinbar fündig geworden kehrte es auf die knarzenden Dielen des Flures zurück, bis vor Carlas angelehnter Zimmertür plötzlich jeder Laut erstarb. Es beobachtete sie.
»Ich weiß, dass du wach bist.«
Untröstlich angesichts einer Tat, die ihr noch vollkommen unbekannt war, krabbelte Carla aus ihrem Kokon und knipste die Nachttischlampe an. Das gedimmte Licht gab der aufgedunsenen Visage ihrer Mutter eine grauenvolle Bühne, die sie fluchend und schleppend bespielte. Tiefschwarzer Mascara zerrann unter ihren verquollenen, rotentzündeten Augen und ihr braunes Haar triefte in Krausen Lumpen auf ihre zitternden Schultern. Carla bemerkte den rotbraunen Faden, der sich am Bein ihrer Mutter gen Boden schlängelte, sagte jedoch nichts. Selbst als sie die hübschen weißen Laken befleckte, tat das Mädchen keinen Mucks.
»Lach doch«, blökte ihre Mutter atemlos, bevor sie die eisgekühlte Flasche Tequila direkt an die aufgeplatzten Lippen setzte und eins, zwei, drei, vier kräftige Schluck nahm. Stinkende Rinnsale rauschten ihr angeschwollenes Kinn hinab und tropften auf die roten Fingermale, die sich unter dem zerfetzten Nachthemd abzeichneten.
»Ich lache nicht«, beteuerte Carla zur Ungnade ihrer Mutter.
»Aber du genießt es. Du genießt es, dabei zuzuhören. Ich weiß es.«
»Nein, Mama. Ich—«
»Du!«, blaffte ihre Mutter dreckig. Ihre Schenkel zitterten vor Schmerz und Wut und Ekel. »Immer dreht sich alles nur um dich. Carla hier, Carla da. Bei ihm wie bei dir.«
Instinktiv schreckte das Mädchen an das Kopfende ihres Bettes zurück und zog die Decke bis übers Kinn, als der Arm ihrer Mutter gefährlich ausholte. Doch statt der vertrauten Ohrfeige nutzte jene lediglich den Schwung, um ihren derangierten Körper tiefer in das Kinderbett zu hieven; direkt neben ihre verstörte Tochter. Mit manischen Augen glotzte ihre Mutter in die Leere des stehenden Flures, Carla mit dem Tequila-Arm wie eine Boa umschlingend. Mit jedem rücksichtslosen Schluck würgte sie das arme Kind und fühlte sich fantastischer als zuvor.
»Du weißt, was ich deinetwegen opfere?«, begann ihre Mutter das übliche Spiel. Wie stets antwortete Clara:
»Ja, Mama…«
»Ich war eine Schönheit, bevor du und dein Vater mich ruiniert haben. Das weißt du, oder?«
»Ja, Mama…«
»Denkst du an mich, manchmal?«, fragte sie nun und Carla kam nicht umhin zu wundern, dass sie fast ausschließlich an ihre Mutter dachte — von der Sekunde, in der ihr Vater das Haus verließ, bis zu seiner herbeigesehnten Rückkehr.
»Ja, Mama…«
»Und denkst du dann, was für ein Dummchen ich doch bin? Ein Dummchen, das deine gehässigen Blicke nicht sieht? Das Strahlen in deinen Augen, wenn er kommt, um mich zu quälen?«
Carla wusste nichts zu sagen und war ohnehin nicht dazu imstande, da sich der stinkende Flaschenhals gegen ihre Wange presste. »Ich…nein, ich—«
»Und wieder!«, fauchte ihre Mutter volltrunken, »Du! Du! Du! Du redest wie er, die gehst wie er, die peinigst mich wie er. Du weidest dich an den Qualen, die ich für dich erleide…erlitten habe. Elf Stunden lang habe ich dich aus meinem Körper gepresst…habe meine Jugend an dich vergeudet.«
Carla begann zu weinen, doch ihre Tränen riefen nichts als Verachtung in der verschmierten Fratze ihrer Mutter hervor. »Du hast mich ausgesaugt, Carla. Alles Gute hast du aus mir herausgesaugt. Und er vergeht sich noch an der leeren Hülle, die du übrig gelassen hast.«
»Es tut mir leid, ich—«
»Tut es nicht«, rotzte ihre Mutter ungehalten. Schlagartig versagte ihre Stimme, nur um alsbald mit nie gekannter Giftigkeit zurückzuschlagen:
»Ich bin nicht dumm, Carla. Ganz gleich, was dein Vater dir auch erzählen mag. Ich sehe dich. Ich durchschaue dich. Ich lese es in deinen Augen. Seinen Augen. Die ganze verdammte Nacht starren mich diese Augen an und ficken mich blutig und dann kommt der Morgen und dieselben verdammten Augen sitzen am Tisch und wollen Frühstück und nennen mich Mama.«
Ruckartig entzog sie sich dem Bett, sodass sich das Mädchen böse den Hinterkopf anstieß. Erst jetzt bemerkte Carla, dass ihre Mutter nicht nur vorne zwischen den Beinen blutete, sondern auch hinten aus ihrem…
»Vergiss niemals, wie schwer es mir fällt, dich zu lieben. Hörst du mich, Carla?«
»Ja, Mama…Tut mir leid, Mama…«
Seltsam zufrieden drehte ihre Mutter ab, auf dem Weg zur Tür gegen eine Kommode torkelnd und Carlas Puppen niederreißend.
»Du bist ein undankbares Kind«, polterte sie im Türrahmen, Tequila verplempernd. »Aber eine verdammt gute Lügnerin.«
Zurück in der Gegenwart
Mit baumelnden Beinen und wippenden Haaren begann Ondine zu erzählen:
»Notre Dame Des Fleurs hat alle Kreaturen am Himmel, auf der Erde und in den Meeren gemacht. Trotzdem mögen die Menschen nur die Tiere, die ihnen Geschenke machen. Bienen pusten Leben in die Blumen, Glühwürmer spenden Licht. Die Schnecken geben Fleisch zum Essen und Schleim für Arzneien oder Klebstoffe.« Bentley rülpste leicht vor Ekel, was sie nicht kümmerte. »Die Menschen sitzen gerne im Gras und lauschen den Singvögelchen, aber schimpfen über das Gezeter der Krähen. Der heilige Lazarus bemerkte das, ging auf einen Friedhof und sang mit den Raben und den Krähen. Die das sahen, die schalten ihn dafür oder nannten ihn verrückt. Aber der weise Lazarus wusste, dass unserer Dame Scharfsinn die Raubvögel gemacht hatte, damit sie Schädlinge picken und die Welt vom Aas befreien.«
Eine stille Weile saß Bentley mit versteinerter Miene da, leicht auf den hinteren Stuhlbeinen kippelnd und am Nietnagel seines Daumens nagend. Unfähig, sich von ihrem Anblick loszureißen, verfiel sein nachdenklicher Blick in ein geiferndes Glotzen, während sich die Fleischeslust in seiner Kehle zusammenbraute. Ein Grollen, ein Knurren, ein urtümlicher Trieb des Fressens und Verzehrens sammelte sich hinter seinen juckenden Zähnen wie ein Schwarm der prophezeiten Raubvögel; und bei Gott, was es ihm abverlangte, die krakeelenden Monster wieder herunterzuwürgen!
»Du…«, räusperte er sich mit einem hörbaren Kratzen im Hals, »Du kennst deine Katechismen…«
»Lerne alles auswendig, sonst straft die Dame durch den Stock!«, äffte Ondine den fetten Bruder Jacque mit aufgeblähten Backen und bauchiger Stimme nach.
»Du bist ein liebes Mädchen«, raunte Bentley verkniffen; abwägend, ihr königsblaues Haar zu liebkosen oder ihre bloßlegende Schulter zu streicheln. Die provozierende Unschuld in ihren Augen bedeutete ihm die Welt und ihre unter dem Saum hervorlugenden Knie ließen ihn lüstern brummen. Leise, aber gerade laut genug für Ondines aufzuckende Ohren. Nervös zerrieb sie eine blaue Strähne zwischen ihren winzigen Fingerchen.
»Alles okay, meine Kleine?«
Ihr flehendes Kopfschütteln brach ihm das Herz — und seine pochende Erektion gleich mit dazu.
»L’enfer, c’est les autres. Lass mich doch gehen. Ich will zu Mademoiselle de Fer…«
Colter Lane, The Jaggers
So Gott wollte, würde sich an diese schlimmste aller Nächte der schönste aller Morgen anschließen. So Gott wollte, würde hinter der nächsten Biegung die Kutsche des Bastardkönigs auf seine Familie warten. Peter Haywood war durch die Hölle gegangen, um seine geliebte Shanti und den armen Davy durch die aufgeputschten Horden zu schleusen. Die ganze verfluchte Stadt schien dem Blutrausch verfallen. Wer nicht selbst mit Fackeln und Knüppeln bewaffnet gegen die angeblichen Lairen zur Jagd blies, fand sich unentrinnbar dem Zorn der patrouillierenden Rudel ausgeliefert.
Im Schutz der Markise eines geplünderten Büchsenmachers drängte sich Familie Haywood in die Colter Lane, eine zugige Liefergasse für die ansässigen Gewerbe. Klimpernde Ketten hingen von aus den Backsteinen ragenden Hebewinden und der metallische Gestank ölschmierigen Rostes nagte an ihren Nasen.
»Hier muss es sein!«, keuchte Peter, »Er sagte—«
»Hat er gelogen?«
Shanti setzte sogar noch weniger Vertrauen in den Bastardkönig als ihr Ehemann und hatte die trügerische Sicherheit ihrer Dachwohnung nur unter größtem Unbehagen gegen dieses verzweifelte Glücksspiel eingetauscht. In ihrem Rücken sammelten sich bereits verirrte Funken, die knisternden Vorbote der fackelschwingenden Banden. Ohne Ausweg sondierte Haywood die Umgebung, bevor er den schwächlichen Davy auf die Schulter hievte und seine Frau tiefer in die lichtlose Gasse zog.
»Verfluchte Irre«, schimpfte er lautlos — in seinem Inneren aber wusste er, wem sein Fluchen galt. Die Wilde Jagd bot den Enttäuschten und Gepeinigten lediglich ein grausiges Ventil für ihre alltäglichen Entbehrungen. Jene geschundenen Seelen, die den Maschinen zum Fraß vorgeworfen wurden und die ohnmächtig dabei zusehen mussten, wie ihren Kindern dasselbe jammervolle Dasein blühte, durchkämmten nun die Straßen nach einem bereitwilligen Sündenbock. Die Wilde Jagd war weder rechtens noch fair — aber kathartisch und zutiefst durststillend. Noch immer jagte das ekstatische Jaulen der Jäger die Schreie ihrer Opfer durch die finsteren Gassen, schien sich aber zumindest von der Colter Lane entfernt zu haben. Verschnaufend stützte sich Shanti gegen eine der rußweinenden Fassaden, jäh den Lauf eines Gewehres an ihrer Schläfe spürend.
»Peter…«, schluchzte sie. Ihr Mann fand sie einem schlaksigen Halbstarken mit vernarbter Fratze und gefletschten Fischzähnen hilflos ausgeliefert. Weißblondes Haar hing ihm wie ein mottenzerfressener Schleier vor den lüsternen Augen und spaltete sich über einer verrenkten Knollnase.
»Bitte, Junge. Wir sind nur—«
»Die Haywoods?«
Peter und Shanti nickten verdutzt im Gleichtakt.
»Wird auch Zeit!«, griente der Fremde hässlich, bevor er den Lauf seines Gewehres nutzte, um ein scheinbar klemmendes Garagentor aufzustemmen. Zum Vorschein kam eine Art modifizierte Postkutsche mit eingedunkelten Scheiben und schwarzer Stahlpanzerung, die hinter vier bedrohlich gehörnte Windhunde von der Größe ausgewachsener Wildpferde gespannt worden war.
»Lairische Hundämonen!«, platzte es aus Haywood hervor, der diese sagenumwobenen Geschöpfe niemals zuvor mit eigenen Augen gesehen hatte.
»So sieht's aus. Und jetzt alles einsteigen! Heller wird's hier erstmal nich.«
Shanti bemannte das massive Gefährt als Erste, ihrem Mann den kränkelnden Davy abnehmend. Wie ein Page hielt ihnen ihr dubioser Kutscher die eisenverkleidete Tür auf.
»Passen Sie gut auf. Halten Sie Ihre Familie«, flüsterte er Peter beim Einsteigen zu. Sein Atem stank bestialisch, die Worte aber klangen ehrlich. »Das wird eine ungemütliche Fahrt und ich werde für nichts und niemanden anhalten. Capeesh?«
Haywood nickte todernst und betrat die hinter ihm zuschlagende Kutsche mit einem fokussierten Seufzen.
Doubletrouble Manor, Anne-The-Splendid
Cassiopeias Vortrag ward jäh unterbrochen, als eine schreckensbleiche Luca in O'Maras Krankenzimmer stürzte. Ihre stahlblauen Augen fixierten das große Balkonfenster, hinter dem nun auch O'Mara und die Agentin das Herannahen einer unheilvollen Präsenz wahrnahmen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren erhob sich die Rothaarige aus dem Rollstuhl, riss die Glastür auf und befahl den anderen die Flucht.
»Geht!«, forderte sie unnachgiebig — nicht an Luca oder O'Mara gerichtet, sondern Lorelei, die neben der Blonden im Türrahmen erschienen war.
»Was ist hier los?«, fragte Shrimati hinter ihrer Chefin, doch jene befand sich längst im Krisenmodus. In schwindelerregender Geschwindigkeit hatte sie O'Mara in seinen Rollstuhl geschubst und aus dem Raum gekarrt, Luca am Arm mitziehend.
»In die Tunnel…«, wisperte sie atemlos.
»Was?«
»In die Tunnel!«
Wie in Erwartung eines Bombeneinschlags scheuchte Lorelei ihre Schützlinge aus dem Raum gen Salon. Im letzten Moment nahm Shrimati noch Notiz von Cassiopeia, welche mit animalischem Fokus auf den Balkon hinaustrat. Erst marschierend, schließlich rennend schoss die Rothaarige durch die Nacht und tauchte mit einem gewaltigen Sprung von der Balustrade in den brennenden Nachthimmel ein.
Red Apple Palace, Rosary Hill
Das Fenster der Puppenkönigin führte zur Stadt hinaus; nicht etwa, weil der Ausblick auf das dauerdüstere Nickleby mit seinen labyrinthischen Straßenschluchten, kathedralischen Türmen und gotischen Fassaden genehme Träume anregte, sondern als drohende Mahnung an die Krone, niemals das verlorene Volk im Tal außer Acht zu lassen. Als weltliche Hirten der Heilenden Kirche sollte sich die Regentschaft verstehen und ihren Schäfchen körperliches Heil spenden, wo der Klerus die Seele reinigte. Aber weder der ersten Catherine, welche sich allein am industriellen Fortschritt ergötzt hatte, noch der Usurpatorin im schwarzen Lederrock bedeutete der Pöbel auf den Straßen mehr als das Schlachtvieh im Fleischerviertel. Selten hatten Carlas Rabenlippen eine wohlgeformtere, glänzendere Sichel gebildet als im flammenden Schein dieser dunkelsten aller Nächte. Vor ihr errichtete Nickleby seinen eigenen Scheiterhaufen aus dem Holz seiner Hütten und dem Fett seiner Bewohner, während in ihrem Rücken das Schicksal der einzigen Person, die diese Stadt hätte retten können, in Carlas schwarzlackierten Händen ruhte. Die schlangengrünen Augen der Schwarzen Witwe glühten wie schadenfrohe Kinder, als sie die urgewaltige Staubwolke über das Heiress Borough hinwegfegen sahen. Bald schon würde ihre treue Vasallin niederschnellen — und zerschlagen, was ihrer Herrin den Sieg missgönnte.
Während Lorelei die Evakuierung leitete, hechtete Cassiopeia mittels Moonwalk durch die Lüfte. Ihre schwarze Lederjacke flatterte, ihr rostrotes Haar peitschte und der Sturm — nervte. Heiser fluchend entdeckte Cassiopeia das fauchende Chaos, welches mang der zerfaserten Rauchschwaden auf Doubletrouble Manor zuraste. Mit der Macht eines Wüstensturms überflog Dionisia Lorca Nicklebys Häuserschluchten, einen wallenden Reifrock brodelnder Dürrewolken hinter sich herziehend. Cassiopeia zögerte keine Sekunde, warf sich selbstlos in die Einflugschneise der Staubfrau. Aus ihren schnappenden Haaren und herumwirbelnden Beinen sprudelte eine rote Woge, die sich zu einem zähflüssigen Fangnetz gegen Lorcas Ansturm manifestierte. Lorelei hatte ihre invalide Truppe eben die Treppe hinunter bugsiert, da prallte die naturgewaltige Front aus Staub und Verwüstung auf Cassiopeias rauschendes Blut. Für einen Moment betäubte das entstehende Donnerrollen die enthemmten Exzesse in den Straßen und sprengte Fenster, Hölzer und rußige Gaslaternen.
»Schneller!«, rief Shrimati unter Todesangst.
»Keine Chance«, gluckste Carla in ihrem Palast.
Wie ein brennender Meteor schlug Cassiopeia wenige Meter vor dem Stadthaus ein. Lorca indes schwebte gleich eines aus der Flasche entwichenen Dschinns vor dem ächzenden Körper der Rothaarigen nieder.
»Mir scheint«, hustete die sich aufrappelnde Agentin sarkastisch, »unser erarbeitetes Aggressionsbewältigungskonzept hat noch nicht die gewünschten Erfolge erzielt. Machen Sie denn regelmäßig Ihre Atemübungen, Dionisia?«
»Nur, wenn ich an deinen Tod denke«, zischte Lorca pfeffrig.
»Immerhin denken Sie an mich.«
»Schlampe!«
Mit fegender Hand entfesselte Lorca eine staubige Druckwelle, der Cassiopeias blutroter Wall nicht widerstand. Doubletrouble Manor ward aus der Existenz gerissen, noch ehe der letzte Blutstropfen ihre Finger verlassen hatte. Das Vermächtnis unzähliger Generationen tanzte in Spänen durch den tiefschwarzen Himmel und roter Regen prasselte auf die Trümmer.
»Miss…Dreadful?«
Sichtlich überrascht stolzierte Carla zum Bett der erwachten Puppenkönigin, die aus verklebten Augen richtungslos blinzelte. Der schockende Zusammenprall der Logia-Mächte mochte das Mädchen aufgeweckt haben, doch die eingeflößten Beruhigungsmittel ketteten sie an den Schlaf.
»Es ist alles gut, meine Königin«, flüsterte Carla maliziös, »Schlaft weiter.«
»Könnt ihr…könnt ihr die Königin holen?« Scheinbar halluzinierte das arme Püppchen gefangen im Halbschlaf. »Ich vermisse sie so…«
»Ich fürchte, diesen Wunsch kann ich Ihrer Hoheit unmöglich erfüllen«, hauchte Carla.
»Oh. Wieso…nicht?«
»Nun…«
»Mama hat mich nicht lieb.«
»Unsinn!« Flugs nahm er ihr das leere Milchglas ab und bettete sie in die von bunten Stofftieren überschwemmten Laken. »Mama liebt dich, sie…« Die Wärme seines Odems lullte Carla in sanfte Halbträume. »Sie weiß nur nicht recht, wohin mit ihrer ganzen Liebe für dich. Weißt du noch, wie du den kleinen Welpen der Winslows zu fest gedrückt hast und zur Vorsicht ermahnt werden musstest?«
»Er war so klein und süß«, stammelte die kleine Carla schuldbewusst, »Ich wollte das nicht, aber—«
»Ja, siehst du. Wenn wir etwas so doll lieb haben, dann wissen wir oft nicht recht, wie wir diese Liebe ausdrücken sollen. Genau so geht es deiner Mutter jeden Tag, wenn Sie in dein zuckerhübsches Gesichtchen schaut.«
»Wirklich?«, strahlte Carla bis über beide Ohren.
»Aber ja doch.«
»Geht dir das auch so?«
»Schlimmer«, gestand ihr Vater todernst, sich ganz nah an ihr grinsendes Köpfchen vorlehnend, »Ich möchte dich…AUFFRESSEN!«
Gackernd und quiekend erwehrte sich Carla seiner heißhungrigen Attacke, im fröhlichen Spiel mit Kissen und Plüschtieren nach den nagenden Beißern schlagend.
»Ihr seid die Königin, Catherine. Drum schlaft weiter. Sammelt Eure Kräfte.«
»Ich bin die Königin?«, lallte die schlaftrunkene Catherine mit einem dümmlichen Lächeln, »Bin ich…eine gute Königin? Oder bin ich wie meine…?«
»Verfickte Muttergottes!«, fluchte der Kutscher auf seiner rasanten Selbstmordfahrt durch die gesetzlosen Straßenlabyrinthe. Von allen Seiten strömten die fountischen Verrückten zur Kutsche, schossen und bewarfen die Fenster, hinter denen Familie Haywood um ihr Leben bangte. Steine, Flaschen, Holzlatten und gar Schuhe zischten am Kopf des Fahrers vorbei. Ganz Jaggers schien es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, die rettende Fahrt nach Ayecester zu vereiteln. »Was denkt ihr, wen ich hier kutschiere!?«, brüllte der Kutscher den heranstürmenden Horden entgegen, »Die verfluchte letzte Lilie von Og MacLarr?!«
Bellend und hechelnd galoppierten die riesenhafte Windhunde über den blutgetränkten Pflasterstein. Einer schnappte nach den umstehenden Jägern und riss einem den Arm ab, ein anderer packte eine kreischende Frau und schleifte sie bis über die nächste Straßenkreuzung, wo sie schließlich unter die Räder der Kutsche geriet.
»Gott im Himmel!« Haywood bekreuzigte sich quasi am laufenden Band, während Shanti ihrem verängstigten Sohn Augen und Ohren zuhielt.
»Jetzt wird aber geschlafen!«, sagte ihr Vater, »Fridolin!«
Carlas Plüschelefant sah sich dem drohenden väterlichen Zeigefinger ausgesetzt. »Du passt auf.«
»Aber, Papa!« Atemlos hob und senkte sich Carlas flache Kinderbrust im Einklang mit ihren klimpernden Äuglein. »Das Lied!«
Erst leise, wie für sich selbst, begann Carla zu summen. Beinahe mütterlich strichen ihre milchweißen Finger über Catherines witternden Nasenrücken und benetzten ihre Wangen mit sachtem Kribbeln. Gemächlich schwoll Carlas Lied an, formte Melodien und schließlich Worte aus den schwarzen Windungen ihres verwundeten Herzens.
»Der Rabe auf See singt sein einsames Lied…weit weg von Zuhaus…«
Der Schuss erschütterte die gesamte Karosserie. Niemals zuvor hatte Haywood ein Gewehr erlebt, wie es ihr Kutscher in dieser Sekunde gegen die Bewohner Nicklebys richtete. Leiber mit aufgesprengten Brustkörben und zerplatzten Schädeln säumten die Bordsteine oder wurden von der enormen Durchschlagskraft der Waffe gegen die Häuserwände geklatscht.
~Die See, sie stürmt, und der Rabe hat Angst…weit weg von Zuhaus~
Sie schienen das Jaggers hinter sich gelassen zu haben, rumpelten stattdessen über die Seitenstraßen Anne-The-Splendids den Randgebieten der Hauptstadt entgegen. Plärrende Menschenmassen mit Flicken in der Kleidung warfen sich gegen die vergoldeten Schlösser prachtvoller Stadtvillen. Shanti entdeckte eine tobsüchtige Verrückte, die schreiend und keifend wie eine räudige Kojotin in den Überresten eines zusammengestürzten Anwesens buddelte.
~Sein Flügel schlägt tapfer gegen den Sturm…er will nur nach Haus~
Endlich unterquerten die bellenden Hunde jene kupfernen Streben, welche die Randbezirke Nicklebys zusammenschmiedeten. Haywood spürte eine unermessliche Erleichterung, bis er die herabhängenden Leiber entdeckte. An Rohren und gespannten Stahlseilen hatte man die Unglücklichen mit aufgerissenen Wänsten aufgeknüpft. Unter ihren baumelnden Füßen labten sich Raben und Krähen an ihren heraustropfenden Gedärmen.
~Und der Himmel brennt und er brüllt wie die See…weit weg von Zuhaus…~
»Wir sind draußen«, verkündete der Kutscher feierlich — Nickleby lag hinter ihnen. Selbst die dämonischen Hunde schienen sich über die frostig-frische Marschluft zu freuen.
»Bald ist es geschafft«, schniefte Haywood mit einer Hoffnung, die er längst verloren glaubte. Unter Tränen drückte Shanti ihm einen Kuss auf, presste den einschlummernden Davy an sich und betrachtete das stille Schwarz des Horizonts, während Dionisia vor Zorn explodierte und Catherine abermals wegdämmerte.
»Doch dann kommt die Nacht und es ist vollbracht…er findet nach Haus…
Träumt süß, Hoheit«, hauchten die rabenschwarzen Lippen, »Morgen schon sieht die Welt ganz anders aus.«
Die Balken über ihren Köpfen gaben berstend nach, noch ehe das Donnerollen gänzlich versiegt war. Binnen Augenblicken füllte sich der geheime Tunnel wie eine Sanduhr mit Dreck und Schlick und Schotter. Ihre Zeit lief ab, rapide. Shrimati spürte, was getan werden musste. Festentschlossen warf sie sich der hereinbrechenden Gerölllawine als zerfließender Schwall Lehm entgegen und verklebte mit notdürftiger Mühe die Ritzen des kollabierenden Schachts.
»Lauft!«, schrie der unförmige Klumpen, aus dem der glänzende Stirnsaphir der Agentin wie ein drittes Auge glänzte.
»Ich lasse dich nicht zurück!«, behaarte Lorelei — zu spät. Der angetrocknete Lehm barst, die Erde flutete den Tunnel und Luca nutzte die wenigen Sekunden, die Shrimati ihnen verschafft hatte, um Lorelei in Sicherheit zu ziehen.
Zurück in der Gegenwart
»Ich…ich wollte danke sagen«, stammelte Kevin Quoll mit belegter Stimme. Perspektivs kauerte sein wundgeprügelter Körper in der trüben Abraumhalde, in die sich die versprengten Flüchtlinge gerettet hatten. Wie sie alle fror er jämmerlich, überschüttet von Dreck, Unrat und dem tauben Gestein, das der eisige Sturm in schwarzen Wehen über die tote Erde fegte.
»Dass ihr mich gerettet habt, meine ich. Ihr hättet mich zum Sterben zurücklassen können. Ich hatte euch alles gesagt, was ich weiß. Aber ihr habt—«
O'Mara hörte nicht hin. Aus dem tristen Schwarz des nächtlichen Tagebaus leuchtete die nicht länger weiße Gestalt der Lorelei Greenaway wie ein aschebefleckter Hirsch inmitten seines niedergebrannten Hains. Ebenso verloren, wie er sie anstarrte, starrte Lorelei in das flammengeküsste Firmament. Neben ihr drückte Luca im Schneidersitz den Schutt platt, das für gewöhnlich so stolz erhobene Kinn gen Brust gesenkt. Würde ein Maler das Bild vor seinen Augen auf eine Leinwand bannen, so könnte die schiere Verzweiflung und Düsternis der Szenerie nicht einmal mit menschlichem Blut eingefangen werden. Wie nur hatte Dionisia Lorca ihr Versteck finden können? Zielgerichtet war die Staubdämonin auf Doubletrouble Manor zugerast, frei von Zweifeln und beseelt von der Gewissheit eines bevorstehenden Sieges. Was tat Carla in diesem Augenblick? Taktierte sie, lachte sie, pickte sie Schlotze aus toten Augenhöhlen wie die aasfressende Krähe, die sie war? Wo war Krill, wie ging es ihm? Und Mercedes? Tausende Fragen durchlöcherten O'Maras Verstand und doch war alles, wonach sich sein Herz in den tiefsten Tiefen sehnte…ein verdammtes Glas Whiskey.
Vorratskeller des Red Apple Palace, Rosary Hill
Durch einen trüben, roten Film folgte die niedergeschlagene Palastwache dem manischen Wachschlaf des Bastardkönigs, der auf dem Boden sitzend, an Weinfässer gelehnt, ins Leere starrend einen sündhaften Whiskey direkt aus der Flasche süffelte. Was hinter den gleißenden giftgrünen Augen vorging, wagte der Soldat nicht einmal zu mutmaßen. Zu real pochte der Schmerz in seinen Schläfen, zu heiß rann das Blut über sein Auge. Alsbald überkam ihn eine unendliche Müdigkeit, die ihm die Lider schloss.
»Es gibt nichts zu debattieren«, pflaumte Gráinne Mayread Bloom patzig, »Sie hat dich in Ketten legen lassen, den Almanag-Kontrakt aufgelöst, die Wilde Jagd losgetreten, unserem Land faktisch den Krieg erklärt und…sie ist die Tochter ihrer Mutter, verflucht. Das allein sollte Grund genug sein, dieser gepuderten Triene die Nase in den Schädel zu treiben.«
»Ich bitte dich, Bloom«, protestierte Moira Graham reserviert, »Sie ist kaum älter als wir es damals waren und ebensowenig die Herrin ihrer Sinne. Kein Bannschwert fuhr nieder, um unser Verbrechen zu strafen, warum also verdient Catherine nicht dieselbe Nachsicht?«
Kompromisslos verschränkten sich Blooms feiste Arme zu einer sich selbst erbrechenden Schlange, breitbeinig neben dem trinkenden Ulysses auf den Kellerboden gefläzt und mürrisch schnaubend:
»Weil sie es alle verdient haben.«
»Ein wehrloses Mädchen zu töten darf nicht das Vermächtnis unserer Generation sein«
»Wehrlos? Wir reden von der fountischen Königin, nicht irgendeiner Nonne im Main Drag.«
Seufzend, einer übermüdeten Mutter ähnlich, ließ sich Moira gegen die Barriques sinken. Zu beiden Seiten des schweigenden Bastardkönigs positionierten sich die Frauen wie Engelchen und Teufelchen, zwischen deren divergierenden Einflüsterungen er zu wählen hatte.
Bentleys Versteck, irgendwo in Nickleby
Ein Teil von Heathcliff Bentley störte sich an der unnatürlichen Gefühlsarmut des kleinen Mädchens, deren markerschütterndem Geständnis weder Schreie noch Tränen gefolgt waren; ein anderer Teil hingegen dankte Gott dafür, da er fürchtete, die smaragdgrünen Augen würden statt salziger Tränen zorniges Gift verspritzen. Wann immer Bentley von seiner Lektüre aufsah, was er zu vermeiden wusste, erdolchte ihn Ondine mit todwünschenden Blicken oder zerquetschte ihn in den tiefen Falten ihrer erbost gewölbten Puppenstirn. Vorgebend, die staubigen Buchseiten tatsächlich zu lesen, schüttelte er ihre Vorwürfe ab und durchforstete sein Gehirn nach einer Lösung, einem Ausweg, einer Zukunft — die er nicht fand. Mit seinem Verrat im Bordell hatte er einen lebenslangen Pakt gebrochen, ein milliardenschweres Syndikat gegen sich aufgebracht und ganze Nationen in apokalyptische Tristesse gestürzt — und alles aus Liebe zu einer Königin, die ihn nun auf Geheiß einer ruchlosen Psychopathin neben Verrätern und Terroristen am Galgen aufknüpfen wollte. In einer entlarvenden Stressgeste, die Ondine keineswegs entging, wischte er sich Schweiß und Sorgenfalten in die ergrauenden schwarzen Locken. Wenn ihn die Häscher der Krone oder die Inquisitoren der Heilenden Kirche nicht aufspürten, so täten es Carlas Dämonin, Ulysses' Hunde oder die Meuchelmörder Almanags. Jahrzehntelang hatte er unter falschem Namen, unter falscher Flagge unaussprechliche Dinge getan und sich am Leid der Männer und Frauen bereichert, die von ihm hintergangen wurden. Wenn Lügen also tatsächlich kurze Beine haben — oder machen? — wie weit könnte ein Heathcliff Bentley alias Benedict Hearst dann schon kommen, bevor ihn seine Vergangenheit einholt?
»Was liest du?«, fragte Ondine plötzlich, ohne ihre mordlustige Fratze zu lockern. Seufzend schlug er das Buch zu, da er die Antwort beim besten Willen nicht zusammenbekam, und las halbherzig ab:
»Das Spiel der Göttinnen.«
Endlich lockerte sich die Weltuntergangsmiene des Kindes zu einem verstimmten Brauenrunzeln. »Die Mönche sagten immer, es gibt nur eine Göttin. Und sie beherrscht die Welt, nicht die Menschen.«
»Glaubst du das?«
Vor einigen Monaten noch hätte sie diese Frage mit einem frommen »Oui« beantwortete. Nun allerdings, da sie Mademoiselle de Fer kennengelernt hatte, büßte die Dame im Himmel für das Mädchen auf Erden zusehends an Strahlkraft ein. Entsprechend schulterzuckend hüpfte Ondine vom Bett und tippelte auf den nackten Füßchen behutsam zu Bentley. Wortlos streckte sie die Hand nach dem voluminösen Roman aus, den er ihr mit einem schmallippigen Lächeln widerstandslos überreichte.
»Es ist schwer«, bemerkte sie überrascht, schwebten ihr für gewöhnlich doch selbst die klobigsten Fundstücke wie Seifenblasen vor die Augen.
»Viele Seiten«, nickte Bentley, »Hartklappeneinband.«
Als wollte sie seine Behauptung verifizieren, klopfte Ondine auf dem Buch herum, dann nestelte sie an einer der Kanten. »Sehr spitz.«
»Ja…«, grunzte Bentley beim Anblick ihrer fummelnden Fingerchen mit neuentfachter Glut, »Ich kann dir vorlesen, wenn du mag—!?«
Mit einer Wucht und einer Rasanz, die den brünstigen Uhrmacher vollkommen übertölpelte, rammten ihm die kleinen weißen Arme den massiven Schinken ins Gesicht. Nicht frontal, um ihn bewusstlos zu schlagen, sondern mit der scharfkantigen Ecke voran, um ihn zu blenden. Zielgerichtet stach Ondine ihrem Entführer mit der Kante ins Auge, dass jener quiekend vom Stuhl kippte. Festentschlossen warf sie sich hinterher, kreischend, plärrend und zuhauend. Wieder und wieder trieb sie die Buchecke in die blutspritzende Augenhöhle, bis ihr der weißrosa Schleim gegen die gefletschten Zähnchen spritzte. Im Affekt schlug der wimmernde Bentley nach ihr aus. Ein dumpfes Poltern rumpelte durch den Raum, dann war alles still. Schmerzgeschüttelt raffte sich Bentley auf die Knie, eine zittrige Hand vor das zerquetschte Auge gespannt. Blut und Glibber rannen durch die behaarten Finger und saugten sich in die zerflederten Ränder des derangierten Buches, zwischen dessen Seiten Ondines leblose Mädchenhand nun wie eine getrocknete Blume lag.
Tender
Mercedes fühlte sich wie eine antike Heroine, die auf einem kohlenfressenden Esel einem Drachen nachjagte. So nah, dass das dröhnende Donnern des vorauseilenden Zuges bereits das asthmatische Paffen ihres armseligen Gefährts übertönte, war sie dem Ungetüm bereits auf den Fersen. Doch selbst alle Kohle des North Blue konnte der kleinen Tenderlok nicht genug Schubkraft einflößen, um zum ratternden Lindwurm aufzuschließen. Mercedes hatte keine andere Wahl, als den Sprung zu riskieren — zentnerschwere Prothese hin oder her. Ein letztes Mal schaufelten ihre schweißglänzenden Arme Kohlenstücke in den höllischen Schlund, dann warf sie sich ihren bronzebraunen Mantel über und hievte sich auf das Dach der mickrigen Maschine. Der Gegenwind schnitt mörderisch und eisig gegen ihre verschwitzten Wangen und schmerzte in den zweifarbigen Augen. Dennoch machte Mercedes die aneinandergereihten Güterwaggons in der Dunkelheit aus. Schwarz und lang wie ein eisenbeschuppter Tausendfüßler rumpelte des Ungeheuer über die Marsch. Ein letztes Mal blickte Mercedes hinter sich in die spektrale Schwärze, bevor sie ihren Greifhaken ausrichtete. Wie eine Harpune schoss die metallene Hand durch die Luft und punktierte zielgenau die Flosse des Wals — ohne seine Haut auch nur anzukratzen. Kaum effektiver als ein Löffel auf Felsbrocken prallte der Greifarm vom Heck des letzten Waggons ab, die Drahtwinde gefährlich in Richtung der malmenden Tender zurückschleudernd. Im letzten Moment wendete Mercedes die Havarie ab. Woraus nur bestand dieser Zug? Bisher hatte kein Metall der Blues oder des gespaltenen Weltmeeres ihren Waffen widerstehen können. Zu gleichen Teilen entmutigt und besorgt lotete sie ihre letzte verbliebene Möglichkeit aus: den perfekten Sprung. Zu kurz, und die Tenderlok würde in ihren Rücken krachen; zu schief, und ihre Rettungsmission sollte im Schlick der Marsch enden. Keineswegs überzeugt atmete sie ein, aus und ließ die Zunge über das Weiß ihrer Zähne gleiten. Ein, aus. Ihre linke Hand packte die rechte und verdrehte sie gegen den Uhrzeigersinn. Ein letzter Atemzug, bevor sich das prickelnde Feuer in ihrem Innern entfachte, der schwarze Dampf aus ihren Nüstern quoll und ihr gesamter biomechanischer Körper zu rattern begann wie die urgewaltige Lokomotive, der sie nachsetzte. Schlagartig bremste ihre zentnerschwere Kanone Mercedes nicht länger aus, sondern diente ihr als Bein wie jedes andere. Zurücktretend, Anlauf nehmend, losstürzend — abspringend.
Von einer Sekunde zur nächsten hing Mercedes zwischen Erfolg und Versagen in der Falle, ungelenk mit den Armen kraulend und ausgerechnet die klobige Prothese vorangestellt. Hinter sich die Tender, vor sich die explosiven Frachtwaggons ertrank Mercedes am Fahrtwind, bis sie auftrat. Ein Hammerschlag zerschmetterte das Firmament, als ihre Prothese das Dach des Waggons erreichte, jedoch auf der feuchten Oberfläche abrutschte. Hilflos kippte Mercedes vornüber, mit der blanken Stirn auf den schwarzen Waggon donnernd. Ihr Hirn erlitt einen Kurzschluss, der Rest ihres Körper aber handelte instinktiv und klammerte sich an den hervorstehenden Überhang des Wagens. Wie eine wehende Fahne flatterte Mercedes am Heck der Lok. Etwas in ihr wollte einfach loslassen. Doch aller Widerstände zum Trotz, schreiend und einhändig, zerrte sie sich auf den Güterzug. Die kalte, steinharte Unterlage wiegte sie wie die Arme einer Mutter. Ihr war nach feiern zumute, oder lachen oder weinen, doch stattdessen justierte sie lediglich ihr Handgelenk zurück in seine angestammte Position und genoss das Abschwellen der rasselnden Maschinerien. Was auch immer da unter ihr rumorte, war allerdings kein handelsübliches Geschöpf aus Stahl oder Eisen. Mit böser Vorahnung raffte sich Mercedes auf und, da sie sich im Finstern der Nacht nicht anders zu behelfen wusste, schlug auf den Waggon ein. Der Zündstoff bereitete ihr wenig Sorgen, schien er doch eine zweite Chemikalie zur Explosion zu benötigen. Einmal, zweimal, dreimal empfing die Lok daher die volle Liebe ihrer krachenden Linken…ohne nachzugeben. Besorgt pulte Mercedes den Handschuh, der ihr Maschinenskelett verbarg, von der rechten Hand und wuchtete die schwarzblauen Knöchel gegen das Dach. Dieses Mal durchzuckte ein dumpfer Impuls das mysteriöse Material, ähnlich einer ins Wasser abgefeuerten Kugel. Um ein Haar hätte Mercedes aufgelacht. Die Waggons waren aus Seestein.
Vorratskeller des Red Apple Palace, Rosary Hill
Ohne zu schmecken stopfte sich Ulysses eine Handvoll Oliven direkt aus dem Glas zwischen die desolaten Zähne, biss ein Stück Käse aus dem Rad und kaute den fetten Klumpen mit sichtlicher Gleichgültigkeit. Bloom und Graham waren verschwunden, um sich in den Gedärmen seines Geistes weiterzuzanken, und er war nicht schlauer als zuvor. Vielleicht spielte es ohnehin keine Rolle mehr. Seit er denken konnte, bescherte ihm sein Verstand entweder fantastische Bilder, grausige Wachträume oder schlechte Ideen. Eine glorreiche Epiphanias, wie sie O'Maras Riesenhirn am laufenden Band auszuspucken pflegte, hatte Ulysses nie beehrt. Am Ende des Tages traf er seine Entscheidung wie die Hunde, mit denen er lebte, oder der Schafbock auf dem unheilvollen Trilithen im Síd al Mag — aus dem Bauch heraus. Fressen oder nicht fressen, grasen oder glotzen. Wie zur Zustimmung grummelte sein gesättigter Magen unter den gespannten Hemdsknöpfen, woraufhin sich Ulysses sauertöpfisch auf die Beine flegelte. Des Bastardkönigs Backen waren noch randvoll, als er zur bewusstlosen Palastwache schlurfte und die Zeit von dessen blutbespritzter Taschenuhr ablas. Mit etwas Geduld nähme ihm Morrígan die Entscheidung ab, dachte Ulysses kauend, und griff sich im Gehen ein Glas Zuckerbonbons für den Weg.
Nachtzug nach Nickleby
Zielstrebig kraxelte Mercedes zwischen zwei Güterwagen, wo sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten: Nicht nur die Waggons selbst, sondern auch die Kupplung zwischen ihnen sowie sämtliche empfindsamen Gebeine der Lok schienen aus undurchdringlichstem Seestein gemeißelt oder wurden von ebensolchem geschützt. Radsätze, Ausgleichshebel, Blasrohrköpfe - Seestein, Seestein, Seestein. Diese absurde Maschinerie entpuppte sich damit um ein vielfaches widerstandsfähiger als Mercedes' filigraner Fingermechanismus und mutete brachial genug an, um selbst dem Kaiser der Bestien ein Kräftemessen abzutrotzen. Um dem hereinbrechenden Gefühl der Ohnmacht zu entkommen, quälte sich Mercedes auf den nächsten Waggon. Der Graue Spion hatte sich nicht in den Magen des Monsters geworfen, damit sie nun die Hoffnung verlor. Ächzend, keuchend, und über den Gegenwind schimpfend trieb sie ihren schwerfälligen Maschinenkörper von Waggon zu Waggon, bis sie endlich — endlich! — den Führerstand erreichte. Ihre Erleichterung ward jedoch jäh überschattet von einer unbeschreiblichen, unverhofft hereinbrechenden Übelkeit. Konvulsiv spie sie rauchschwarzen Speichel und undefinierbare Brocken aus, als wölbe sich ihr gesamtes Inneres nach außen. Selbst die Luft schien zu pulsieren wie ein krankes, verfettetes Herz. Mit Kopfschmerzen aus der Hölle stützte sie sich im Führerstand ab, verwirrt bemerkend: Auf ihrer Klettertour hatte sie weder den kohlenlagernden Schlepptender passiert noch fand sie nun den Bremshebel, Heizofen oder eine Steuerstange vor — geschweige denn jemanden, der sie bediente. Vielmehr schien sie selbst das einzige quasi-menschliche Wesen auf dem gesamten Gütertransport darzustellen. Der Führerstand, in Ermangelung eines treffenden Begriffs, bestand vollends aus einer fahrerlosen seesteinernen Armatur, deren drei Seiten von grobschlächtigen bronzebraunen Lettern zusammengehalten wurden.
MOR RÍ GAN
las sie in der Bewegung, am R abgestützt und düster mutmaßend: Keine Bremsen, kein Fahrer. Dieser Zug transportierte keine Bombe. Das verdammte Ding war die Bombe. Eine mobile Massenvernichtungswaffe, die ungebremst und unabbremsbar auf das Herz des Commonwealth zusteuerte. Irgendwo in Nickleby wartete vermutlich eine seesteinerne Vorrichtung, die die Waggons wie ein Dosenöffner knacken würde und—
Dieselbe eigentümliche Übelkeit, welche Mercedes zuvor den Magen umgedreht hatte, kehrte plötzlich als treibende Migräne zurück. Dieses Mal okkupierte sie sogar den vorbeizischenden Fahrtwind. Der gesamte Himmel schien zu beben, zu erzittern, und der heiße Schweiß auf Mercedes's Stirn gefror zu Eis. Aber nicht nur ihr Körper wurde in Mitleidenschaft gezogen. Unter ihren kreidebleichen Fingern klafften sublime Risse in den bronzenen Lettern des Führerstandes auf. M, R und G bröckelten auseinander, just bevor das gesamte Wort von der unsichtbaren Macht in Klüfte geschlagen wurde. Inmitten dieses Spuks geschah es, dass Mercedes' Radar heftiger ausschlug als jemals zuvor in ihrem Leben. Der brausende Sturm und das Pumpen des Zuges hatten die aufklappende Dachluke noch übertönt, doch die ausströmende Aura hätte selbst ein Monsun nicht fortspülen können.
Ein gehörnter Schatten entstieg dem ersten der Waggons, groß wie Callaghan und ebenso bedrohlich spaltete sein kraftvoller Rücken den sausenden Fahrtwind. Noch nie hatte Mercedes eine derartige Furcht vor dem Unbekannten verspürt. Sogar ihr Fuß gab sich so bleiern und störrisch wie ihre Prothese, als sie mit flatternden Nerven den Wagen erklomm und in den Dunstkreis der unheilverheißenden Kreatur eintrat. Ihr Unbehagen hinter der altbekannten Maske aus Schönheit und Stolz verbergend, stellte sich Mercedes der Gefahr mit geballter Maschinenfaust. Selbst jetzt noch, da sie zu beiden Enden desselben Waggons dem Sturm trotzten, überragte der Schatten die Kopfgeldjägerin um eine ganze Kopfhöhe. Obschon ein wilder Pelzumhang seine wahre Kontur verbarg, erahnte Mercedes unter den aufpeitschenden Schleppen muskulöse Schulterblätter, die wie das Rückgrat eines pirschenden Tigers mahlten. Immerhin erkannte sie nun das monströse Hirschgeweih, welches, in die Kapuze eingearbeitet, den Fremden zum Wendigo entmenschlichte. Noch immer verharrte er abgewandt, scheinbar unschlüssig über seine Rolle im Spiel dieser bitterkalten Nacht. Eben wollte Mercedes das Schweigen brechen, als im Schlag einer drehenden Böe ganze Urwälder wildgewachsener Lockenstrudel unter dem Geweih hervorpurzelten.
»Scheiße, ist das kalt!«, brüllte eine helle Frauenstimme den Sturm nieder, »Pissiges fountisches Wetter!«
»Wer bist du?«, rief Mercedes mit unüberhörbarer Überraschung. Zweifellos hatte sie den tiefen Bariton eines hünenhaften Banditen erwartet statt verschmitzter Kusslippen hinter wallenden Lockenbergen.
»Wer ich bin?«, wiederholte die Stimme neckisch, »Nur eine Reisende im Nachtzug nach Nickleby, wie du.«
Unzufrieden mit dieser Antwort hinkte Mercedes voran, doch die aufschnellende Hand der Reisenden im Nachtzug nach Nickleby ließ sie innehalten. Narbenüberzogene Finger stellten sich lang und muskulös gegen Mercedes und den Wirbelsturm, eindringlich warnend:
»Wenn du das tust…Wenn du hier und jetzt eine Entscheidung zum Wohle der Anderen triffst, statt an dich selbst zu denken, dann wird dies dein Untergang sein.«
»Bezweifle ich«, erwiderte Mercedes kämpferisch, worüber ein kurzes, rauschendes Lachen der Fremden gen Firmament entrückte.
»Ja…Ich kann mich auch nie entscheiden, ob mir Entscheidungen für andere Menschen leichter oder schwerer fallen sollten.«
»Wer…wer bist du?«, fragte die Kopfgeldjägerin zunehmend irritiert — denn das Timbre der Unbekannten hallte in ihren Ohren nach wie das leise Klopfen einer vor langer Zeit weggeschlossenen Erinnerung. Als könnte sie Mercedes' Gedanken lesen, schlug die selbsternannte Reisende nun tatsächlich den sonderbar vertraulichen Umgangston eines allsonntägigen Kaffeekränzchens an:
»Hast du eigentlich noch den Eid geleistet? Du weißt schon…Leben retten, Menschen vor Schaden bewahren und so weiter?« Die bloße Idee schien sie zu erheitern. »Vermutlich nicht. Ich auch nicht. Wäre schlecht für's Geschäft. Würde uns jetzt aber einiges ersparen, huh?«
Des sinnlosen Plauderns und ihrer eigenen Verzagtheit überdrüssig, ließ Mercedes die eherne Prothese ungeduldig aufstampfen — einen gellenden Paukenschlag lostretend, der die Fremde endlich zum Umwenden ermunterte. Splitter ihrer butterweichen Wangen schimmerten weiß und rund wie der herbstliche Vollmond durch die voluminös hervorsprießenden Lockenhorden und den Fellkragen ihrer Kapuze, ohne sich zu einem identifizierbaren Mosaik zusammenzusetzen. Umgekehrt hingegen erweckte die Fremde den Eindruck, Mercedes' sturmgeflutetes Antlitz mit der ausdauernden Leidenschaft eines passionierten Menschensammlers zu begutachten.
»Du bist unfassbar schön«, bemerkte sie ungeniert, »Noch schöner als damals. Wie auch immer das möglich ist.«
»Wer du auch bist und woher du mich zu kennen meinst…«, rief Mercedes weder berührt noch geschmeichelt, »Du tust es nicht. Also lass die Spielchen und sag mir, wer du bist!«
»Und ob ich dich kenne«, bekräftige die Fremde kryptisch, »Du bist die Tochter deiner Mutter.«
Verächtlich schnaubte Mercedes auf, sich eine haselnussbraune Strähne aus dem Mundwinkel kämmend, »Meine Mutter verkaufte Genitalwarzen und starb an Gebärmutterhalskrebs, lange bevor ich alt genug war, die Verbindung zu ziehen. Ich habe nichts mit ihr gemein. Versuch's nochmal.«
Schon wieder dieses Lachen. Poltrig, temperamentvoll, überquellend. Mercedes hatte es schon einmal vernommen, vielleicht sogar erwidert. Aber wo? Wann? Während es im jaulenden Wind zerschellte, sauste die Morrígan durch die ersten grimmen Vorboten Nicklebys. Rußende Fackeln säumten wandernde Dörfer aus Blechdächern und provisorischen Zeltbahnen, in denen die nächste Generation todgeweihter Arbeiter auf den Fabrikunfall ihrer Vorgänger spekulierte. Weder Zugluft noch Sturmwind vermochten das das Schreien erfrierender Babies und hoffnungsloser Eltern von den beiden Frauen abzuschirmen, die auf der vorbeidonnernden Maschine einen grandiosen Ausblick auf dieses Jammertal des vielgelobten fountischen Fortschritts erhaschten. Wie Ratten hatten sich Familien und Fremde gleichermaßen zu dicken Knäueln entlang der verdreckten Trampelpfade zusammengerauft oder knieten mit flehenden Händen um die vereinzelt glimmenden Feuerschalen, als beteten sie zu sterbenden Göttern. Loser Unrat und löchrige Wäsche vollführten akrobatische Manöver im nächtlichen Himmel, gejagt von räudigen Menschen und winselnden Hunden. Wessen schmuddeliger Unterschlupf den Sturmböen des Loch Llyr bislang standgehalten hatte, schimpfte nun lautstark über den vorbeirasenden Gütertransport, in dessen fauchendem Kielwasser Stofffetzen und Regenplanen fortgespült wurden.
»Erbärmliche Wiedergänger«, spuckte die Reisende beim Anblick des elenden Trecks aus, »Schlurfen in der Hoffnung auf Leben durch das Reich des Todes.«
Die versprengten Lichtquellen, die auf dem Meer der Heimatlosen trieben, ließen blitzende Blasen auf ihrem verhüllten Haupt platzen. In diesem psychedelischen Lichterspiel richtete sich wieder an Mercedes:
»Ich weiß genau, wer und was du bist. Du und ich, wir sind nicht wie diese armen Schweine da unten, die sich bereitwillig unter das tropfende Schlachtbeil legen und dabei noch im Blut suhlen, nur weil es warm ist.« Behutsam lüftete sie ihre geweihgekrönte Kapuze. »Du glaubst, ich kenne dich nicht? Du irrst. Ich weiß, dass du eine Kriegerin bist…dass du dir unendliches Leid aufbürdest und einsame Schlachten schlägst für die Menschen, die du liebst…Und ich weiß, dass du die Welt in Brand stecken würdest, könntest du den armen Émile aus ihrer Asche bergen.«
»Genug!«, forderte Mercedes unter dröhnenden Kopfschmerzen, sich zornentbrannt auf die Unbekannte stürzend und ihre Kehle mit den seesteinernen Fingern abdrückend. Nicht länger verfälscht von Haaren, Pelz und Nacht blickte das gute Auge der Enthüllten auf Mercedes herab — erregt beobachtend, wie sich der verschiedenfarbige Blick der schönen Kopfgeldjägerin zunächst katzenhaft verengte, nur um alsbald in einem erkennenden, glasigen Glotzen aufzugehen.
Missmutig setzte sich Mercedes an ihren kleinen Schreibtisch, schluckte ihren Kaffee wie Getriebeöl und begann unkonzentriert ab dem Punkt zu lesen, an dem ein dunkler Speichelfleck das Ende ihrer spätnächtlichen Lektüre markierte. Ein Blick auf ihre Uhr verhöhnte sie eben mit der Aussicht, noch fünf weitere Stunden mit »Toxizität und Aggressivität humanpathogener Bakterien« verbringen zu dürfen, als plötzlich das runde, strahlende Gesicht der lebensfrohen Dr. Coulomb durch die Tür rauschte und noch blendender und aufdringlicher als sonst seine eigene Sonne war. Mercedes wollte ihre Mentorin gerade gebührend formell informell begrüßen, als eine weitere Frau zur Tür hineinlugte und kurz darauf mit der selben Leichtfertigkeit hereinbrauste wie die blonde Ärztin zuvor. Das Gesicht der mannshohen Fremden glich in seiner rundlichen, aber nicht dicken Fülle etwas dem der Doktorin, doch versprühte es keine warme, sonnige Schwere, sondern schien jederzeit von einem frischen und luftigen Herbstwind umspielt zu sein, der die gewaltige walnussbraune Lockenmähne ständig wehend wippen und wallen ließ. Clementine Coulomb stellte die junge Frau als Beatrix vor, den Nachnamen nannte sie nicht und Mercedes versuchte auch nicht, ihn zu erfragen. Zu fasziniert war sie von der eigentümlichen Rhetorik, Mimik und Gestik dieser natürlichen, blassen Ausländerin…
Fassungslos wich Mercedes vor der Frau zurück, deren illustre Gesellschaft sie einst am ihr liebsten Ort der Welt mit der ihr liebsten Freundin geteilt hatte. »Beatrix…?«
»Ist eine ganze Weile her«, grinste ebenjene dasselbe berauschende Grinsen wie schon vor 15 Jahren — nun jedoch entstellt von einer abscheulichen Narbe, die ihr linkes Auge zu einem schaurigen lidlosen Orb verzerrte. Ihr verbliebenes Auge, dessen würziges Zimtrot sich deutlich gegen das Weiß abzeichnete, blitzte Mercedes herausfordernd an. Beatrix schien nichts geringeres als die unmittelbare Lösung des Falles von Mercedes zu erwarten.
Wie im Zeitraffer rekonstruierte die Kopfgeldjägerin die umwälzenden Geschehnisse der letzten Monate bis hin zum schicksalhaften Treffen auf Schloss Roßkosch und verknüpfte es mit der Frau vor sich. Clementine im Palast des Hermelins, Beatrix auf McKennas mörderischer Morrígan…
Die Absurdität der sich entspinnenden Narration ließ Mercedes' Hirn trudeln. Konnte es sich bei der unverfänglichen Beatrix, mit der sie einst in der Praxis ihrer Mentorin Kaffee geschlürft und Belanglosigkeiten ausgetauscht hatte, tatsächlich um die sagenumwobene Beatrix de Barra handeln, die legendäre lairische Lilie und berüchtigte Geißel des fountischen Empires?
»Damals schon sah ich es an dir…und ich sehe es noch«, psalmodierte Beatrix de Barra in den verqueren Rätseln, für die ihre Ahnen berühmt waren. »Ich habe es Clementine damals schon gesagt, doch sie wollte nicht hören.«
»Halt den Mund«, zischte Mercedes kalt, verknotete doch Beatrix allein das traurige Schicksal ihrer einstigen Lehrerin mit den Gräueltaten der vergangenen Monate und dem nur allzu gegenwärtigen Albtraum, in dessen brennenden Abgründen das Commonwealth in diesen Stunden dem Wahnsinn anheim fiel.
»Du hast ihr das angetan«, schlussfolgerte Mercedes angewidert, »Du hast Sie in Roßkosch gefangen gehalten…«
»Ich habe sie beschützt«, erklärte Beatrix, »und hoffe inständig, dass sie mir eines Tages dafür vergeben kann. Sie besitzt diese Schwäche. Nachsicht. Wir hingegen…«
Just in dieser Sekunde bretterte der Nachtzug durch einen der ersten Vorposten der Hauptstadt, in dem tumbe Gaslaternen diffuse weiße Fächer auf die Backsteine der umliegenden Gewerbe projizierten — und das entstellte Gesicht der lairischen Lilie zum Mondschein dieser mondlosen Nacht erkoren. Unter dem archaischen Pelzumhang, der aus Füchsen, Bären, Hirschen und anderen Waldbewohnern zusammengeflickt schien, trug Beatrix einen taillierten Gehrock aus einem feinen Zwirn, unter dem sich die erotischen Rundungen ihres Körpers ebenso markant hervortaten wie die bedrohlich spannenden Muskelstränge. In dieser surrealen Verschmelzung aus Urzeitlichkeit und Moderne, barfüßig und physisch überwältigend wie sie war, bäumte sich Beatrix de Barra wie ein kultisches Totem über Mercedes auf und sprach:
»Clementine war nie die richtige Lehrerin für dich. Sie hielt dich für eine unschuldige Seele, gefangen im Pandämonium. Aber ich durchschaue deine Wahrheit.«
»Dann solltest du dich fürchten.«
Beatrix lachte nur; nicht länger in anregender Geselligkeit, sondern hässlich verschroben unter dem weißtrüben Schimmern des entblößten Augapfels.
»Sei nicht albern, Mercedes Hurentochter. Ich sehe dich, weil ich meinesgleichen erkenne. Wir sind die wilden Töchter unserer Mütter, die leben, wie sie uns geboren haben: In Blut, und Schweiß und Schmerzen. Die furchtlos durch das Feuer schreiten, während andere panisch nach Wasser schreien; die des Morgens lieber barfuß aus dem Haus stürzen und über spitze Steine fluchen, als auch nur einen kostbaren Sonnenstrahl zu vergeuden… Und die mit geballten Fäusten den ersten Schlag erwarten, weil sie wissen, dass ihr Kampf jedes Opfer rechtfertigt.« Ein freudloses Lächeln blitzte über ihre vernarbte Seite. »Es war wirklich schön, dich wiederzusehen. Nur schade um die Umstände.«
»Ja«, erwiderte Mercedes — längst im Jagdmodus. »Wirklich schade.«
Der tosende Loch Llyr höchstselbst flüchtete sich mit eingezogenem Schwanz in die Alkoven des Himmelsgewölbes, als Beatrix de Barra die narbenversehrten Knöchel auf Mercedes niederfahren ließ. Den einseitigen Schwerpunkt ihrer Prothese nutzend, schwang sich die Kopfgeldjägerin geistesgegenwärtig in die entgegengesetzte Richtung und ließ die Faust der Lairin ins Dach des Waggons laufen; was ein ohrenbetäubendes Schlottern durch die gesamte Länge der Lok jagte. Unbeirrt nutzte Mercedes ihren Schwung und die Chance auf einen ungezügelten rechten Haken gegen das entstellte Gesicht ihrer Gegnerin. Schickte zuvor der Zusammenprall menschlicher Knochen auf Seestein ein Trommelfeuer durch die Finsternis, so krachte nun massiver Seestein auf menschliches Gewebe — ohne der Lilie von Og Maclarr mehr abzuringen als einen winzigen Blutstropfen im zuckenden Mundwinkel. Blankes Entsetzen vereinnahmte Mercedes, ehe sie im Führerstand zu sich kam. Ihr ganzer Körper schmerzte und Krümel des bronzenen Morrígan-Schriftzuges rieselten von ihren Schultern. Vage erinnerte sie sich an das hervorschnellende Knie der hünenhaften Beatrix, welche sich in diesem Moment vom Waggon in ihre Richtung schwang.
»Zwei Kriegerinnen, deren Entscheidungen zum Wohle der Anderen sie zu Erzfeinden machen«, sülzte sie im Stile mittelalterlicher Ritterepik, »Poetisch, findest du nicht?«
Schnappatmend zog sich Mercedes an der zerschlissenen Armatur empor. In der Bewegung knirschte ihr gesamter Brustkorb wie eine zusammengeknüllte Blechdose.
»Wieso…?!«, hustete sie anklagend, »All das…die Bombe…«
»Du kennst die Antwort.«
Den abgefeuerten Greifhaken der Kopfgeldjägerin fing Beatrix spielend im Flug. Zwar wickelte sich die der Draht um ihren Unterarm und zerschnitt den Ärmel, durchdrang aber nicht ihr weißes Fleisch. Vermutlich hätte Mercedes ihr gesamtes eisernes Gewicht aufbringen können und ihre Widersacherin dennoch um keinen Millimeter zu verrücken vermocht. Erst einmal war ihr solch eine unbändige Stärke begegnet — worauf sie nun spekulierte. Die Seilwinde surrte und eine überraschte Beatrix fand sich der herangezurrten Mercedes ausgeliefert. Endlich brachte der Cyborg genug Durchschlagskraft auf, um das Ziel empfindsam zu treffen. Die seesteinerne Faust prügelte das wildgelockte Haupt gegen die Außenwand des Waggons, von der es unter einem dröhnenden Gong! abprallte und gegen den Ellbogen der Kopfgeldjägerin krachte. Siegeshungrig ließ Mercedes zwei weitere demontierende Breitseiten gegen das wulstige Narbengeflecht folgen, bevor Beatrix ihren Leichtsinn verheerend bestrafte. In ihrer freien Handfläche verpuffte der dritte Schlag, ehe sie Mercedes in einer schwindelerregenden Bewegung den Arm verrenkte. Zunächst spürte die Kopfgeldjägerin nur den üppigen Busen der Lilie gegen ihren Rücken pressen, als ihr das Stahlseil ihres Greifhakens plötzlich die Luft abschnürte. Wie ein Assassine aus dem Gebüsch erdrosselte Beatrix ihr Opfer hinterrücks und ohne Gnade mit der eigenen Waffe. Die armseligen, krächzenden Misstöne eines abgeschossenen Vogels untermalten Mercedes' Todeskampf. Als wollte Beatrix diesem Leiden schneller ein Ende setzen, hievte sie ihre zentnerschwere Beute vom Boden. Eine Leistung, die bislang niemand vollbracht hatte außer…
Erst das Grün, dann das Blau in den Augen der Kopfgeldjägerin rollte in ihren Schädel zurück, bis das blutunterlaufende Weiß vom blinden Fleck im Gesicht ihrer Mörderin kaum zu unterscheiden war.
»Wir alle müssen mit unseren Entscheidungen leben«, flüsterte Beatrix ihr von hinten ins Ohr, »und manche von uns sterben sogar mit ihnen. Leb wohl.«
Mercedes erhob keine Einwände. Ein spitzes Klicken ertönte, das ihre Hand von der Seilwinde löste und sie zu Boden rutschen ließ — mit der schweren Prothese Beatrix' nackten Fuß zerquetschend. Aufjaulend verlor jene das Gleichgewicht und taumelte gegen den Waggon, wo sie die schwingende Kanone erst bemerkte, als jene ihr die Schläfe aufriss und sie vom Zug kickte. In einer turmhoch berstenden Fontäne schlug die Lilie von Og MacLarr im fountischen Marschland auf, ein eklig besudelter Klumpen Salzschlamm, der sich im Windschatten der davonratternden Morrígan rasch verlor.
Mercedes fühlte sich eher tot als lebendig und auf unbehaglichste Weise begnadigt. Sie atmete, doch diese Tatsache bezeugte weder den Verdienst ihrer Stärke noch die Nachlässigkeit der lairischen Lilie. Mit Tränen in den rotunterlaufenen Augen erbrach sie einen Schwall ölig-schwarzen Gallerts quer über die Armatur, zu der sie sich zurückgeschleppt hatte, und schluchzte vor Schmerz. Wer auch immer meinte, Sterben sei leichter als Leben, hatte keine gottverfluchte Ahnung. Eben wollte sich Mercedes in ihrer eigenen Kotze zu einem mutterlosen Häufchen zusammenkauern, als die winzige Teleschnecke des Grauen Spions aus ihrem Gehörgang lugte und zu brabbeln begann. Zunächst kaum verständlicher als das Rauschen im Inneren einer Strandmuschel, verdichtete sich das Murmeln zu rudimentären Lauten und artikulierte schließlich umso menschlicher, je grauenhafter sich Nicklebys gotische Turmspitzen gegen den flammengeküssten Horizont abzeichneten.
»Hallo…?«, fiepte Mercedes nahezu unhörbar. Die blauschwarzen Schnürmale hielten ihre Kehle noch immer im Würgegriff, »Hört…hört mich jemand…? Bitte…«
»Mercedes? Bist du's?«
O'Maras vertraute Stimme ließ die letzten Dämme brechen, welche Mercedes' Starrsinn so hartnäckig zu kitten versuchte. Heiße Tränen strömten über ihr sonst so stoisches Antlitz und tropften auf die dankbar gefalteten Maschinenhände.
»O'Mara«, keuchte sie, »Bist du allein?«
»Nein«, erwiderte er vielsagend, »Sie hört zu.«
»Mercedes!«, skandierte eine ihr unbekannte Frauenstimme, »CP0 Greenaway am Hörer. Ist mein Agent bei Ihnen?«
Derart schwachsinnig schüttelte Mercedes das leer starrende Haupt, dass ihr ihre wüsten haselnussbraunen Strähnen die Augen verklebten. Das lähmende Schweigen folgerichtig deutend, räusperte sich Lorelei in einem brüchigen Atemzug:
»…Lagebericht?«
»Es ist ein Zug. Und der Zug ist eine Bombe und…er lässt sich nicht aufhalten. Seestein…alles ist Seestein. Ich kann Nickleby bereits sehen…«
Mercedes konnte beinahe hören, wie sich O'Maras geistiges Getriebe in Bewegung setzte. Stets stellte sie sich vor, sein Hirn sähe aus wie der Rest ihres Körpers.
»Was ist mit der Sache auf ›Van Hoord‹?«, kombinierte er rasiermesserscharf. Vage erinnerte sich Mercedes an diese Jagd und vereinte:
»Ich kann den Zug nicht stoppen, ich…ich bin nicht stark genug.«
»Dann überlass das uns. Auf deiner Strecke kommt ihr am Cluster Park vorbei. Viel Platz.« Woher auch immer er das wusste. »Dort lassen wir ihn entgleisen. Wenn du Bäume siehst, mach dich bereit. Wir bereiten dir einen gebührenden Empfang…«
»Das will ich hoffen«, hüstelte Mercedes galgenironisch. Ein Schmunzeln jedoch brachte sie nicht über sich.
Carla hingegen bleckte ihr gewohntes Rabenlächeln perfider als ein grausames Kind mit einem spitzen Stock, bevor sie ihre Abhörschnecke fortlegte und sich wohlig streckend aus ihrem rabenschwarzen Ohrensessel schälte.
»Nun kannst du es beenden«, gähnte sie über ihre Schulter hinweg gen Lorca, welche mit leeren Händen und einer marsroten Kraterlandschaft an Stresspusteln in den königlichen Palast zurückgekehrt war und seither mit schweigend-schwelender Glut durch den rothölzernen Teesalon tigerte. Carla spürte das reißende Verlangen in ihrer Vasallin aufkochen, einen unbändigen Löwenhunger nach Gewalt, Zerstörung und Verzweiflung. Mit jeder tatenlosen Minute loderte die Zündschnur in Lorcas Innerem weiter und rasanter und Carla war keineswegs gewillt, der Detonation aus nächster Nähe beizuwohnen. Dieses zweifelhafte Vergnügen behielt sie den ahnungslosen Kopfgeldjägern vor.
Im tumben Leuchtkreis der Laternen gebar die Marsch vor ihren Augen ein Fohlen der Erde und des Wassers, mit einer Mähne aus Marschschlamm und der Kruste eines Sumpffisches. Seit der ohrenzerschmetternde Knall sie aus dem Schlaf gerissen und schmutzigen Salzregen über ihr kleines Lager ausgegossen hatte, herrschte zwischen den durchnässten Zelten wildes Getuschel. Manche beteten, andere fluchten — zum selben Gott. Einzig die Kinder schienen erpicht, die Kreatur im Krater von Nahem zu bestaunen. Zum Leidwesen der Eltern, hatten sie doch ihr Lager in der verödeten Salzwiese aufgeschlagen, um diese grässliche Nacht unbeschadet zu überstehen. Aus ihrer Mitte wagte sich schließlich eine junge Frau namens Mabel an das grauliche Ding heran, aufatmend. Denn was zunächst mit einem neugeborenen Kelpie assoziiert worden war, jenen gottlosen Wesen also, die im carnischen Teufelssee Loch Llyr den gleichnamigen Sturm durch brünstiges Wiehern entfesseln, ward im Lichtkegel ihrer Lampe jäh entmystifiziert:
Es handelte sich um ein Menschengeschöpf, groß und stämmig zwar, aber doch zweifellos weiblich, welches sich zunächst auf allen Vieren aus dem Schlick gestützt hatte und nun schleppend aufrichtete. Niemand unter den Kampierenden erkannte in der besudelten Fremden die gefürchtete Heldenschlächterin, zumindest am Ausbleiben der Schreie gemessen. Auf Knien streckte Beatrix den Rücken durch, dass ihr Schlick und Matsch von den breiten Schultern platschten. Zaghaft fasste Mabel sie am Arm und erschrak bitterlich. Das blinde, lidlose Narbenauge der Lilie waberte wie ein Irrlicht in dem moordreckigen Gesicht und funkelte, als wollte es ihrer aller Seelen saugen.
Tatsächlich verspürte Beatrix beim Anblick dieser langen, dummen fountischen Pferdegesichter nichts als Hass und Verachtung. Wie eines der Wolfskinder aus den Schlagzeilen knurrte sie durch gefletschte Zähne wilde Worte, die den Umstehenden wie gutturale Tierrufe vorkamen. In Wahrheit handelte es sich um handelsübliches Lairisch. Doch erst Mabels unverhoffter Aufschrei sollte das gesamte Lager bis ins Mark erschüttern. Denn an der Fingerspitze, die zuvor die Schulter der Lilie gestreift hatte, fraß sich eine schimmelartige Verflechtung in Mabels Nagelbett. Fasrige Adern entfleuchten in ihren Handrücken und bildeten filigrane, verkapselnde Netzwerke den Arm hinauf. Panisch kämpfte sich Mabel aus ihrer Jacke frei. Sofort spiegelte sich in den angstverzerrten Augen ihres Lagers das volle Ausmaß des grausamen Fluches: Wie ein aggressiver Insektenschwarm nagte die schaurige Substanz an ihrer Haut, auf die Schulter übergreifend und modrige Labyrinthe zwischen den Poren spannend. Ekelhafte, schwammige Gebilde sprossen aus dem absterbenden Gewebe und züchteten heran, was nur als bluteiternder Fungus beschrieben werden konnte. Dem tumorartigen Rumpf entsprangen wiederum neue Myzelien, die sich bis über die zuckende Schlagader der kreischenden jungen Frau ausbreiteten. Auf ihren Wangen rissen Wunden auf, die Pilzköpfe wie Maden gebaren, und korallenähnliche Blattern brachen durch ihre Haut. Korkartige Wucherungen stülpten sich aus Rachen, Nase und Ohren, bis die parasitären Geschwüre ihr sogar die Augäpfel aus dem Schädel pressten. Unter einem unaussprechlichen Gurgeln sackte Mabel schließlich in sich zusammen, noch immer atmend, aber nimmermehr lebendig. Ein gärender Wirt für giftige Pilze. Über dieses abscheuliche Bildnis menschlichen Komposts fielen die verstörten Augenpaare des verbliebenen Zeltlagers unversehens auf Beatrix, welche eben ihren pitschnassen Gehrock abstreifte und den Fellüberwurf aus dem Sumpf fischte. Halbnackt wie eine pagane Göttin und ebenso grausam erwiderte sie das Starren. Dann stieß sie einen schrillen Schrei aus, der wie das Heulen einer Banshee durch die Lüfte schnitt und die ihr verhassten Founts von den Beinen riss. Für einen Moment schien sie abzuwägen, die schaumsprudelnden Leiber einfach im Marschwasser zu ersäufen. Sie tat es nicht, warf sich stattdessen den sumpfnassen Umhang über die Schultern und krönte sich mit dem tropfenden Hirschgeweih. Über Mabels Überreste und die krampfenden Leiber hinweg stampfte die Lilie von Og MacLarr den lodernden Kathedralen am Horizont entgegen, um geschehen zu lassen, was die arme Mercedes zu verhindern glaubte.
Gesprossen aus dem Geiste eines Mannes, der den freien Wuchs durch strenge Zucht ausmerzte und vom Laub der Natur dieselbe peinlichste Akkuratesse einforderte wie von den Zahnrädern seiner dystopischen Industrien, verhießen die schachbrettartigen Grassoden und symmetrischen Alleen des Cluster Park für gewöhnlich synthetisches, zivilisiertes, graues Grün inmitten der uniformen Arbeiterbaracken des Jaggers. In dieser längsten aller Nächte aber tummelte sich das blanke Chaos in Felicia Zhangs Fadenkreuz. Wie eine Sichel wetzte ihr mandelförmiges Auge durch das Visier ihres Präzisionsgewehrs, scheinbar festentschlossen, die rebellierenden Baumkronen systematisch abzuernten. Infiziert vom Rabiesvirus der Jagd hatte sich das dichte Geäst aus den formbindenden Drahtkorsetts freigebrochen, um mit Löwengebrüll in den fountischen Exzess einzustimmen. Mang der Gassen unter Zhangs Adlerhorst zersplitterten markerschütternde Schreie in den Wirren des Windes und aus den lichtlosen Bauten drang das Klimpern zittriger Rosenkränze wie rasselnde Klapperschlangen. Zerfressen von Schuld und einem Gefühl erstickender Ohnmacht presste Zhang den kirschhölzernen Schaft ihrer Waffe fester gegen die Schulter. Ein routinierter Augenaufschlag lokalisierte sämtliche ihrer Scharfschützen. Die Mietwohnungen des Jaggers fächerten sich konzentrisch um den Cluster Park, was ihren Männern denkbar günstige Positionen für den bevorstehenden Einsatz bot — ungeachtet der Beharrlichkeit, mit welcher das Schrapnell in ihrem Rücken gegen jenen rebellierte. Soeben wägte sie ab, einen Schmerztöter einzuwerfen, als ihr eine vorbeiziehende Windhose heißen Staub und drohende Worte um die Ohren pfefferte:
»Nicht vergessen, Chief Inspector!« Die geisterhafte Stimme der dämonischen Diane Rovira vervielfachte sich in den Wirbeln des Sturms zu einem orchestralen Kanon. »Alles hört auf mein Kommando!«
Zhangs Pupille rückte keinen Millimeter vom Zielfernrohr ab. Zwei Querstraßen weiter zog eine sektenartige Zusammenrottung fackelschwingender Schatten manische Kreise um die Gebeine einer angezündeten Kapelle. »Habe verstanden.«
Schnippisch schnaubend, oder zufrieden zirpend, verflüchtigte sich die wüstenbrandige Präsenz der Staubfrau wieder im kalten, fountischen Wetter. Kurz darauf illuminierte eine spontane Verpuffung über den ineinanderkrachenden Spitzdächern der niederlodernden Kirche das finstere Firmament — gerade lang genug, um den titanischen schwarzen Sockel des All Hallows' Tower wie den endlosen Leib eines Seekönigs in der Tiefe anzudeuten. Wieder meldete das scharfkantige Kriegsandenken nahe Zhangs Wirbelsäule glutheißen Protest an. Zähneknirschend fischte sie einen ganzen Schwall ihrer Tabletten aus der Hosentasche und kaute die bitteren Pillen wie Haselnüsse. Im Osten teilten sich derweil die ersten roten Sonnenstrahlen im Astwerk des Cluster Park, Scherben aus rotgrünem Licht über dem Stellwerk des Schienenkreuzes ausbreitend. Ein letztes Mal vergewisserte sich Zhang der Polizisten auf ihren Posten, just bevor zwei dunkle Kutten aus der Morgendämmerung des Parks schlichen. Pünktlich schlugen die zahllosen automatisierten Glockentürme der gefallenen Hauptstadt zur siebten Stunde. Ganz Nickleby erzitterte im Echo des düsteren Angelusläutens, unter dessen donnernden Schlägen sich die brennende Kapelle dem Gewicht ihrer eigenen Asche ergab. Gleich ihrer unsterblichen Seele schwang sich eine prasselnde Feuersbrunst aus ihrem Gerippe hinauf zum blutroten Morgenhimmel, aus dem der dunkle Chorus der Kirchenglocken allmächtig widerhallte. Läutend, zur letzten Stunde dieser langen, wilden Jagd.
Bentleys Versteck, irgendwo in Nickleby
Ondine erwachte und oben war unten und sie liebte es. Wie eine elektrische Entladung, die ihr schlappes Herz zum Schlagen animierte, durchströmte die altvertraute Sensation der Schwerelosigkeit ihre Glieder. Während gewöhnlichere Kinder durch heimatliche Felder streifen, die Arme zu Schwingen ausbreiten und Vogel spielen, schwebte Ondine einzig Kraft ihrer verzauberten Gedanken weit über den hohen Halmen. Quietschvergnügt schlug sie einen schraubenden Salto in luftiger Höh. Dann holte sie das Holz ein. Freude wich Enttäuschung und Enttäuschung brütendem Zorn, als sich Ondine mit kreiselndem Schädel und pochendem Kiefer auf dem schmutzigen Fußboden ihres möblierten Kerkers wiederfand. Ihr Flug? Kaum mehr als die sehnsüchtige Erinnerung eines erschütterten Gehirns. Nur langsam ertasteten Ondines nackte Füßchen den Unterschied zwischen Zimmerdecke und Dielen. Ihr Gesicht pochte dumpf, bis auf die zitternde Unterlippe, durch welche sich ein sengender Riss zog. Behutsam hob sie Kopf, Nacken, Schultern. Wie ein Vampir aus seinem Sag zog sie sich an einem unsichtbaren Faden empor — wo Heathcliff Bentleys einäugige Visage sie anstarrte, als wäre sie einer. Auf dem Bett hockend, bis zu ihrem Erwachen in den eigenen Händen versunken, haderte der gefeierte Vater des fountischen Fortschritt sichtlich mit der Bürde seiner abscheulichen Begierden. Die vormals lediglich angegrauten schwarzen Locken hingen schlaff und erbleicht vor dem gebrochenen Antlitz eines Mannes, dem jedwede Schärfe abhanden gekommen war. Das marmorne Kinn hatte sich am eingefallenen Kiefer stumpf geschabt und sein verschontes eisblaues Auge, zuvor noch klarer als ein Bergsee, spiegelte Ondines geprügeltes Abbild mit der Trübnis einer flachen Pfütze.
»Schau, was du angerichtet hast…«, seufzte er, »Wozu du mich getrieben hast…«
Ondine schwieg tausend Worte. In einer sämigen Bewegung frei von kindlicher Unbeholfenheit wandte sie sich dem großen Standspiegel zu, in dem sie erneut die verhasste erdgebundene Version ihrer selbst begrüßte. Ein gewöhnliches Kind wäre in Tränen ausgebrochen und nimmermehr verstummt. Eine gespaltene Lippe, blauschwellende Wangen und das blutverkrustetes Näschen kündeten von der tätlichen Hand des Uhrmachers. Immer weniger erinnerte dieses zerbrochene gläserne Geschöpf an das unberührte Mädchen, welches vor wenigen Stunden noch neben polierten Porzellanpüppchen die Vitrinen der dekadentesten Spielzeugläden hätte schmücken können. Wieder betrachteten die Kinder einander reglos durch den Rahmen des Spiegels. Dieses Mal jedoch entdeckte Ondine in den smaragdgrünen Augen der Anderen denselben schwelenden Hass, der auch ihre zarte Brust verzehrte. So schlossen sie einen Pakt. Ondine hörte nicht, was Bentley ihr versprach oder bot, worum er feilschte oder bat. Vergebung, Verständnis, Absolution? Jeder gehetzte Atemzug ihres Entführers befächerte allein die Kohlenglut in Ondines Herzen. Eine leibhaftige Amazone hätte kaum die Stärke zu übertrumpfen vermocht, mit der sich das Kind plötzlich Bentleys leeren Stuhl schnappte und unter einem entfesselnden Schmerzensschrei um die eigene Achse gegen ihr Spiegelbild schleuderte. Scheppernd barst das Glas zu unzählbaren Scherben, aus denen sich Ondine die größte als Waffe herauspickte. Mit vorgereckter Schneide trat sie Bentley entgegen. Er rührte sich nicht.
»Das willst du nicht. Leg sie weg.«
»Du hast mir wehgetan«, widersprach Ondine aus den tiefsten Tiefen ihrer jungen Kehle mit einer Stimme wie vernarbt. »Du bist genau wie sie! Ich hasse dich!«
Tobend rannten Ondines nackte Füßchen in eine Schlacht, die sie nicht gewinnen konnte. Obschon ihr ihre eigene Geschwindigkeit Übelkeit bereitete, bewegte sie sich für das trainierte Auge ihres Entführers kriechend langsam. Ohne sichtbare Anspannung gewährte Bentley der waffenfähigen Scherbe genug Raum, um sich seiner rasierten Kehle bis auf wenige Fingerbreit zu nähern. Ein Blinzeln später jedoch erstach Ondine nichts als Matratze. Im Wutrausch filetierte sie das weiße Fleisch, worauf allerhand Füllmaterial durch die Stube schneite. Als sie Bentley zwischen den weißen Flocken aufblitzen sah, war es bereits zu spät. Mit routinierter Effizienz entwaffnete er das kleine Mädchen und schubste sie auf das verstümmelte Bett.
»Du bist nicht wie meine Catherine. Nicht. Im. Geringsten!«, schimpfte er vorwurfsvoll. Dieselbe umnachtete Trance, die ihn im Bordell zum Unaussprechlichen zu treiben versucht hatte, besetzte nun jede Faser seines schnaubenden Körpers. Verzweifelt rüttelte und ruckelte Ondine an dem seesteinernen Fußreif, während Bentley seinem psychotischen Schub verfiel:
»Ich habe es versucht, ich…ich versuche es noch! Verstehst du es denn nicht?!«
Die vertraute Stimme seiner Mutter, die ihn in Zeiten der drohenden Schwäche stets zu stärken vermocht hatte, suchte ihn plötzlich wie ein übelträchtiger Poltergeist heim. Du bist kein Monster, Heathcliff. Du bist verflucht. Helden werden verflucht.
»Ich bin verflucht, ich…ich bin nicht das Monster hier! Ich habe dich beschützt…Ich bin es nicht! Alles, was ich will, ist dich zu beschützen. Vor ihm. Das musst du mir glauben!«
Den letzten Satz schrie er dem Mädchen mit der Wucht einer Ohrfeige ins Gesicht. Heiße Tränen rollten über seine zerfurchten Wangen, ohne Ondine für sein Leiden erweichen zu können. Alles, was sie verspürte, waren Angst und Hass. Das unentwegte Bummbumm, Bummbumm ihres kleinen Herzens trommelte bis in ihre Augäpfel. Sie hatte ihn längst durchschaut.
»Wenn du mich wirklich beschützen willst«, fragte sie, »warum hast du mich dann nicht zu meinen Freunden gebracht?«
Bentleys Adamsapfel sprang ertappt auf.
»Du bist ein Schwindler«, beschloss Ondine so klar, wie es nur Kindermünder zu tun vermögen. »Es gibt keine Monster. Nur dich.«
»Nein…«, hauchte Bentley wie betäubt, »Ich…«
Sanft streichelte er über ihre bloßen Schulter, den starren kleinen Körper an der Hüfte gepackt.
»Lass mich los«, forderte sie.
»Das…kann ich nicht. Verzeih mir.«
Mit Leibeskräften und doch vergebens erwehrte sich die kleine Ondine seiner grapschenden Finger, die ihr ramponiertes Kleidchen endgültig in Fetzen rissen, sie an den Haaren zogen und in die Matratze pressten. Heißer Speichel triefte aus Bentleys wölfisch gefletschten Zähnen auf ihre Stirn, ihre Wangen und schließlich auf die entblößten Brustwarzen, die unter den zerfledderten Stoffrosen hervorblitzten. Getrieben von der unerfüllten Lust eines ganzen Lebens fixierte Bentley ihre strampelnden Beine mit einer Hand, erstickte ihre hilflosen Schreie mit der anderen und verbiss sich in ihrem roten Höschen. Mit blanken Zähnen wollte er ihre unschuldige Scham freilegen, als die marode Wohnungstür plötzlich aus den Angeln knallte und ein hereinstürzender Bluthund Bentley am Nacken riss. Festgebissen transformierte sich das Tier in eine halbmenschliche Kreatur mit wildem Fell und intelligenten Augen. Den Hals des brüllenden Uhrmachers noch immer im Maul verkeilt, packten die nunmehr fünffingrigen Pranken ihr Opfer und wuchteten es quer durch den Raum, einen massigen Brocken Fleisch zwischen den spitzen Reißzähnen zurückbehaltend. Ohne Ondine anzusehen streifte sich CP0-Agent Headshot seine braune Feldjacke ab und warf sie dem Mädchen über den Kopf.
»Lauf! Die Treppen runter! Schnell!«, spuckte er mit dem blutigen Klumpen aus. Blindlings stolperten ihre nackten Beinchen gen Treppenhaus. Sie hatte den lädierten Türrahmen bereits erreicht, da zischte eine wütende Salve sausender Sturmschneisen um ihr kreischendes Haupt und schnitt die Etagen in Scheiben. Unter den Donnerschlägen unzählbarer Echos rutschten die zerstückelten Stufen wie in einem surrealen Gemälde ineinander und schließlich in die Tiefe. Ondine versteinerte. Vor ihr der Abgrund, in ihrem Rücken der Krieg. Es gab kein Entkommen. Nunmehr ohne Ausweg machte sie vor dem bodenlosen Loch kehrt und erblickte ihren hündischen Retter im Clinch mit einem Wesen, wie es Ondine nur anhand der Miniaturen in den verbotenen Büchern der Klosterbibliothek zu beschreiben vermochte. Dämonische schwarzlederne Schwingen hatten sich aus dem schlanken Rücken des Uhrmachers freigebrochen und sein eisblaues Auge schmückte nicht länger das blasse Gesicht eines Mannes, sondern die schwarze Schnauze eines fremdartigen Tieres. Vielleicht lag sie falsch, dachte Ondine — es gibt Monster. Mit den spitzen Zehenklauen voran verkeilte sich das geflügelte Biest in den Schulterblättern des aufjaulenden Hundes. Braunschwarz verschmelzend wirbelte das haarige Knäuel durch das kleine Zimmer, die Küchendiele zerschmetternd und schließlich die gesamte Wand einreißend. Sofort zog ein hereinfallender Lichtstrahl Ondines Aufmerksamkeit auf begrünte Erde, welche sich abschüssig hinter den bröckelnden Mauern auftat. Eine zweite Chance auf die ersehnte Freiheit schien greifbar nahe. Vorbei an den einander zerfleischenden Tiermonstren entkam Ondine durch das hoffnungsverheißende Loch — und fand sich unter einem lodernden Himmel wieder, umzingelt von weinenden Engeln und grimmigen Wasserspeiern. Zu allen Seiten ragten kathedralische Turmspitzen in das blutrote Morgengrauen und warfen lange Schatten über einen verwahrlosten Abhang voll Gräbern und Urnenmauern. Weder das monolithische schwarze Gestein der Notre-Dame-De-Fleurs mit ihren floralen Gravuren und edelsteinernen Arabesken, noch die kunterbunt verquirlten Eistürme des verschneiten Schloss Roßkosch hatten Ondine für dieses grauenerregende Panoptikum speerspitzer Fialen und messerscharfer Ziergiebel, hypnotischer Fassaden und labyrinthischer Streben gewappnet. Die geballte geometrische Anarchie gotischer Baukunst mauerte das Kind in dieser hängenden Nekropolis ein. Sie fühlte sich winziger als jemals zuvor, ratlos im Angesicht der unheilverheißenden Gemäuer und den hohlen Blicken der rußverkrusteten Glasaugen schutzlos ausgeliefert. Doch die kämpfenden Ungetüme drängten Ondine in den Garten des Todes, zwischen dessen morbiden Alkoven sie sich rasch verlief. Jeder Pfad führte sie an eine neue Vertikale, sei es eine der schaurigen Turmspitzen, aus denen die steinernen Teufel ihr grässliche Grimassen schnitten, oder ein steiler Abgrund hinab in die endlosen Häuserschluchten der Hauptstadt. Zu jung und weltfremd, um das wahnwitzige Ausmaß ihrer Situation zu begreifen, irrte das Kind durch die verschlungenen Reihen efeuverhangener Mausoleen, verwitterter Denkmäler und namenloser Gräber. Kein Weg führte sie in Sicherheit, keine Stufen trugen sie zu Erden. Denn was Ondine für einen einfachen Hügel gehalten hatte, bildete in Wahrheit das nordöstliche Langhaus der Cathedral City, einem chimärischen Gebirgskamm ineinander verworrener, verrenkter Kathedralenkomplexe, die sich im Flammenschein des Morgens wie die Hochburg der Hölle über dem Jaggers auftaten.
Den Tränen nahe sackte Ondine unter den marmorweißen Augen einer entbeinten Heiligenstatue in sich zusammen. Die eisige Höhenluft nagte an ihren halbnackten Gliedern, in naher Ferne knurrten, bellten, jaulten, kreischten die beiden Scheusale lauter als ein ganzer Urwald blutrünstiger Bestien. Verloren wie die Namen der Toten, die unter ihren Knien im Dachgebälk vermoderten, kauerte sich Ondine in Headshots dünne Jacke; mutterseelenallein auf einem verschollenen Friedhof über den Dächern von Nickleby.
Cluster Park, Jaggers
Bis an Zhangs Ausguck bleckte die unaussprechliche Hitze des trockenen Gewitters, welches sich platzregenartig über dem Cluster Park entladen hatte und den Scharfschützen die Sicht nahm. Hinter dem Wolkenbruch aus Staub verschwommen die stolzen Baumalleen zu diffusen Strichen und die feurigen Finger der Morgensonne verfaulten zu Asche. Kaum mehr als ein vergilbtes Glühen durchzog die wogenden Dünen wie verödetes Land nach einem atomaren Endschlag. Fragende Finger reckten sich zu allen Seiten des Parks aus ihren Verstecken, mit aufgeregten Handzeichen eine Antwort erbittend, die Zhang nicht zu liefern wusste. Rasch ermahnte ihre aufschnellende Faust die Polizisten zur Geduld; wohlwissend, mit welch treibendem Hunger trainierte Schützen dem aufplatzenden roten Konfetti entgegenfiebern.
Gekleidet in das Strahlen, das sie dem Morgengrauen geraubt hatte, manifestierte sich Dionisia María Lorcas gebräunter Körper inmitten der undurchdringlichen Staubschwaden. In einem rückenfreien Abendkleid aus karmesinrotem Tarlatan, barfüßig und glatt, trat sie den aufgeflogenen Gestalten am Weichenkreuz entgegen. Ihr schulterlanges, kohlenschwarzes Haar verströmte die pfeffrige Süße eines Fiebers und das mediterrane Braun der gekräuselten Lippen glühte ebenso heiß.
»Hab ich euch!«, fauchte sie, mit jedem wütenden Wort einen pulsierenden Herzschlag durch den orangenen Wolkenhort pumpend. »Dieses Mal entkommt ihr mir nicht!«
Mit einem bloßen Wimpernschlag pulverisierte sie die Hebel des Weichenwerks, noch ehe die Vermummten überhaupt das Sicherungsschloss hatten knacken können. Der Stahl bröselte ihnen unter den Händen weg, zusammen mit ihrer Hoffnung. Nach einem gedämpften Fluch, der ganz ergötzlich in Lorcas Ohren nachklang, lüftete sich die erste Kapuze. Sonnenblonde Haarsträhnen fielen wie eine Maske und entblößten das zermürbte Antlitz der Luca Briatore. Geschlagen, hilfesuchend. Doch O'Maras raue Stimme drang genauso verzweifelt aus den dunklen Stofffalten wie das Blau aus ihren flehenden Augen.
»Wie…?«, fragte er tonlos.
»Wie?«, zischte Lorca genervt, »Das ist alles?! Welch dumme Frage!«
Ihre flachen Hand formte einen knochenharten Fächer, der O'Maras verhülltes Gesicht unbarmherzig in den Kies donnerte. Bewaffnet mit einer kümmerlichen Fingerspitze aus Silber ging Luca daraufhin auf die Staubfrau los, nur um wie ein lästiges Insekt gegen die Überreste der Weichenstellung geschnippt zu werden. Während er die kalte Erde einatmete, lötete sich die Hitze der nackten Fußsohle durch die Kapuze in O'Maras Hinterkopf. Sein Wille schien ungebrochen, doch körperlichen Widerstand suchte Lorca unter dem schwarzen Umhang vergebens.
»Du jämmerlicher, kleiner Mann. Schau dich an. Dein Fleisch ist schwach und dein Verstand verkümmert. Weiß der Teufel, was Carla in dir sah, als sie dein Genie pries und mich vor deiner Stärke warnte.«
Wellen des erstickenden Staubs spülten Luca wieder und wieder gegen die stählerne Apparatur, O'Mara wimmerte vor Schmerz unter dem zerquetschenden Gewicht der nackten Zehen und Lorca — fühlte sich um ihren Triumph betrogen. In einer kleinkindhaften Trotzreaktion sog sie den erstickenden Staubsturm in sich auf, als reinige sie den Cluster Park von einer dämonischen Präsenz, und komprimierte dessen Macht in ihrer bebenden Faust.
»Bitte…nicht!«, bettelte Luca schluchzend, »Gnade…!«
»Du bist armselig«, blaffte Lorca, »Genau wie Mary. Und…«
Genüsslich drückte sie den gurgelnden O'Mara tiefer in den Dreck. »Genau wie er. Die einzige Gnade, die ich euch gewähre, ist ein gemeinsamer Tod!«
Die Faust zum Henkerbeil gehoben, sammelte Lorca ihre Wut, Enttäuschung und Unzufriedenheit in einem kathartischen Vernichtungsschlag…den ihr Luca verderben sollte. Urplötzlich erblühte aus den tränengetränkten Wangen der Blonden das breiteste, unausstehlichste Grinsen der Welt.
»Alle Achtung«, pfiff Luca der Staubfrau durch die Zahnlücke zu, »Ich hätte dich niemals für eine Romantikerin gehalten.«
»Ich find's süß«, lachte O'Mara frei heraus, obwohl sein Mund voll Erde war. Derart irritiert, dass die altbekannten rötlichen Stresspusteln durch Lorcas Haut sprengten, zerrte sie den Vermummten auf die Beine und enttarnte — Kevin Quoll, mit einem Knebel im Mund und einer schadenfrohen Teleschnecke am Ohr.
»Was zum TEUFEL!«, kreischte Lorca ihm entgegen, das Kriechtier an sich reißend und Kevins Schädel zurück in den Boden rammend.
»Du feiger Hurensohn!«
»Ja, ich verstehe deine Enttäuschung«, nuschelte die Schnecke lax, »Wäre wirklich gerne persönlich da gewesen, um dir eigenhändig das bisschen Hirn aus der Nase zu ziehen. Aber ich hab ein Date mit deiner Chefin.«
Alarmiert riss Lorca den Blick gen Westen, wo sich die löchrigen Zinnen des All Hallow's Tower im Glanz der Morgensonne aus einem blutroten Nebelmeer erhoben. Halb Staub, halb Frau befahl sie Zhangs Einheit mit einem schrillen »FEUER!« den Abschuss und schwang sich in die Lüfte. Zu ihrer Entrüstung aber blieb der gellende Kugelhagel aus und ihr amorpher Körper verfing sich in einer zähen, braunen Schlacke, die sie zurück auf die Schienen klatschte.
»VERFLUCHTESCHLAMPE!«
In einer knochentrockenen Explosion schüttelte sich Lorca die dickflüssige Suppe ab. »Du!«
»Dionisia«, lächelte CP0 Shrimati Dhanvantara Gamisha schulmädchenhaft. Luca und den aufgerafften Kevin hinter einem Wall aus gehärtetem Lehm abschirmend, stellte sich die Agentin der Staubdämonin entgegen. Mit kalter Rage maß Lorca dieses zusammengekratzte Trio für einen Sarg ab.
»Ich töte sie alle«, brodelte sie wie ein schwelender Vulkan — nicht an Shrimati oder Luca gewandt, sondern in die quiekende Teleschnecke in ihrer Faust. »Ich werde sie zerfetzen. Und dann nehme ich mir dich vor, du—«
Das Echo flog zu langsam und die Kugel zu schnell, als dass Lorca dem Schuss gänzlich hätte entgehen können. Ihrem Haki sei Dank verfehlte das Projektil immerhin ihr trommelndes Herzen.
»Haarscharf«, konstatierte Felicia Zhang, nachladend, und erteilte ihren Männern endlich den langersehnten Feuerbefehl. Als die zweite Kugel Lorcas Brust durchschlug und Blut statt Staub herauspresste, erkannte die Logia-Nutzerin, was Zhangs Treffer ihr genommen hatte. Unter stechenden Schmerzen floh sie wie ein Kaninchen im Zickzack aus dem Kugelhagel und warf sich hinter eine massive Eiche. Bei jedem Geschoss, das an ihren Ohren vorbeisauste oder die Rinde des Baumes zersplittern ließ, zuckte sie angstbange zusammen. Alles tat weh. Ihr Körper blutete. Sogar ihr Atem schmeckte nach Metall. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten spürte sie die Kälte des Windes und die Nässe der Erde. Als wäre sie ein Mensch.
»Noch am Leben?«, höhnte die Teleschnecke in ihrer Hand. Selbst durch den Hörer vernahm O'Mara das ungesunde Scheppern ihrer Lungen.
»Das…werdet ihr…mir büßen!«
»Ich denke eher nicht«, grunzte er, »Hab noch einen schönen Tod.«
Wilbur Hill
Der All Hallows' Tower entwuchs der nebelverhangenen Hügelkuppe des Jaggers wie ein Pokal seinem Sockel und krönte in gleichsam phallischer Selbstherrlichkeit die megalomanischen Tendenzen seines Architekten — oder der Nation, die ihn bezahlte. Während O'Mara über die Kreideumrisse niedergewalzter Familienhäuser humpelte, wanderte sein glasiger Blick entlang der neogotischen Fassade hinauf zu den bedrohlich vorgestemmten Dachzinnen, die den tempelartigen Hauben und Speerspitzen der Cathedral City kriegsbereite Wehrgänge entgegensetzten. In der Ostfront des Glockenturms klaffte eine zyklopische Augenhöhle in Erwartung des übergroßen Uhrenblatts und zwischen wankenden Gerüsten spannten sich Netze und Seile wie die Takelagen eines verfluchten Schiffes. Darüber ächzten rasselnde Ketten unter der Last schwerer Metallträger oder waberten wie zerfetzte Spinnweben im jaulenden Sturmwind — den O'Mara hörte, jedoch nicht spürte. Der unnatürliche weiße Nebel tauchte den gesamten Fuß des Towers in gespenstische Reglosigkeit.
»Wenn Lorca Carla als Schwert dient«, rief O'Mara aufs Geratewohl in die feuchte Brühe, nach dem Flachmann in seinem Jackett fingernd. »Dann bist du…ihr Dampfreiniger?«
»Kein sonderlich gelungener Scherz«, schallte es aus dem Weiß. Zunächst entdeckte der Kopfgeldjäger im Nebel nur schwebendes fuchsiarote Haar wie den ersten Farbklecks auf einer neuen Leinwand, bevor der stattliche Rest des Fremden nachfolgte. In seinem grauen Maßanzug harmonierte Douglas Remington hervorragend mit dem diesigen Dunst, der geisterhaft aus seinen leeren, verätzten Augenhöhlen quoll.
»Meine Fresse«, stieß O'Mara aus, «Wo findet sie euch Leute bloß?«
»Ich werde nicht zulassen, dass du Hand an sie legst.« Streng wie ein Marineausbilder klappte Remington seinen Blindenstock auseinander und stampfte ihn in das Straßenpflaster. »Du kannst nicht vorbei.«
Schulterzuckend nahm O'Mara einen kräftigen Schluck. »Mach das mit ihr aus.«
In diesem Moment fühlte der Blinde den Pfeil, der seinen Nebel durchstieß. Die Spitze bildete — ein Damenschuh? Zähneknirschend wehrte Remington den langen Absatz mit seinem Stock ab, taumelnd, aber nicht zurückweichend. Unter einem angestrengten Prusten stieß er den Angreifer von sich, sogleich nach dessen Landung lauschend. Sie erschien ihm federleicht, was ihn angesichts der schmetternden Attacke ehrlich überraschte.
»Douglas Remington«, sprach eine sonore Frauenstimme in jenem hochoffiziellen Tonfall, mit dem sich der Rothaarige im Büroalltag ständig herumplagte. »Im Namen der Cipherpol 0 der Weltregierung verhafte ich Sie wegen…Nun, beginnen wir doch mit Hochverrat und arbeiten uns nach oben.«
»Hochverr—?! Wer sind…« Erfasst von einer Erinnerung neigte Remington die schwarzen, toten Augenlöcher. »Ich…erkenne Ihre Stimme. Sie sprach vor einigen Monaten aus einer Teleschnecke zu mir. Nicht wahr, Agent…Moment…Agent Greenaway, richtig?«
»Diese Teleschnecke gehörte einem guten Agenten«, sagte sie schal.
»Mag sein.«
Remington gedachte nicht, über diese unverhoffte Begegnung seine Mission zu vernachlässigen. Blitzartig schlug er aus, seinen sich entfaltenden Blindenstock gegen den unbehelligt vorbeischlurfenden O'Mara verschießend. Der Kopfgeldjäger nahm nicht einmal die Hände aus den Hosentaschen. Längst war die Spitze an Loreleis Eisenpanzer abgeprallt und surrte zurück in Remingtons Stock. Ein anerkennendes Nicken später verflüchtigte sich O'Mara in den undurchdringlichen Nebelfluten, deren Aufrechterhaltung dem Blinden zunehmend Mühe bereitete, und ließ Lorelei mit ihrem langjährigen Zielobjekt am Sockel des Turms zurück. Der Revisor spürte die Wärme ihres Körpers und die undefinierbare Kühle, mit der sie ihn katzenhaft umkreiste. Hatte er zuvor noch gehofft, diesen Störfaktor schleunigst aus dem Weg zu räumen, kamen ihm nun ernsthafte Zweifel am reibungslosen Ablauf von Carlas Plan. Derartige Bedenken jedoch erwiesen sich als fatal. Ein wilder Tritt, wie ihn Remington schon zuhauf von den Vollstreckern der Regierung erlebt hatte, peitschte um sein gedankenverlorenes Haupt und spaltete den tristen Nebel, der ihm sein Augenlicht ersetzte.
Cluster Park
Der Kugelregen mochte versiegt sein, doch sein tödliches Echo spukte noch immer durch Lorcas Ohren. Die Hände vor der ausblutenden Brust gekreuzt, das zerschossene Bein nachziehend, schleppte sich die Schwarzhaarige aus ihrem Versteck zwischen den Eichenwurzeln tiefer in das üppige Dämmerdunkel des morgendlichen Stadtparks. Das Trommelfeuer der Scharfschützen hatte markante Spuren auf Bäumen, Sträuchern und Rasenflächen hinterlassen, wie sie an Schauplätzen berüchtigter Materialschlachten von Historikern studiert werden. Vermutlich hätte allerdings nicht einmal der gelehrteste Gelehrte hinter dem Ziel dieses Bombardements weniger vermutet als eine feindliche Armee — geschweige denn eine einzelne, angeschossene Frau. Als Lorca tastende Schritte im Astwerk knacken hörte, warf sie sich hinter einen klobigen, hässlichen Brunnen aus übereinander geschichteten Quadern. Der Schmerz brachte sie beinahe um, rosafarbener Speichel rann über ihre zuckenden Lippen und das bebende Kinn. Sie starb, jede Sekunde ein Stückchen mehr. Ihre Verfolger näherten sich wie achtsame, pirschende Löwinnen. Lorca spürte ihre Präsenz, obwohl das unerträgliche Feuer jeden klaren Gedanken vernebelte. Alles, was sie noch am Leben hielt, waren Instinkt und unbändiger, gottesverfluchender Zorn. Der nackte Überlebenswillen ließ sie zu Verstand kommen. Ein gutes Dutzend Kugeln waren in ihren Körper eingedrungen, die Hälfte davon letal; nur eine jedoch war von Bedeutung. Den bohrenden Stich schluckend, ertastete sie Zhangs Projektil in ihrer rechten, hinteren Flanke. Jeden weiteren Bestimmungsversuch wusste Luca Briatore zu vereiteln. Eine grobschlächtige, scharfkantige Klinge aus Silbererz schlug Brocken aus den Brunnenquadern und peitschte das sprudelnde Wasser. Geistesgegenwärtig duckte sich Lorca unter dem ersten Hieb davon, wo ihr bereits ein lehmbrauner Meteor auflauerte. Kaum mehr als Reflex ließ Lorca flach auf den Boden plumpsen, was ihr genug Schmerzen für drei Leben bereitete. Zähnefletschend trat sie nach Lucas Knie aus und ackerte sich auf die Beine, wo sie mit bloßen Händen nach der silbernen Klinge griff. Selbst halbtot und ihrer Kräfte beraubt rang Lorca der Blonden einen hitzigen Kampf ab und nutzte sie als menschliches Schutzschild gegen Shrimatis Lehmfluten. Keifend stritten die Frauen um die silbrige Waffe, bis Luca scheinbar die Oberhand gewann — tatsächlich aber lenkte Lorca die Hand ihrer Gegnerin und rammte sich die Klinge in ihre rechte Seite. Brüllend und spuckend zog sie eine blutrünstige Linie von den Gedärmen bis in die Nierenregion, zerfetzte die Hälfte ihres eigenen Leibes und beobachtete die herausplatzenden Organe mit perverser Erleichterung. Luca und Shrimati wähnten sich bereits als ruhmreiche Sieger, bis mang des platschenden Gekröses plötzlich ein helles Klimpern über die Bodenplatten des Brunnens perlte. Lorcas labiles Lächeln bedeutete den Frauen den Beginn eines Albtraums. Befreit von der Enge des seesteinernen Projektils, verpufften Lorcas bloßliegende Gedärme zu Staub. Flöckchen um Flöckchen waberte in ihren Körper zurückzog, just bevor sämtliche Bleikugeln durch den nunmehr formlosen, transparenten Leib der Schwarzhaarigen auf den Boden kullerten. Lorca war wieder der Tod geworden, und Luca sah sich ohne Ausweg.
»Aus dem Weg!«, brüllte in dieser Sekunde ein unverhoffter Verbündeter. Kevin Quolls hakischwarze Schulter rauschte an Lucas angststarrem Profil vorbei, bretterte die staubwabernde Lorca gegen den Brunnen und ließ den spitzen Ellbogen nachfolgen. Das fließende Wasser ermöglichte ihm ein, zwei, drei weitere Faustschläge gegen ihre lange, nunmehr nicht länger gerade Nase, bevor sich Lorcas wehender Staub in glänzende Schwärze tunkte und den gesamten Brunnen in einer gewaltigen Explosion in Stücke riss.
Luca und Kevin hielten sich für Leichen auf dem Weg ins Krematorium, als sie unter dem roten Himmel zu sich kamen. Dreckverkrustet, aber lebendig. Eine reißende Lehmflut musste sie aus Lorcas Schusslinie zurück ins Gleisbett getragen haben.
»Du kannst mir nicht schaden!«, kratzte Lorcas Furiengekeife in ihren Ohren.
»Das…will auch gar nicht«, antwortete Shrimati ruhig, »Aber ich kann verhindern, dass du anderen Menschen Schaden zufügst.«
Ehrfürchtig bezeugten Luca und Kevin Quoll das Duell der Erdgöttinnen. Shrimati, defensiv und kühl wie der flüssige Lehm, der sie umspülte, löschte die flammend heißen Staubstürme der Dionisia Lorca mit Leibeskräften. Ein Tsunami aus zerfließendem Ton brach sich über einem Wüstenorkan, Lorcas pulverisierende Faustschläge ertranken in blubberndem Erdschlick. Die Wunde der Seesteinkugel blutete noch immer, schien Lorca allerdings kaum auszubremsen. Zu übermenschengroß flammten ihre Rachsucht und ihr Hass.
»Im Schloss hast du dir schon einmal die Zähne an mir ausgebissen«, keuchte Shrimati sichtlich erschöpft, »Das gelingt mir wieder. Und wieder. Versuch's nur!«
Dieses Mal fiel Lorca auf die Finte nicht herein. Zhangs Geschoss streifte ihre ausweichende Stirn, ohne den winzigsten Makel zu hinterlassen. Zornrot blinzelte Lorca der Schützin in ihrem Dachstuhl zu, eine brausende Druckwelle gegen das Reihenhaus werfend. In letzter Sekunde schwappte eine urgewaltige Erdwelle an der Fassade empor, erhärtete und dämpfte die Wucht des Aufpralls. Wertvolle Sekunden, die Zhang das Leben retteten. Zwischen den herabkrachenden Holzscheiten und einschlagenden Lehmbrocken flüchtete sie durch das einstürzende Treppenhaus, während ihre Einheit das Gebiet um den Park »räumte« — kreischend und stolpernd.
Vergeblich versuchten Luca und Kevin indes, allzeit beschützt von Shrimati, der übermächtigen Lorca pointierte Stiche zu versetzen. Doch Carlas persönlicher Dämon bemühte kaum einen ihrer sonnenbraunen, langen Finger, um die beiden Angreifer von den Beinen zu reißen und neuerliche Staubwalzen über Shrimati hinwegfegen zu lassen. Die Lehmwälle der Agentin konterten die donnernden Energiewellen mit Bravour, schwanden jedoch zusehends, wohingegen Lorcas rasender Jähzorn mit jeder abgefeuerten Kanonade todbringender anschwoll. Schließlich brach ein staubspeiender Malstrom Shrimatis Bollwerk und überließ die schutzlose Agentin dem unermesslichen Wutrausch der Dionisia María Lorca. Diabolisch zwang sie ihre drei machtlosen Beutetiere vor sich auf die Knie und kanalisierte jenen zerstörerischen Finalschlag, welcher zuvor O'Mara hatte gelten sollen.
»Stopp!«, schrie die herbeieilende Felicia Zhang verzweifelt; und Lorca stoppte tatsächlich. Jedoch nicht um Zhangs Willen, sondern für das eigentümliche Rappeln und Rumpeln in der Ferne, welches die Bahnschienen unter Lorcas nackten Füßen vibrieren ließ.
»Wurde auch Zeit!«, motzte Luca aufatmend, tauschte einen verschwörerischen Blick mit Shrimati und ergoss fließendes Silber aus ihren Händen wie Wachs aus einer brennenden Kerze. Shrimati tat es ihr gleich, Lorcas Beine in einem stahlharten Gemisch aus Lehm und Silber einschließend. Die Staubfrau wusste nicht, wie ihr geschah. Ebenso fassungslos wie Kevin Quoll und Felicia Zhang, verfiel auch sie in leeres Starren. Ein riesiger, schwarzblauer Güterzug raste auf sie zu — jedoch war es nicht er, der das Weichenbett erbeben ließ. Eine Frau, die unmöglich als menschlich beschrieben werden konnte, stemmte die eisernen Hände gegen den Bullenfänger der Lokomotive und riss die Gleise mit bloßen Beinen auf. Rauch und Ruß entstiegen ihren Nüstern wie den Schlöten des Zuges, ihre zum Bersten gespannten Muskeln ratterten und ruckelten lauter als die malmenden Radsätze. Wie Gott einst seinen verstoßenen Sohn packte Mercedes Delacroix die titanische Lokomotive schließlich am Scheitel und wuchtete sie über ihr brüllendes Haupt. Der endlose Drachenschwanz herumwirbelnder Waggons zertrümmerte ganze Hauswände, rasierte Dächer, sprengte Laternen und entwurzelte uralte Bäume. Eine ohrenbetäubende Kakophonie hagelnden Schutts und knirschenden Metalls erschütterte das Jaggers. In Mercedes' Maschinenhänden wurde die Morrígan zum Morgenstern, den sie mit urgewaltiger Kraft auf Lorca niederfahren ließ. Augenblicklich zerplatzte jene zu Staub, den Silberlehm sprengend und die Frauen fortschleudernd. Doch der Augenblick genügte Mercedes. Der Seestein scherte sich nicht um Lorcas Logiakräfte und erfasste sie frontal auf seinem Sturzflug in die Baumplantagen des Cluster Park.
Gerodete Bäume, umgegrabene Erdhaufen und zersprungene Steinornamente besudelten die Schneise der Zerstörung, die Mercedes' Rückkehr in Nicklebys Stadtpark hinterlassen hatte. Ausgestreckt wie ein erlegter Lindwurm lag die Morrígan in einer Lache ihres eigenen Chaos danieder. Intakt, aber ihrer Gefährlichkeit beraubt. Rauchschnaubend sondierte Mercedes das Schlachtfeld, während sich Luca, Shrimati und Kevin Quoll stöhnend auf die Beine mühten.
»Keine Sekunde zu spät…«, hustete die Blonde ungewohnt ehrfürchtig. Freilich wusste sie um die Kräfte der Kopfgeldjägerin, die sie auf eine Stufe mit Krills Sturmfluten und O'Maras brutaler Physis erhoben. Doch Mercedes Delacroix ex machina zu erleben, den stinkenden Qualm zu atmen und die Hitze der brennenden Kohlenschlünde auf der Haut zu spüren? Luca ahnte, wie sich die eintreffende Felicia Zhang fühlen musste. Nur wenige Menschen vermögen das Antlitz wahrer Macht zu bestaunen, ohne an der eigenen Vernunft zu zweifeln. Oder sich einzunässen.
»Das war…unfassbar«, stammelte die Inspektorin wie ein Kind, das den Budenzauber eines Schaustellers zu ergründen versucht. »Mercedes Delacroix, nehme ich an?«
Die Kopfgeldjägerin nickte gequält, sich eine haselnussbraune Strähne aus den müden, schönen Augen streichend und ihre Prothese gen Cluster Park hievend.
»Ihr müsst gehen«, befahl sie stoisch, »Jetzt.«
Abseits von Kevin Quoll, der bereits die Beine in die Hand genommen hatte, stieß Mercedes' Anweisung auf entgeisterte Gesichter.
»Ich lasse dich nicht mit ihr allein!«, protestierte Luca, »Das war nicht der Plan!«
»Der Plan lautet ›überleben‹«, erwiderte Mercedes gnadenlos ehrlich, den zweifarbigen Blick auf die abgeknickten Baumreihen geheftet — wo plötzlich mehrere Waggons von einem staubberstenden Geysir in die Luft geschleudert wurden. Kampfbereit ballte Mercedes die seesteinernen Finger zur Faust.
»Ich bin nicht hier, um diese Stadt zu beschützen«, mahnte sie unheilschwanger, »…oder euch. Also verschwindet.«
Shrimati nickte verständig, Zhang entfernte sich mit sorgenvoller Miene. Nur die widerstrebende Luca musste von den beiden Frauen aus den zertrümmerten Gleisen gezogen werden, strampelnd wie ein bockiges Kind.
Gleich den letzten Überlebenden eines abscheulichen Krieges traten Mercedes Delacroix und Dionisia María Lorca einander in den verwüsteten Überresten des Cluster Park gegenüber. Blutend, erschöpft, abgekämpft. Roter Saft durchtränkte Lorcas rotes Kleid und färbte es nahezu schwarz. Ihre durchlöcherte Brust pfiff heisere Misstöne und eine tiefe Kerbe zog sich über ihren langen, schlanken Rücken. Jeder Atemzug schmerzte und schmeckte nach Verwesung. Mercedes hingegen spürte die nagenden Strapazen der vergangenen Stunden wie einen Anker an ihrem Hals, welcher den Würgegriff der lairischen Lilie noch immer nicht gänzlich verwunden hatte. In stillem Einvernehmen hinkten sie aufeinander zu. Keine der beiden durchlebte hier ihren stärksten Moment — für eine von ihnen jedoch würde es der letzte sein.
All Hallows' Tower
Er hasste Treppen. Er hatte sie niemals zuvor gehasst, doch an diesem Morgen verfluchte er jede Treppenstufe mit hingebungsvoller, weißglühender Leidenschaft. Aber Hass versetzte auch Berge und stürzte Königreiche, weshalb er den All Hallows' Tower Stufe um Stufe, Schritt um Schritt erklomm. Je höher er stieg, desto dichter nähten sich die weißen Fäden zwischen die Gerüste und Bauwerkzeuge, spannen filigrane Netze vor glaslosen Fenstererkern und dem diffizilen Maßwerk des gotischen Gemäuers. Die Gesamtheit aller Spinnenpopulationen der Neuen Welt hätte nicht den mehrstöckigen weißen Wald zu erschaffen vermocht, durch den er sich nun zu schlagen hatte. Je höher er stieg, desto zäher umwickelten ihn die weißen Schnüre oder verklebten ihm die moosgrünen Augen. Jederzeit rechnete er mit dem hinterhältigen Angriff der Schwarzen Witwe. Zu Unrecht. Hundeelend und auf allen Vieren, aber immerhin unversehrt erreichte O'Mara die letzte Etage des Turms, in der das klaffende Uhrenloch einen grandiosen Ausblick auf den Cluster Park bot. Über den zerborstenen Baumkronen vereinte sich der schwarze Qualm aus Mercedes' bebenden Nüstern mit Lorcas staubbraunen Schleiern und verhieß O'Mara den Erfolg seines kurzschlussartigen Plans. Obwohl sein Verstand jeden Gedanken an Luca abzuschütteln versuchte, sehnte sich sein Herz nach ihrem Wohlergehen. Eine Ablenkung, die ihn angreifbar machte. Ein klebriger Klecks Spinnweben klatschte in seinen Rücken und riss ihn rücklings. Glücklicherweise landete jedoch nur sein abgeworfenes Jackett im Netz der Schwarzen Witwe. Sogar seinen Flachmann hatte er geistesgegenwärtig aus der Innentasche retten können. Zur Feier nahm er einen Schluck, bevor er sich tiefer in den weißen Albtraum jedes Arachnophobikers wagte. Behutsam schlich er um schlauchartige Röhren und komplexe Mandalas, die zwischen Dielen, Stützbalken Dachgestühl rankten.
»So muss es in deinem Verstand aussehen…«, brummte O'Mara flach, bevor er lauter ausrief:
»Wenn du dieses Spiel gewinnen willst, dann zeig dich! Deshalb bist du doch hier, nicht wahr? Du hast dich aus den sicheren Mauern des Palastes gewagt, weil du weißt, dass wir diese Partie nicht endlos fortsetzen können. Wir sind im Endspiel. Jeder unserer Züge führt uns unausweichlich einer Niederlage entgegen. Wir wissen nur noch nicht, wessen Niederlage es sein wird.«
Ein düsteres Glucksen braute sich über O'Mara zusammen und ergoss sich in einem rollenden Gelächter aus den zitternden Netzkonstruktionen im Gebälk. Auf den dünnen Fäden ritt der Schall quer durch den Turm und wieder zurück. Der Kopfgeldjäger verspürte wahrhaftig keinen großen Drang, über sich zu schauen und die Architektin dieser widerlichen Spinnweben zu entdecken — und tat es dennoch. Kopfüber hing das schwarze Monstrum in ihren Seilen. Acht ekelhafte Beine zuckten, fühlten, formten. Zwei Kieferwerkzeuge malmten, mahlten, hämisch klickend. Und die rote Maserung auf dem pulsierenden Hinterleib glühte wie ein teuflisches Augenpaar.
»Wessen Niederlage dieser Morgen besiegeln wird«, klimperten die grässlichen Fangzähne süffisant, »steht doch völlig außer Frage.«
In beachtlicher Geschwindigkeit krabbelte die Spinne von der Decke gen Seitenwand, dichter an O'Mara heran, der sich im Spiegelbild ihrer acht seelenlosen Augen zur Fliege degradiert fühlte.
»Meine Dame schlummert wohlgehütet in ihrem Bettchen, mein König versauert sicher verwahrt direkt darunter. Mein treuer Remington schafft mir die Regierung vom Hals, Lorca verarbeitet Mercedes Delacroix zu Altmetall und deine kleine Luca nehme ich mir höchstpersönlich vor, sobald ich dich aus dem Weg geräumt habe. Du siehst mich im Zugzwang? Denk noch einmal nach!«
»Konterangebot«, sagte O'Mara mit erhobenem Mittelfinger, »Mercedes setzt deinem Pferd den Gnadenschuss, meine neuen Freunde von der Regierung kassieren deinen Pfeiler ein und ich sorge persönlich dafür, dass du meinen komischen Hut in Frieden lässt.«
Für einen Moment neigte sich das entsetzliche Spinnenhaupt in Argwohn. »Du…hast keine Ahnung von Schach, oder?«
»Natürlich nicht. Sehe ich aus wie 'ne Jungfrau?«
Trinkend schlenderte O'Mara direkt vor die kaleidoskopischen Glubscher der riesigen Schwarzen Witwe. »Mir geht es darum: Ich gewinne, du verlierst. Fick dich, Carla.«
Seine Führhand schoss schnell, doch das Netz der Spinne übertrumpfte ihn. Eine winzige Regung der borstenbesetzten Hinterläufe hatte genügt, um das Monster zurück an die Decke zu katapultieren und O'Maras Schlag in die Spinnweben laufen zu lassen. Nur unter Mühe gelang es ihm, seinen Arm aus der klebrigen Falle zu ziehen. Währenddessen entspross Carlas gepanzerter Rumpf dem arachnoiden Leib wie eine giftige Blume. Ihr teerschwarzes Haar wallte offen über dem glänzenden Außenskelett, das ihrem empfindsamen weißen Fleisch als hautenge Rüstung diente, und benetzte das dunkle Rabenlächeln wie ein Trauerschleier.
»Seit unserem Abschied an der Mole im Morgengrauen bin ich dir einen Schritt voraus«, schmunzelte sie, »Was lässt dich glauben, an deiner Situation habe sich irgendetwas geändert?«
Einen einzelnen Faden wie die Saite einer Harfe bespielend, senkte sich ein voluminöser Kokon vor Carla herab.
»Ich wusste nicht, dass wir mit Requisiten arbeiten dürfen«, witzelte O'Mara. Doch sein Lachen gefror zu Eis, als Carlas schwarze Finger den Kokon drehten und er in Krills fahle, leblose Augen starrte.
Ihre jungfräuliche Leber rackerte sich noch immer an Carlas hochdosierten Beruhigungsmitteln ab, als die Puppenkönigin in den starken Armen eines Mannes aus ihrem Delirium erwachte. Ein lichtarmer violetter Schleier hing über den vorüberziehenden Konturen des pompösen Korridors und malte grimmige Schatten unter die hohe Stirn ihres Häschers.
»Wer…wohin…?«
Statt klarer Sätze trieften fahrige Ellipsen und schleimige Spucke aus ihren blassen Mädchenlippen. Sie spürte weder ihre Zunge noch den Zugwind in ihrem verschwitzten karamellblonden Haar. Ihr ganzer Körper glich einem der ausgestopften Püppchen, denen sie ihren Beinamen verdankte, und ruckelte ebenso schlaff im unbeständigen Auf und Ab der kräftigen Schultern. Noch ehe ihr benebeltes Hirn gänzlich zur Gesinnung gekommen war, ergab sich ihr durchgerüttelter Magen dem Schwindel und entleerte sich lauthals über die goldfransenden Epauletten der scharlachroten Uniform ihres Entführers.
»Oh, gut!«, schnaufte er mit entfernt vertrauter Stimme, »Endlich seid ihr wach!«
Catherines verstopfte Ohren benötigten schleppend lang, um dieses gehetzte Timbre dem hochgewachsenen Arnold Fletcher zuzuordnen, Hauptmann Haywoods souveränem Adjutanten. In den fünf Jahren seiner Anstellung hatte die Königin den Lieutenant niemals in Eile, geschweige denn in derartiger Hast erlebt und erschrak über die Schärfe seiner Worte.
»Er hat sämtliche Notausgänge blockiert und die Leitungen gekappt…Doch seid unbesorgt!«, rief er besorgt, »Es wird alles gut! Wir schaffen euch hier raus!«
Sämtliches Hofprotokoll wich der treibenden Raserei, mit der er seine reglose Königin durch die stockfinsteren Flure gen Westtreppe entführte, die Stufen hinunterstürzte und über unerklärliche Schleichwege, Seitenflure und Dienstquartiere in Richtung des Vestibüls floh. Je näher das rettende Hauptportal heranrückte, desto klarer überlagerten ferne Echos die sich überschlagenen Stiefelschritte des braunhaarigen Offiziers. Der Nachhall des Lärms und ein beißender Gestank erinnerten die verwirrte Catherine vage an die Militärparaden, welche alljährlich zu Ehren ihres Geburtstages abgehalten wurden. Das Trommelfeuer unzählbarer Musketen folgte wüsten Schießbefehlen durch den schwarzen Pulverrauch, ehe ein ohrenerschütternder Donnerhall die lärmende Artillerie niederbrüllte. Das brachiale Beben schüttelte das gesamte Mauerwerks wach — und Catherine aus ihrer drogenumnachteten Trance.
»Fletcher?! Was geht hier—?!«
Barsch wie ein gewalttätiger Ehemann wirbelte er seine Herrin herum und erstickte ihren insistierenden Mund in der schweißgebadeten Hand. Zunächst zum Protest aufgelegt, verstummte Catherine schlagartig. Sie hatte ihn gesehen. Den untersetzten Schemen, der mit trägen, schweren Beinen die Säulenformation der Kolonnade abschritt. Noch bevor Fletcher sich mit der Königin vor dem Schatten davonstehlen konnte, traf der giftgrüne Blick den ihren — und ließ sie aufschreien. Das ohrenzerfetzende Kreischen durchbrach Fletchers Hände, die backsteinerne Tudor-Fassade des Red Apple Palace und zerschellte im flammengeküssten Himmel über Nickleby. Fletcher schluckte, der Mann im Dunkeln legte das Haupt schief. Zum Wettrennen gerüstet stoben der Soldat mit seiner Königin und ihr Verfolger in entgegengesetzte Richtungen davon. Sich das Mädchen wie ein verschnürtes Paket unter den Arm geklemmt, hechtete der Lieutenant durch die endlosen Fenstergalerien gen Vorhalle, während der Schattenmann quer durch das untere Foyer schnitt. Erst im sonnenbeschienenen Ostflügel lichtete sich der beißende schwarze Nebel und enthüllte den Albtraum, in den ihr Retter Catherine verschleppte. Verrenkte Leiber häuften sich in Klumpen vor blutbespritzten Zierwänden, schlaffe Gebeine hingen von zerborstenen Kristallleuchtern wie schauriger Festbaumschmuck. Spitze Knochen stachen wunde Zahnreihen in menschliche Haut und offengelegte Schädel säumten umkränzt von ihren abgezogenen Skalps die polierten Flure. Ein unglückseliger Gardist robbte auf dem blutsprudelnden Stumpf seinen ausgerissenen Beinen entgegen, einen schlammigen Schwanz heraussprudelnder Gedärme hinter sich herziehend. Fletcher übersprang ihn ohne Zögern. Catherine erbrach sich abermals. Salzige Tränen und zäher Magensaft markierten ihre Fluchtroute, welche an der Treppenbalustrade ins Vestibül ein jähes Ende finden sollte.
»Hoheit…«, flüsterte Fletcher schluckend. Entkräftet setzte er sie ab. »Lauft zurück in den Thronsaal. Dreht euch nicht um. Was auch immer geschieht…«
Catherine hörte nicht hin. Vor den rotgoldenen Eingangstoren des Red Apple Palace, am Fuße der geschwungenen Zwillingstreppen, erhob sich ein gehörnter Schatten gegen die Feuerfinger der Morgensonne wie das Antlitz des Höllenfürsten höchstselbst. Unbeweglich blockierte die schwarze Projektion den rettenden Ausweg. Unter kriegerischem Getöse drangen plötzlich weitere Schatten in den gleißenden Lichtkegel ein. Schüsse fielen, Klingen schellten — schlangenartige Gebilde sprossen aus dem diffusen Schattenspiel und fielen über die dämmerlichten Silhouetten her.
»Mein Gott! Lauft!«, schrie Fletcher panisch über das Schreien und Sterben hinweg, doch eine morbide Faszination hielt Catherine gebannt zurück. Zwischen den Häuptern des Schattens der Hydra entsponnen sich grüngelbe Entladungen zuckender Elektrizität, die kitzelnd an Catherines Ohren bleckten und ihr die karamellbraunen Haarsträhnen aufstellten. In letzter Sekunde gelang es Fletcher, die apathische Königin aus dem Heiligenschein ihrer eigenen schwebenden Haarspitzen fortzureißen, bevor ein gleißend-grüner Blitzschlag die Marmortreppen sprengte und das gesamte obere Foyer in Stücke riss. Der feste Boden kollabierte unter ihren fliegenden Füßen und verschlang sogar die arglose Nachhut, der Fletcher und Catherine auf ihrer Flucht in die Arme liefen. In einem verzweifelten letzten Aufbäumen packte Fletcher seine Königin am Schlafittchen ihres weißen Nachthemdes und schleuderte sie durch die halbgeöffneten Bronzetore in Sicherheit. Jene, die dem rumorenden Schlund entkamen, erreichten den Thronsaal kaum gefasster als das Mädchen, deren Leben sie zu schützen beauftragt waren. Nachdem sie die massiven Flügeltore des Thronsaals ins Schloss fallen gelassen hatten, fielen auch sie — auf den Boden, gegen die rubinroten Wände, in sich zusammen. Die letzten Überlebende einer unbegreiflichen Katastrophe. Fletcher war nicht unten ihnen.
»Hoheit?!«
Einer der Soldaten fand Catherine am Sockel ihres Thrones vor, zusammengekauert wie eine traumatisierte Rekrutin im Schützengraben. Der Vater in ihm wollte dieses verstörte Kind in die Arme schließen, ihre Sorgen lindern und Tränen trocknen. Ganz so, wie er den Schmerz aus dem aufgeschürften Knie seiner Tochter wegküsste oder sie am Vorabend eines gefürchteten Tests in den Schlaf las. Doch er diente diesem Mädchen nicht als Vater, sondern als Soldat, und als solcher erstattete er der obersten Heerführerin der vereinigten Streitkräfte des Commonwealth nun Bericht:
»Meine Königin, Ihr schwebt in unmittelbarer Gefahr. Der Feind hat Eurer Majestät Leibgarde empfindliche Verluste beigebracht. Um für Eure Sicherheit zu garantieren, empfehle ich—«
»Miss Dreadful?«, fragte Catherine hoffnungsverloren.
»…ist fort, Miss Rovira ebenso. Hört mich an, Catherine! Der Palast ist gefallen! Wer sich noch innerhalb seiner Mauern aufhält, ist verloren! Selbst Hauptmann Haywood ist nicht aufzufinden!«
»Aber natürlich nicht«, bemerkte Catherine plötzlich mit einer entwaffnenden, nahezu transzendentalen Klarheit. »Sehen Sie es denn nicht? Erst Sundermare, dann Sir Benedict. Alle verlassen sie mich, alles bricht auseinander.«
»Aber Hoheit…«
Erschrocken, als wäre sie erst in dieser Sekunde ihrer Anwesenheit gewahr geworden, klimperten die kristallblauen Augen der Puppenkönigin in die verwirrten Gesichter der umstehenden Leibgarde.
»Es tut mir so leid. Er hat mich gewarnt«, wisperte sie tränenüberströmt. Mit beiden Händen malträtierte sie ihr karamellblondes Haar, als geißelte sie sich selbst. »Er sagte, er würde wiederkommen und mein Königreich zerstören. Und er steht zu seinem Wort. Immer.«
»Es ist noch nicht zu spät«, bekniete die Palastwache das angststarre Geschöpf. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. »Ich könnte herunterspringen und Euch auffangen, während die anderen uns Feuerschutz geben. Die Chance ist gering, doch—«
»Nein!« Als die Puppenkönigin das bibbernde Kinn erhob, schien ihr fünfzehnjähriges Antlitz um ein ganzes Leben gealtert, in Gesicht und Stimme ihre aus dem Grabe zurückgekehrte Mutter. »Es ist zu spät. Er kommt und niemand kann ihn aufhalten. Gehen Sie, retten Sie sich. Sie alle! Ich entlasse Sie aus meinem Diensten. Sie schulden mir gar nichts. Und der Krone erst recht nicht…«
Reihum schusterten sich die letzten Mitglieder der royalen Leibwache betretene Blicke zu. Ein jeder erleichtert, gar hingerissen von der letzten Chance auf Rettung und zugleich empört über diesen ehrlosesten aller Abgänge.
»Geht!« Wieder schwang im Flehen der Königin die unerschütterliche Überzeugung der ersten Catherine mit; jedoch mangelte es ihr an Grausamkeit. Kopfwippend presste sich die kleine Catherine ihre Knie vor die junge Brust und wischte heiße Tränen von den geröteten Bäckchen.
»Nun geht schon«, schniefte sie, »Ich halte es euch nicht vor. Und danke…für alles.«
Seufzend erhob sich der unbekannte Soldat aus seiner Hocke. Schweigen lag in der Luft, bis er im stillen Einvernehmen ausrief:
»Lasst uns Posten beziehen, Männer! Schützt die Königin!«
Mit einem wilden Tritt stürzte er eine sündhafte Bronzestatuette von ihrem Fundament und rollte sie als behelfsmäßige Deckung vor die verdutzte Catherine, was ihm die übrigen Soldaten mit anderen unbezahlbaren Kunstschätzen gleichtaten. »Dieser Thron wird unser Schlachtfeld sein!«
Mit jedem donnernden GONG! gegen die erschütterten Flügeltüren zuckte Catherine wie ein Hund im Feuerwerkslärm zusammen. Verschanzt hinter der dekadenten Barrikade aus Statuen, Ritterrüstungen und Schmuckvitrinen linste sie durch das Visier eines geköpften Plattenharnischs dem Tod entgegen.
Zu allen Seiten der marmornen Gesichter und zerbrochenen Hände des des chimärischen Schutzwalls belauerten geladene Gewehrläufe die Kapitulation der bronzenen Tore. Stumme Handzeichen beschlossen Einheit bis zum bitteren Ende, als die gehärteten Stifte gellend nachgaben und das Schloss mit einem dumpfen Paukenschlag kapitulierte. Erfüllt von bösartiger Geruhsamkeit presste die Dunkelheit das hohe, bronzegegossene Portal auseinander.
Lange Schatten pflasterten seinen Weg. Die bulligen Schultern vorangestellt wie ein drohender Kampfhund, das goldgelockte Haupt gesenkt und die schiefen Zähne gefletscht, stampfte Ulysses McKenna in das improvisierte Schlachtfeld; den 20 Kilo schwereren Arnold Fletcher am Nacken gepackt mit sich schleifend. Jeder schlurfende Stiefelschritt des Bastardkönigs besudelte die prachtvollen bernsteinfarbenen Fliesen des roten Thronsaals mit schlierigen Abrieben. Wunden auf der Haut der fountischen Monarchie.
»Catherine…«, nuschelte seine rattenzerfressene Gossenstimme laut genug, um grässliche Klone seiner Worte aus den rubinroten Wänden zu gebären. »Wie viele sollen noch deinetwegen sterben?«
»Hört nicht hin, Hoheit!«, mahnte der ihr unbekannte Soldat und erteilte den unausweichlichen Feuerbefehl erteilte. Obwohl Catherine den Lärm vorausgeahnt hatte, versetzte sie der einsetzende Kugelhagel in nackten Terror. Mit zugehaltenen Ohren warf sie sich auf den Palastboden, halb betend, halb versteckend, und verschloss die weinenden Augen vor dem Kämpfen und dem Sterben. Die Geschosse durchschlugen Haut und Knochen, ohne dem Bastardkönig auch nur einen einzigen Tropfen Blut zu kosten. Den reglosen Körper Fletchers als menschlichen Schutzschild missbrauchend, rückte Ulysses tiefer in die feindlichen Reihen vor.
»Schwanzlöcher.«
Genervter denn zornig entfesselte er den Teufel. Was Catherine im projizierten Schattenspiel des Vestibüls für unzählige zischende Schlangenköpfe gehalten hatte, drang nun in fadenartigen, blutroten Verästelungen aus den Poren seines muskulösen Nackens. Noch bevor sich der Leibgarde dieses schaurige Bildnis sich verknotender, verflechtender Menschenfasern gänzlich erschloss, hatten sich die hervorsprießenden Netzwerke zu schwarzglänzenden Strängen zusammengeschlossen und zerschmetterten den wuchtigen Schutzwall wie Seekönige eine mickrige Schaluppe. Gezielt bohrten sich die widerlichen Ranken durch Augen, Hirne und Herzen. Ausweichende Soldaten stolperten geradewegs in sich abspaltende Schlingen, die sie am Hals durch die Barrikade rissen und Ulysses' stählernen Fäusten zum Fraß vorwarfen. Schädel zerplatzten wie überreife Tomate und verzierten die blauschwarz geprügelte Visage des Bastardkönigs mit rotem Saft. Eine weitere Wache fing Ulysses im Flug ab, um ihre Wirbelsäule wie Reisig über dem Knie zu zerbrechen.
Mang des Chaos kroch Catherine auf allen Vieren durch Blut und Gekröse an der Wand entlang gen Fluchtweg. Sie hatte bereits die halbe Strecke hinter sich gebracht, als Ulysses ihres Plans gewahr wurde und ihn jäh unterband. Mit trainiertem Effet schleuderte er Fletchers durchlöcherten Leichnam auf die aufschreiende Königin und nagelte sie so zwischen der rubinroten Schmuckwand und dem toten Lieutenant fest. Derart abgelenkt übersah der Bastardkönig zwei mit Korbschwertern bewaffnete Soldaten, die den letzten kläglichen Feuerschutz ihrer Kumpanen für divergierende Flankenangriffe ausnutzten. Erst vereint, dann auseinander strebend entfesselten sie eine rasiermesserscharfe Schneise, die Ulysses zwischen Sturmwellen aus Schnitten einkesselte.
»Haki? Fantastisch…«, murrte er brauenrunzelnd, just bevor einer der fauchenden Winde einen tiefen Graben in seine Schulter schlitzte. »Ach, kommt schon! Ich hatte gerade angefangen, mich an den Mantel zu gewöhnen!«
Mit bloßen schwarzlegierten Händen blockte er die Klinge des linksseitigen Angreifers, wobei er eine solche Wucht aufbrachte, dass er das Schwert samt Soldat in den aufbrechenden Boden rammte. Verteidigung war sein bester Angriff. In seinem Rücken näherte sich bereits der zweite Schwertkämpfer, unterstützt von anlegenden Gewehrläufen. Wie ein wildgewordener Gorilla sprang Ulysses daraufhin auf den ungeschützten Kehlkopf des umgeworfenen Soldaten und trommelte die Fäuste in dessen zerberstende Augenhöhlen, was eine spektakuläre Kettenreaktion in den zuckenden Fasern auf seinem Rücken befeuerte. Grellgrüne elektrische Impulse äderten das unheilvolle Hakischwarz der Stränge, jagten bis an die zerfransten Spitzen und setzten sie unter Starkstrom. Angelockt vom Metall der Bajonette und Schwerter schlugen gleißend-grüne Kugelblitze in die Palastwachen ein, bis der abscheuliche Gestank verkohlten Fleisches den gesamten Thronsaal verpestete.
»Waren das alle?!«, brüllte Ulysses angefressen, inmitten des grünrasselnden Gewitters eher einer verstimmten Donnergottheit als dem lairischen Straßenschläger ähnelnd. Die letzten überlebenden Palastwachen hechteten aus ihrer Deckung — und erstarrten. Wie parasitäre Fangarme hatten sich die nunmehr fleischroten, netzartigen Fäden des Bastardkönigs an ihre Schädel geheftet. Mit derselben verzweifelten Intensität, mit der sie zuvor auf den Bastardkönig gezielt hatten, wirbelten sie ruckartig ihre Gewehre herum und schossen sich gegenseitig nieder.
Catherine schluchzte bitterlich, begraben unter dem toten Fletcher. Jene starken Schultern, die sie vor wenigen Minuten noch vor dem Bastardkönig zu retten versucht hatten, lieferten sie nun seiner unbändigen Rache aus. Giftige Flüche, allesamt ungeeignet für unschuldige Kinderohren, untermalten seine schweren Schritte. Platschen, Knacken. Ulysses versuchte nicht einmal, die gefallenen Soldaten zu umgehen.
»Ich hasse dich…«, wimmerte Catherine in Erwartung seiner aufragenden Gestalt. Jene passierte ihren eingeklemmten Körper allerdings wort- und blicklos, während sich die seltsamen Keime wieder in seinen Nacken zurückzogen wie Muränen in ihre Höhlen. Beiläufig trat er den ausblutenden Fletcher von ihr runter.
»Ich HASSE dich! Hörst du!«
»Ich heul gleich«, rotzte Ulysses gleichmütig, sich an den hohen marmornen Sockel setzend, über dem sich der rotgoldene Wasserfall des fountischen Herrscherthrons gegen die rubinroten Wände aushärtete. Blutige Knochensplitter und menschlicher Schmalz verklebten seine dunkelblonden Locken und die ruppigen Wimpern über den strahlenden Augen. Unter den sterblichen Überresten der royalen Leibgarde war das braungrüne Wollkaro seines Mantels kaum noch auszumachen. Catherine wurde übel. Widerwillig, als wollte sie für alle Zeit im Blut ihrer gescheiterten Beschützer verrotten, quälte sich die Puppenkönigin schließlich auf die wackligen Beine. Ihr karamellblondes Haar backte an den verweinten Wangen wie das rotgetränkte Nachthemd an ihrem fünfzehnjährigen Körper. Ein Anblick, der Ulysses zu verwunden schien. Naserümpfend wandte er den müden Blick ab, bis sie ihn konfrontierte.
»Ist es das? Ist das deine Rache?«, fragte das Mädchen mit erzwungener Standfestigkeit. Sie fror, sie bibberte, sie hatte Todesangst; und doch stellte sich die junge Catherine ihrem Schicksal mit offeneren Augen als so manche der ›großen‹ Krieger, deren Leben Ulysses und die LIA im Namen der Sache geopfert hatten. »Bist du gekommen, um mein Königreich niederzubrennen, wie du es mir versprochen hast?«
Sekundenlang blinzelten die giftgrünen Augen des Bastardkönigs ungläubig an ihr vorbei, bevor er ihr ein kurzes, poltriges, dreckiges Gelächter entgegenbrachte.
»Das wollte ich«, gab er trocken zu, »Doch das hast du dir schon selbst besorgt.«
»Was soll das heißen? Ich verstehe nicht!«
Wie sie so dastand, spürbar perplex und filzige Nester in ihr Haar pulend, durchschaute Ulysses ihre Situation plötzlich wie die Pointe eines misslungenen Witzes. Schleichend, aber beständig schoben sich die grotesken roten Fasern aus seinen dreckigen Hemdsärmeln und schwebten auf die erschrockene Catherine zu. Ehe sie Reißaus nehmen konnte, schnellten die seltsamen Fäden wie Schlangenmäuler vor, umwickelten das Mädchen an der Hüfte und trugen es hoch an die schwarze Deckenkuppel des Thronsaals, wo ihr die schmalen Bogenfenster einen grandiosen Ausblick auf das brennende Nickleby eröffneten.
»Das ist dein Werk«, rief ihr Ulysses von unten zu. Catherine jaulte wie ein kranker Welpe auf, überwältigt von Schreck und Schuld und Scham.
»Ich…Ich wollte das nicht!«
»Und was genau wolltest du, als du die Carta Reginae außer Kraft gesetzt und die Wilde Jagd ausgerufen hast?«, fragte Ulysses lax. Sanft wie eine Feder rieselte Catherine auf den obskuren Fasern des Bastardkönigs zu Boden.
»Ich…ich wollte…ich dachte…Miss Dreadful sagte—«
»Du bist die Königin, Catherine. Nicht Dreadful. Auf dein Geheiß wurde mein Volk zum Abschuss freigegeben und jeder freie Bürger deines Reiches seiner Rechte beraubt. Ebenso gut hättest du selbst das erste Streichholz anzünden können. Den Hahn spannen. Die Klinge ziehen.«
»Nein!«, protestierte Catherine verzweifelt, »Das lag nie in meiner Absicht!«
»Und wenn schon«, blaffte Ulysses durch die gelben Zahnlöcher, »Nach dieser Nacht wird niemand mehr die Puppenkönigin in dir sehen, sondern die Tochter deiner—«
»Halt den Mund! Sprich nicht über sie!«
Catherines Ausbruch schien Ulysses' dunkelste Impulse zu befeuern. Einem überspringenden Funken gleich schwang er seinen massigen Rumpf auf die Beine und stampfte der Königin gegenüber. Zu ihrer beider Überraschung wich sie um keinen Millimeter von ihrer Position ab. Obwohl er seine Cousine nur um wenige Zentimeter übertrumpfte, vereinnahmte der muskeldurchdrungene Oberkörper des Bastardkönigs sämtliches Morgenlicht und tauchte ihre schmächtige Gestalt in einen tiefen Schatten. Das hässlich-breite Grinsen von Ohr zu Ohr verzerrte seine blutbespritzten Lippen zu hündischen Lefzen und trieb dunkle Kerben in die riffelnde Klumpnase. Catherine hatte ihn immer für einen hässlichen Mann befunden, doch in diesem Augenblick prangte zwischen den wilden goldenen Hörnern die Maske eines Teufels.
»Warum nicht?«, fragte er mit dunkelrollender Resonanz, »Glaubst du, ich würde dir Lügen über deine Mutter auftischen…oder ist es vielmehr die Wahrheit, die du nicht ertragen zu können fürchtest?«
Im flimmernden Kristallblau ihrer Augen las Ulysses seine Antwort. Ohne Widerstand zu dulden, warf er sich die strampelnde Puppenkönigin über die Schulter und drapierte sie auf ihren Thron wie eine Puppe in ihre Vitrine. Sie hatte sich kaum zu orientieren vermocht, da besetzten die angsteinflößenden Fasern des Bastardkönigs ihre Schläfen und gruben sich tief in ihren Verstand.
Der große See schwappte grau und schwer gegen die Hänge der grünen Hügel, erfüllt vom wildgewordenen Schnattern davonflatternder Schilfenten. Obschon ein maulender Ostwind die marmornen Wolkenmassive über die einsame Szenerie peitschte, spürte Catherine seine Böen kaum lauer auf der Haut als das bewegte Wasser, in dem sie knietief versank. Wo war sie? Was war geschehen? Entgegen ihrer vollkommenen Verwirrung umgab sie eine vertraute, schicksalhafte Aura. Wo auch immer es sie hinverschlagen hatte, dieser Ort war, wo sie sein sollte. Wo sie hingehörte. Geleitet von diesem vagen Gespür machte sie im Wasser kehrt, mit den nackten Zehen kleine Kuhlen in das schlammige Ufer des Sees grabend. Der aufrauende Herbstwind, der durch das Tal fegte, trocknete ihre platschnassen Beine wie ein warmer, wohltuender Fön und strich sanft durch ihr wallendes Haar. Plötzlich ritt das monumentale Echo trompetender Fanfaren die Hänge hinab, majestätisch, melodisch und episch. Aus seinem Echo schälte sich eine Armee im strammen Gleichschritt. Ihre dunklen Rüstungen tunkten die östliche Hügelkuppe in Tinte, das wohlbekannte Banner des schwarzen Löwen auf goldenem Grund wehte über den starren Häuptern. An ihrer Spitze führten zwei goldbeschlagene Paladine in fellbesetzter Garnitur einen unbeschreiblich schönen Rappen, wie ihn Catherine in noch keinem Stall des Commonwealth hatte bestaunen dürfen. Seine Reiterin war es jedoch, die Catherine wahrhaftig den Atem stahl.
»Mama!«
Wenngleich Catherine am Fuße des Hügels kaum mehr als Konturen von ihr hätte ausmachen dürfen, erschien ihr jedes Detail im Gesicht ihrer verstorbenen Mutter klarer als ihr eigenes morgendliches Spiegelbild. Das karamellblonde Haar glänzte wie das ihre, jedoch in strenge Bauernzöpfe geflochten, die in penibler Akkuratesse auf ihren eisenbeschlagenen Busen fielen. Die großen, junggebliebenen Augen strahlten wie die ihren, fixierten den gegenüberliegenden Hügelrücken allerdings mit einer bedrohlichen, beinahe mörderischen Gier. Auch das Gesicht hatte sie an ihre Tochter vererbt, abseits der zahlreichen Piercings, die sich in die Haut der ersten Catherine bohrten. Ein herzförmiger Nasenring krönte zwei bleischwarze Kugeln in ihren Wangen, welche wiederum jeweils ein Paar Sichelförmiger Metallstifte überwachten, die sich in die linke Ober- und die rechte Unterlippe bohrten. Riesige Tunnel spreizten die Ohrläppchen der Königin, in ihren Ohrmuscheln prangten spitze Stacheln wie die Rückenplatten eines Krokodils. Zwar hatte Sir Benedict — Bentley — der jungen Catherine von diesem modischen Tick ihrer Mutter berichtet, welcher es nie auf die offiziellen Palastporträts geschafft hatte, in Natura bot die legendäre Königin nichtsdestotrotz einen ungemein gewöhnungsbedürftigen Anblick. Insbesondere in ihrem schwarzglänzenden Schlachtharnisch, der die federleichte Effizienz moderner Militärmonturen mit der imposanten Eleganz mittelalterlicher Plattenpanzer vereinte, prägte Catherine I. das epochale Bild einer ruhmreichen Kriegsherrin.
Ihre Tochter wollte bereits den steilen Abhang erklimmen und ihr in die Arme fallen, als sich der kristallene Blick der Königin verengte. Von Westen näherte sich der Feind, und niemand geringeres als der Bastardkönig führte ihn an. Anstelle orchestrierter Fanfaren blökten donnernde Tierhörner in den sturmgrauen Himmel, dazwischen verhallten archaische Heidenrufe über dem Wasser. Das Heer des lairischen Königs, in Ermangelung eines böswilligeren Begriffs, bestand aus Bauern und Jägern und Fallenstellern, Jungen, Alten, Männern, Frauen und sogar halbwüchsigen Kindern. Lehnten sich im Osten polierte Lanzen und gewetzte Klingen gegen die Wolken auf, so zog Ulysses' Horde mit Holzfälleräxten, Hackbeilen, Knüppeln, Rechen und Sensen in die Schlacht. Mit beiden Armeen vor Augen und dem tiefen See in ihrem Rücken erwiesen sich Catherines öde verlebte Studien der historia universalis zum ersten Mal als nützlich. Rasch kombiniert sie, dass es sich bei dem großen stehenden Gewässer um den Lough Connaugh im Herzland des Shamrock County handeln musste — und bei dem Gemetzel, welches Lawinen aus Leichen über die Hügel lostreten würde, um die berüchtigte Schlacht des bösen Blutes. Plötzlich erstarrt beobachtete Catherine, wie ihre Mutter vom Rappen stieg und, flankiert von ihren goldenen Sekundanten, ins Tal marschierte. Auf der Gegenseite löste sich Ulysses McKenna aus der raunenden Menge, begleitet von einer pummeligen Brünetten. Wie ihre Armee trugen die beiden triste Alltagskleidung, die die fountische Schmiedekunst ihrer Feinde beinahe lachhaft karikierte. Erneut weit abschlagen und doch hautnah vernahm Catherine die Begegnung beider Parteien.
»Ergebt euch«, sprach Catherine I. eiskalt. Der Klang ihrer Stimme warf die zuschauende Puppenkönigin um ein ganzes Jahrzehnt zurück in eine einfachere, hoch-geschätzte Zeit der Freiheit und Unbeschwertheit. »Meine Armada wird über deinen armseligen Tross aus Bauern und Tölpeln hinwegfegen und nichts zurücklassen, was eine Bestattung lohnen würde.«
»Sowas ähnliches hat dein Kapitän sicherlich auch gesagt, bevor er im Sund von Og MacLarr zu Fischfutter verarbeitet wurde«, spuckte Ulysses' pausbäckige Begleiterin rotzfrech zurück. Endlich erkannte die junge Catherine in ihr eine um 10 Jahre verjüngte Version der Bärin von Andarta, Gráinne Mayread Bloom. Die erste Catherine hingegen würdigte die spätere Kriegsheldin keines Blickes, und auch Ulysses starrte demütig seine eigenen Schuhe nieder. Er schien um keinen Tag älter oder jünger als der Mann, den die Puppenkönigin zu fürchten gelernt hatte.
»Wir müssen nicht kämpfen«, murmelte er belegt, »Niemand muss sterben. Erkennt mein Anrecht auf den Posten des Lordprotektors an…und zieht ab. Ihr wisst ebensogut wie ich, dass er mein Erbe ist, sowohl nach fountischen Traditionen als auch unseren.«
»Sieh mich an«, befahl Catherine I. nach kurzer Bedenkzeit. Nachdem er ihrem Wunsch mit gepeinigter Miene nachgekommen war, legte sie ihm den eisengepanzerten Stulpenhandschuh auf die stämmige Schulter und erklärte ohne hörbare Gefühlsregung:
»Lieber verneige ich mich vor den Stuarts, als dich in meiner Linie zu akzeptieren. Deine ganze Existenz beleidigt meine. Dein…« Abfällig beäugte sie seine mehrfach gebrochene Nase und die schief hervorlugenden Zähne. »Dein bloßer Anblick widert mich an. Gott allein weiß, welch perverser Wahn Corvus ritt, als er sich an deiner Mutter verging; einer parasitenbefallenen Hure aus den Ruinen des McKenna-Clans. Hätte er seine Lust stattdessen an einer gemeinen Hofziege befriedigt, die daraus hervorgegangene Missgeburt hätte dieser Blutlinie weitaus weniger Schande bereitet. Und hübscher anzusehen wäre sie vermutlich obendrein.«
Neben Ulysses kochte Bloom beinahe über. Er selbst sagte nichts, während die junge Catherine, gefangen am Ufer des Lough Connaught, eine finstere Schuld schluckte. Ihre Übelkeit wich jedoch rasch einem unbeschreiblichen Unbehagen, welches aus ihren Poren emanierte wie die mysteriöse schwarze Wolke aus den Haaren ihrer Mutter. Im Gleichtakt senkten die goldenen Leibwächter der Königin daraufhin ihre Helmvisiere, was einen metallisch gellenden Dominoeffekt in der fountischen Armee anstieß. Dem wilden Gefolge des Bastardkönigs blieben derweil nichts als geflickte Tücher und andere Lumpen, die sie sich wie Wegelagerer vor Mund und Nase banden. Allein Ulysses und die zornrote Bloom lieferten sich dem geheimnisvollen Gewirre der ersten Catherine aus, das surrte wie Fliegen und schwirrte wie Fliegen und doch etwas gänzlich anderes, böseres war. Todesmutig trat Ulysses durch den Schwarm direkt vor das metallgeschmückte Gesicht der fountischen Herrscherin.
»Also stimmt es…Seuchenkönigin.«
»Schimpft mich, wie es dir beliebt. Ich bringe meinem Volk Ehre.«
»Und meinem den Tod.«
»Mit Freuden.«
Zu schnell für das menschliche Auge zog Catherine ihren Anderthalbhänder vom Waffengurt. Ulysses blockte die Klinge mit schwarzgefärbten Unterarmen, die goldene Garde ließen ihre Hellebarden auf seinen blonden Scheitel niederfahren. In letzter Sekunde blockte Bloom beide Schneiden mit ihren Fäusten, die zu bärenköpfigen Schilden geworden waren. Der scheppernde Lärm eröffnete die Schlacht und beendete Catherines Reise in die Vergangenheit.
»Deine Familie war nie gut zu uns«, hörte sie Ulysses' kratzige Stimme unter sich. Während sie sich um keinen Millimeter von ihrem rotgoldenen Thron gerührt zu haben schien, hatte sich der Bastardkönig zu ihren Füßen auf den Boden gefläzt, als bettelte er um ein Almosen. Seine Worte waren ernst und voller Wehmut.
»Die ersten Eroberer Fountleroy Islands hatten sich kaum in ihre verehrten Paläste auf der Red Line verpisst, da begannen die Könige vor dir mit der systematischen Unterjochung meines Volkes. Jeder Bauer von hier bis Märenburg tritt seinem Fürsten den Zehnt ab im Austausch für Schutz und Land, doch deine Familie fraß unser Brot und schmiss uns die übrig gebliebenen Krümel in den Dreck, ohne sich einen Deut für unsere Grenzen oder unsere Sicherheit zu scheren. Riesen, Carnen, Piraten — wir standen allein. Und keine Missernte oder noch so harter Winter vermochte die Gier der Namenlosen Familie, deiner Familie, zu zügeln. Ihr nahmt alles und gabt nichts zurück. Was hatten die ach-so-wilden Lairen also für eine Wahl? Welche Mutter würde schon tatenlos zusehen, wie ihr Baby verhungert? So lehnten sich die Lairen auf…und scheiterten. Wieder. Und wieder. Und wieder.«
Seufzend erhob sich Ulysses, mit tief in den Manteltaschen vergrabenen Fäusten vor Catherine auf und ab schlurfend. Erneut lag eine Unschuld und Verwundbarkeit in seiner widerlichen Stimme, die sie glauben lassen wollte. Ihm. Dem Feind ihres Reiches und Mörder ihrer Armeen.
»Doch dann«, fuhr er niedergeschlagen fort, »bestieg deine Mutter den Thron…und der Wind schien sich endlich zu unseren Gunsten zu drehen. Unsere Zeitungen waren vollgekleistert mit Lobhudeleien über die Barmherzigkeit und Nächstenliebe der ersten Catherine, die hinter den schwelenden Hass ihrer Ahnen blickte und die lairischen Abtrünnigen mit Decken und Medizin versorgte, als wäre sie irgendeine verfickte Heilige.« Catherine hielt den Atem an, wofür sie ein abwertendes Grunzen ihres Vetters erntete.
»Heute kennen wir die Wahrheit. Dieselben Zeitungen, die Catherine am liebsten direkt ins Land der Götter verfrachtet hätten, plakatierten die Straßen mit der Lüge vom fountischen Fieber, dieser Pest, die es nie gegeben hat. Sie war es. Die Seuchenkönigin. Mit ihrem ersten Schritt auf dem Grün ermordete deine Mutter über eine Million lairische Männer, Frauen und Kinder, und überließ eine ganze Generation von Waisen ihrem Schicksal.«
Ihre Tränen zurückhaltend beobachtete Catherine, wie seine tattrigen Finger eine alte Pillendose aus seinem Mantel bargen und am Verschluss verzweifelten. Derselbe Mann, der vor wenigen Minuten die besttrainierte Einheit ihres Regiments mit bloßen Händen ausgelöscht hatte, scheiterte an einer simplen Kindersicherung. Schließlich knackte er den Mechanismus mit den Zähnen und kippte sich einige Pillen direkt in den Rachen.
»Ich wurde in eine Welt der Blattern und Pestmasken geboren«, stammelte er kauend. »Meine Mutter ist in ihrer eigenen Scheiße verreckt. Zerfressen von Fliegen und anderem Ungeziefer, das seine Eier in ihre offenen Wunden gelegt hat.«
»Es tut mir leid«, hauchte Catherine. Tränen nässten ihre gespannten Lippen. In einem Akt unvorstellbaren Mitgefühls reichte sie dem Mann, der ihr nichts als Hass und Tod bedeutete, die Hand — und er ergriff sie.
»Du kannst unseren Verlust nicht verstehen«, endete Ulysses nahezu lautlos, »Unsere Trauer. Unsere Ohnmacht. Bis heute weigert ihr euch, die Massenmörderin zu verurteilen, die mein gesamtes Volk auszurotten versuchte, und jagt diejenigen von uns, die reine Freiheit als Wiedergutmachung verlangen.«
Jäh entzog sie ihm die Hand wieder, in einer gepeinigten Bewegung das Panorama niedergemetzelter Leiber in sich aufsaugend.
»Ihr verlangt weit mehr als Freiheit!«, zischte sie vorwurfsvoll, was Ulysses abnickte.
»Ich weiß, was ich bin«, beteuerte er rasch, »Doch davor…war ich du. Nur ein Kind, das seine Mutter brauchte…und sie nie wirklich kennenlernen durfte.«
Gegen ihren Willen begann Catherine abermals zu schluchzen, akzeptierte gar die schwieligen Finger des Bastardkönigs auf ihrer entblößten Schulter. So weich es ihm seine vernarbte Kehle zugestand, redete er auf das Mädchen ein:
»Diese blutige Fehde hat so viele Leben zerstört. Für dich aber muss das nicht gelten, Catherine. Noch kannst du dich retten. Lass dich nicht von der Last der Jahrhunderte in die Tiefe ziehen, wie deine Mutter und ich es taten. Du kannst fortgehen, den Krieg und das Blut hinter dir lassen…und heilen. Diese Krone—« Unbeholfen tätschelte er ihr karamellbraunes Haar wie das Fell eines Hundes. »Diese Krone ist eine Bürde. Befreie dich von ihr.«
Die Puppenkönigin bibberte am ganzen Leib. Ob vor Kälte, Angst oder Wut — sie vermochte es selbst nicht zu sagen. Zaghaft, beinahe schüchtern legte sie die zarten Finger gegen seine tiefblau gezeichnete rechte Schläfe, fest in die grüngelben Augen blickend und den ekelhaften Whiskeygestank seines Gossenmauls einatmend. Dankbarkeit und Erleichterung sprachen aus ihrem matten Lächeln; jedoch keinesfalls dergestalt, wie es Ulysses zu erwecken versucht hatte. Denn ihre Antwort lautete:
»Nein.«
Über alle Zweifel und jedes Zaudern erhaben stemmte Catherine die nackten Füßchen auf ihren monumentalen rotgoldenen Thron, richtete sich auf und betrachtete die mickrige Gestalt des Bastardkönigs am Sockel ihres Herrschersitzes mit ungeahnter Entschlossenheit.
»Ich danke dir für deine Offenheit, doch ich lasse mich nicht länger von dir bedrohen, einschüchtern oder manipulieren!«, hallte ihre junge Stimme wie ein beschworener Poltergeist durch den Red Apple Palace, »Ich bin Catherine II. aus dem Haus der Namenlosen. Königin von Fountleroy Island und oberste Führerin des souveränen Staatenbundes des Commonwealth, Statthalterin der Göttlichen, und weltliches Oberhaupt der fountischen Heilenden Kirche. Benannt nach meiner Mutter, der ersten Ihres Namens, die mir Thron und Krone auf dem Sterbebett vermachte. Was dir als Bürde erscheint, Ulysses Cromwell-McKenna, ist die größte Ehre und das höchste Privileg meines Lebens. Solange ich atme, wird dieses Amt das meinige sein. Wie du sagtest: Ich bin die Tochter meiner Mutter. Lieber sterbe ich durch deine Hand, als unter ihrer Gnade zu leben!«
Aus Ulysses' giftgrünem Blick sprach…eine Migräne. Unverständliche Tiraden brabbelnd, rieb er sich den verbogenen Nasenrücken und schüttelte die wilden blonden Locken.
»Du hast keine Ahnung, wozu du mich zwingst«, rotzte er frustriert.
»Doch, Ulysses. Das weiß ich…«
Plötzlich mischte sich ein einsamer Applaus unter die ängstlichen Atemzüge der jungen Königin. Die aufflammende Glut einer Zigarette brannte ein rotes Loch in die Finsternis jenseits des Thronsaals, just bevor der verdatterte Ulysses ganze Schübe schwarzen Blutes über Catherines Füße erbrach und gurgelnd auf die Knie sackte.
Auf dramatisch klackernden Absätzen schlenderte CP0-Spezialagentin Cassiopeia Triagast durch die aufgebrochenen Portale, das rostrote Haar mit einem gekonnten Handgriff von den markanten Brauen und bernsteingoldenen Augen vertreibend. »Seid Ihr wohlauf?«, fragten ihre dunkelroten Lippen. Catherine bejahte verwirrter denn je.
»Es…geht mir gut. Wer…Wer sind Sie?«
»Ich arbeite für die Regierung. Allerdings…« Cassiopeias Zigarettenstummel deutete auf den blutspuckenden Ulysses. »Bin ich seinetwegen hier. Nichts für ungut, Hoheit.«
»Fotze…! Raus…aus meinem Körper…!« Mit geballten Fäusten brach Ulysses ihren blutigen Fluch. »Was zum Teufel soll das hier werden?!«
»Wenn Sie wüssten, wie lange ich auf diesen Moment hingearbeitet habe«, schmunzelte Cassiopeia verstiegen, ihre ausgebrannte Zigarette fortwerfend und sofort eine neue aus ihrer Lederjacke zückend. Ulysses grunzte ihr derart laut und hart ins Gesicht, dass die Gasflamme ihres Feuerzeug aufflackerte.
»Ich will nicht unhöflich sein, Agent…?«
»Triagast.«
»Triagast. Aber das hier liegt weit außerhalb Ihrer Zuständigkeit. Also verpissen Sie sich.«
»Zuständigkeit?«, rauchte Cassiopeia amüsiert. Zeitgleich tropften die zähen Blutlachen der toten Soldaten in einer unheiligen Séance aufwärts gegen die schwarze Deckenkuppel, wo sie riesige satanische Opferkreise formten. »Ich gehöre zur Cipherpol 0 der Weltregierung, Ulysses. Jeder Fick fällt in meine Zuständigkeit, wenn ich es will.«